Ich bin ein bisschen erstaunt über mein Déja Vu letzter Woche. Es bedurfte des Parteitages der chinesischen Kommunistischen Partei, um – nur in viel schnellerer Folge – nahezu dieselben Kurzschlüsse, unreflektierten Reaktionen, überzogenen Pauschalurteile und fachlich kenntnisfreien Behauptungen und politischen Angriffe gegen den Kanzler zu starten, wie im ersten Quartal des Ukrainekrieges. Dass europäische und deutsche Politik und auch die EU zu einer realistischen Einschätzung von Chinas Wirtschaft und ihrem Führer Xi jingping kommen muss, habe ich vor einigen Tagen hier beschrieben. Aber anstatt fundiert über das Verhältnis zu China zu diskutieren hat schon wieder Ton und Stil der asozialen Netzwerke in den politischen Diskurs Einzug gehalten.
Verantwortlich dafür sind immer dieselben Verdächtigen, die sich nun völlig unvermutet auch als langjährige Wirtschaftsexpert:inn:en herausstellen: Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Anton Hofreiter (Grüne) und Michael Roth (SPD) fielen über ihre eigene Koalition her. Dieselben Medien, von BILD über den Spiegel bis zu den bekannten Talkshow – Blubberern von Bubrowski bis Alexander, Maischberger bis Will beteiligten sich so führend wie kompetenzfrei.
Wandel der chinesischen Wirtschaftspolitik zum Kolonialismus
Hinreichend Anlass zu einer breiteren Debatte über chinesische Wirtschaftspolitik und die strategisch-kolonialistische Expansion Chinas hätte es schon seit der Jahrtausendwende gegeben. Es gab eine Zeit in den 70er und 80er Jahren, als fortschrittliche Entwicklungspolitiker, wie etwa der stv. SPD-Vorsitzende Erhard Eppler, wie meine in diesem Bereich tätigen Kollegen bei den Jungdemokraten Rolf Saligmann und Jürgen Beerfeltz, damals noch Regierungsjugend in der sozialliberalen Koalition, zur Einschätzung kamen, dass chinesische Entwicklungspolitik die einzige sei, die wirklich vor Ort helfe.
Von der Hilfe zur Selbsthilfe zum Wirtschaften im Interesse Chinas
Im Unterschied zu den kapitalistischen Industrieländern, denen es vor allem darum ging, z.B. Landmaschinen und Kunstdünger, später gentechnisch manipuliertes Saatgut, zu verkaufen, um die Drittweltländer abhängig zu machen und sich für teure Reparaturen der Maschinen und den Kauf von Düngemittel, Saatgut und Chemikalien zu verschulden, und dadurch noch abhängiger zu machen, knüpften die “echten Rotchinesen” an den Bedürfnissen und Fähigkeiten vor Ort an und brachten z.B. verbesserte Fruchtfolgen oder die Dreifelderwirtschaft und andere Kompetenzen vor allem nach Afrika. “Keine Fische schenken, sondern Angeln und bewirtschaften lehren” hieß es damals.
Diese Zeiten sind längst vorbei
China, selbst vom Entwicklungs- und Agrarland zum Wirtschaftsriesen mutiert, betreibt seit Jahren eine Form der Entwicklungspolitik, die sich vor allem daran orientiert, was Chinas Wirtschaft braucht. Wo und wie China schon seit Jahren strategisch vorgeht, zeigt sich nicht erst an der “neuen Seidenstrasse”. So sind die internationalen Märkte und Produktionsländer für nachwachsende Treibstoffe aus Agrarenergie strategisch von höchster Bedeutung für Mobilität und Logistik der Zukunft. Ohne diese gibt es kein “E10-Benzin” und schon gar keine klimaneutralen Kraftstoffe für Flugzeuge und Verbrenner. China hat das schon lange vor dem Westen begriffen.
Fest in chinesischer Hand
Als ich Ende der 00er Jahre recherchierte, wie der internationale Markt für Palmöl funktioniert, und wer dort das Sagen hat, wurde offensichtlich, dass China auch dort längst strategisch nahezu irreversible Pflöcke eingeschlagen hatte. Die gesamte Palmölproduktion, ihr Vertrieb und die Verarbeitung findet in Südostasien fast nirgendwo ohne chinesische Beteiligungen oder gar unter Leitung chinesischer Firmen statt. Nicht nur Logistiker wie Cosco, sondern in allen Stufen der Lieferketten sind chinesische Minderheits- oder gar Mehrheitsbeteiligungen gang und gäbe. Ein Spiegelbild dieser Form von modernem Energie-Kolonialismus findet sich auf dem südamerikanischen Kontinent, wo vor allem die üblichen US-amerkanischen Firmen, die auch im Ölgeschäft tätig sind, sich den Zugriff auf den oft fälschlich als “Bioenergie” bezeichneten Agrarsprit Ethanol und seine Rohstoffe überall gesichert haben.
Europäer in Afrika abgelöst
Palmölpflanzen stammen übrigens ursprünglich aus Afrika und wurden erst im späten 19.Jahrhundert nach Malaysia, Indonesien und den Süden Asiens exportiert. Im Ursprungskontinent des Palmöls werden seit über 20 Jahren systematisch mit chinesischer Hilfe Palmölpflanzungen angelegt, Infrastrukturmaßnehmen und Fabriken errichtet, die überwiegend in chinesischer Hand und voll in die Rohstoffstrategie des Reichs der Mitte integriert sind. Praktischerweise auch in einen kostengünstigen chinesischen Strafvollzug. So werden bei den Straßen- und Infrastrukturarbeiten, die sich nicht an den Bedürfnissen des Gastgeberlandes orientieren, chinesische Sträflinge als Zwangsarbeiter ohne Malariaprophylaxe eingesetzt. Eine zynische Win-Win-Situation für die chinesische Regierung. Jürgen Beerfeltz, von 2009 bis 2013 Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit unter Minister Niebel, berichtete mir dies in einem Gespräch 2012 und beklagte, dass diese Tatsachen in der realen Politik des Westens weitgehend ignoriert würden, weil das Interesse der USA und Europas, China als billige “Werkbank” vom Plastikspielzeug bis zum iPhone zu benutzen, als wichtiger erachtet würden.
Awareness und mehr strategisches Denken
Es ist natürlich völliger Unsinn, was etwa Strack-Zimmermann und Co. derzeit predigen, nach langen Jahren zugleich arroganter wie naiver Ignoranz des Westens gegenüber den chinesischen Wirtschaftsinteressen nun reflexartig in dieselbe kurzatmige Politik des Isolationismus und von Autarkiebestrebungen zu verfallen, wie gegenüber Russland. Dieselbe nicht durchdachte Wirtschaftsstrategie, mit der EU und vor allem Deutschland derzeit Russland als praktisch nicht existent in Europa und von der Landkarte radiert denken und behandeln, kann im Falle Chinas nur gegen die Wand fahren. Stattdessen bedarf es einer klug durchdachten und koordinierten ökonomischen Strategie, flankiert von Gesetzen und Compliance-Regeln, sprich: rechtsstaatlichen Verfahren. Das bedeutet auch: Keine Mauschelgremien neben dem internationalen Recht, wie die privaten “Schiedsgerichte” von CETA und TTIP.
Demokratische Strategie statt neoliberaler Aktionismus
Mit der gleichen Ignoranz und Kurzsichtigkeit sich nun gegen China zu wenden, ignoriert, welch enge Verflechtungen der Lieferketten zum gegenseitigen Nutzen bestehen, und im Interesse eines offenen globalen Handels auch gar nicht gekappt werden können. Es gibt kein Zurück in den ökonomischen Isolationismus des Kalten Krieges und es gibt auch keinen Grund dafür. Der Westen und seine Regierungen müssen nur beginnen, vom Fetisch des Neoliberalismus Abschied zu nehmen und Gesetze beschließen, die sowohl ihre Volkswirtschaften schützen (gesetzlich festgelegte Höchstbeteiligung an Unternehmen bestimmter Schlüsselbranchen) – Beispiel: Robothersteller KUKA. Und ihre Demokratien zu verteidigen (Verbot von Käufen bestimmter beherrschender Schlüsselmedien durch Oligarchen und Großkonzerne) Beispiel: Twitter-Kauf durch Elon Musk. Aber auch: Faire Partnerschaft mit von China bedrängten und kolonisierten Unternehmen des Südens. Das ist die intelligentere und wirkungsvollere Strategie gegenüber Joe Bidens Säbelgerassel gegen China.
Europa kann viel gewinnen
Anstatt wie die Schlange aufs Kaninchen zu starren und nicht wahrzunehmen, dass es nicht die Sympathie für Russland, sondern die Arroganz der G7-Staaten ist – ich habe das an anderer Stelle beschrieben – die das Bündnis der BRICS-Staaten zusammen gebracht hat, muss sich Europa neu definieren. Nicht in Abschottung gegen ärmere Länder, sondern als fairer Partner, der bereit ist hergebrachte (Gewalt-)Verhältnisse aufzugeben. Und eine partnerschaftliche Wirtschaftspolitik zuförderst den Staaten anzubieten, die inzwischen unter dem Neokolonialismus Chinas leiden und bestehende Abhängigkeiten lieber früher als später überwinden möchten. Aber das gibt es nicht umsonst und nur ohne Schaffung neuer Abhängigkeiten. Unkonventionelles Beispiel: Warum ist Cuba mit seinen traditionellen Beziehungen zum vereinigten Deutschland nicht längst Kandidat für die Aufnahme in die EU? Als Coup einer jahrzehntelang versäumten Entspannungspolitik vieler US-Regierungen?
Europa als Bastion gegen Populismus und Neokolonialismus?
Es könnte eine Herausforderung für Europa sein, neben der Bekämpfung des Klimawandels eben nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Wirtschaftsbeziehungen mit China einzuschränken, sondern durch klare Regeln die Interessen europäischer Menschen und Unternehmen zu schützen. Die Datenschutz-Grundverordnung, der sich inzwischen nicht nur immer mehr Staaten unterwerfen, sogar einige Bundesstaaten der USA, könnte Vorbild für vergleichbare ökonomische und bürgerrechtliche Mindeststandards im Welthandel sein. Mit einem Raum von 500 Mio. Konsument:inn:en könnte die EU hier Maßstäbe setzen. Es ist leider anzuzweifeln, ob das gelingt, denn der nicht durchdachte und überwiegend reflexartige ökonomische Kurs, den die völlig unfähige EU-Kommission unter von der Leyen und Borrell verfolgt, ist eine Hypothek für die Zukunft und bedeutet Stillstand statt dringend notwendiger Perspektive.
Überdosis Ulricke Guerot😄
Lg
Das verstehe ich jetzt nicht wirklich. Soweit ich weiss, kennt der Autor Frau Guérot (bisher) nicht persönlich. Überdosen, die mir von ihm bekannt sind – und ich kenne ihn gut – sind Formel 1, Daimler-Benz und FC Köln. Verträgliche Dosen ausserdem von Liberalismus, Datenschutz, Bürger*innen*rechte und Grüne als Alternative zum Bestehenden. Science Fiction habe ich vergessen. Oder war das da schon dabei?
Danke für diesen differenzierten und kenntnisreichen Beitrag ! Habe ihn mal mit Quellenangabe auf Linkedin gepostet. Gruss aus dem Schwarzwald, Uli http://www.umd.eco