Brasiliens neopentekostale Kirchen nach der Niederlage Bolsonaros
Angesichts der umfassenden Schikanen gegen den Kandidaten der Linken bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen ist es eigentlich ein Wunder, dass Luis Inácio Lula da Silva gewonnen hat. Aus den Daten des Arbeitsministeriums geht hervor, dass die Zahl der politischen Interventionen im Unternehmenssektor zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang um rund 2577 Prozent (!) zunahm. Die Aktionen waren offensichtlich koordiniert, denn das Vorgehen wiederholte sich in vielen Unternehmen, von der Veröffentlichung interner Mitteilungen ähnlichen Inhalts bis zur Verpflichtung zur Teilnahme an Wahlkampfveranstaltungen oder zum Tragen von T-Shirts mit politischen Symbolen. Es gab Angebote für Geld und freie Tage, wenn Arbeitnehmer*innen Bolsonaro unterstützten oder Kündigungsdrohungen, wenn sie für den linken Kandidaten eintraten. Auch die fundamentalistischen Evangelikalen hielten sich bei Versuchen, das Wahlverhalten zugunsten Bolsonaros zu beeinflussen, nicht zurück. Die großen Neo-Pfingstkirchen unterstützten ihn ausdrücklich. Deren Oberhäupter Silas Malafaia (Assembléia de Deus Vitória em Cristo), Abner Ferreira (Assembléia de Deus Ministério de Madureira), Edir Macedo (Universal do Reino de Deus) und Romildo Ribeiro Soares (Igreja Internacional da Graça) waren die wichtigsten religiösen Repräsentanten, die sich öffentlich für den bisherigen Präsidenten aussprachen. Nach dessen Niederlage werden sie neue Strategien anwenden, um ihren politischen Einfluss zu behalten.
Laut Magali Cunha vom Institut für Religionswissenschaft (ISER) der Universität Sao Paulo wurde von den großen evangelikalen Kirchen intensiv darauf hingearbeitet, den Einfluss des konservativen Neo-Pfingstlertums in der Politik auszuweiten, die rechte Mehrheit im Kongress auszubauen und die Wiederwahl von Jair Bolsonaro zu erreichen. Dafür wurde auf radikalisierte Diskurse und Positionen zurückgegriffen, die mit dem Ultrakonservatismus der extremen Rechten in Verbindung stehen.
Aktionen der Destabilisierung
Magali Cunha beschreibt einige Elemente dieser Strategie folgendermaßen:
– Betonung des Diskurses „wir gegen sie“, das heißt die Konstruktion von Feinden und eines Gefühls der Zugehörigkeit zu einer auserwählten Gruppe, die die göttliche Autorität hat, Feinde des Glaubens zu bekämpfen und zu beseitigen;
– Formulierung radikaler Lebensschutz- und Familienagenden als Opposition zu Gendergerechtigkeit und reproduktiven Rechten von Frauen, die im Umfeld des demokratischen Staates erreicht wurden;
– eine aggressive ideologische Interpretation der Bibel, die die Notwendigkeit der Selbstverteidigung und der Rache hervorhebt und dafür auch den Erwerb und Einsatz von Waffen rechtfertigt;
– Kulturkampf gegen die „kommunistische Gefahr“, die als Feinde des Vaterlandes, der Familie, Gottes und der Kirchen gesehen und in den linken Parteien, den Gewerkschaften, sozialen und Menschenrechtsbewegungen, bei den Lehrern und in der Wissenschaft verortet wird;
– intensive Nutzung sozialer Medien mit der Produktion nachweislich falscher und irreführender Inhalte auf der Grundlage von verbalem Terrorismus in Bezug auf die Bedrohung durch diejenigen, die als Feinde des Heimatlandes, der Familie und Gottes wahrgenommen werden, mit der ausdrücklichen Behauptung, bei einem Sieg der Linken an der Wahlurne drohe die Gefahr der Schließung von Kirchen und des Verstummens von Christen;
– verstärkte Verbreitung dieser aggressiven religiös-politischen Inhalte sowohl in institutionellen oder unabhängigen religiösen Medien als auch durch den Einsatz christlicher Influencer in den sozialen Medien.
Die Untersuchungen von Cunha zeigen außerdem, dass sich bestimmte Gruppen gebildet haben, die diese Radikalisierung weiter vorantreiben, indem sie die Wahlergebnisse anfechten, sich an Aktionen der Destabilisierung des Prozesses nach den Wahlen beteiligen, Autobahnen blockieren und zu einer Konfrontation für die „Abwahl“ von Lula durch eine Militärintervention aufrufen.
Die Präsidentschaftswahlen 2022 bestätigten somit die politisch-ideologische Radikalisierung der evangelikalen Rechten und besiegelten ihr Bündnis mit der bolsonaristischen extremen Rechten. Der religiös-politische Extremismus hat das Land, die Familien und auch die Pfingstkirchen selbst gespalten. Vítor Queiroz de Medeiros, Doktorand der Soziologie an der Universität São Paulo (USP), meint, dass die Welle der Verfolgung, der Aggression und des Ausschlusses von Gläubigen oder Pastoren aus diesen Kirchen einen Umfang erreichte, der sogar eine ähnliche Welle während des Militärregimes (1964-1985) übertraf, die sich gegen Gläubige richtete, die nicht mit der Diktatur übereinstimmten.
Der Politikwissenschaftler Victor Araújo betont, dass man das Gewicht der Moral für den einkommensschwachen neopentekostalen Gläubigen nicht unterschätzen sollte. „Es gibt eine Grenze bei der Frage der wirtschaftlichen Abstimmung. Die Vorstellung, dass die Wähler nur an den Geldbeutel, die Inflation und die Arbeitslosigkeit denken, passt nicht allen Wählern. Die Evangelikalen sind der Linken gegenüber eher abgeneigt, weil sie die konservativste religiöse Gruppe in Brasilien sind, was die Moral angeht. Für viele von ihnen ist die Wirtschaftskrise wichtig, aber wichtiger sind die moralischen Werte“, sagte Araújo.
“Kein Widerspruch, evangelisch und links zu sein”
Der Soziologe Matheus Alexandre ist der Ansicht, dass die linken Parteien Schwierigkeiten hatten, die Vielfalt und den Pluralismus der Kirchen zu verstehen, und die falsche Vorstellung kultiviert hätten, die evangelikale Fraktion im Kongress repräsentiere die Weltsicht der evangelikalen Basis. Seiner Meinung nach habe die Strategie der Arbeiterpartei PT, einen Dialog mit den fundamentalistischen Religionsführern zu beginnen, diese in der Öffentlichkeit nur gestärkt. „Es ist notwendig, dass die Linke die (nicht fundamentalistischen) Gläubigen in Forderungsprozesse einbindet, Sektoren für Evangelikale innerhalb der Parteien aufbaut und eine Bewegung schafft, die zeigt, dass es kein Widerspruch ist, evangelisch und links zu sein.“
Angesichts der eindeutigen Parteinahme der Führer der großen Pfingstkirchen ist es nicht überraschend, dass die Mehrheit der evangelikalen Wähler*innen für Bolsonaro gestimmt hat. Im August veröffentlichte Datafolha eine Umfrage, nach der sich damals 45 Prozent der Bevölkerung für Lula aussprachen und nur 32 Prozent für Bolsonaro. Bei den evangelikalen Wähler*innen war die Situation jedoch genau umgekehrt: Bolsonaro kam auf 48, Lula auf 32 Prozent. Das war noch vor der heißen Phase des Wahlkampfs und der extrem aggressiven Mobilisierung der evangelikalen Rechten.
Man muss in Betracht ziehen, dass die evangelikale Fraktion im Kongress während der Regierung Bolsonaro von der Exekutive unterstützt wurde, um ihre konservative Agenda voranzubringen. Obwohl die ersten Umfragen zeigen, dass die Fraktion bei diesen Wahlen zahlenmäßig nicht gewachsen ist, wurden viele konservative religiöse Führer wiedergewählt, so etwa Bolsonaros ehemalige Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Pastorin Damares Alves, eine radikale Abtreibungsgegnerin. Die neue Regierung wird sich mit dieser konservativen Legislative auseinandersetzen müssen, in der die rechtsextreme evangelikale Fraktion in den letzten vier Jahren eine solide Machtposition erlangte. Lula hat die Wahl gewonnen, aber er wird den Bolsonarismus besiegen müssen, der auch ohne Bolsonaro aktiv bleibt.
Konsolidierung der progressiven Evangelikalen
Auf der anderen Seite ist die Mobilisierung der progressiven Evangelikalen zu erwähnen, die in der Öffentlichkeit immer stärker in Erscheinung treten und es sogar schafften, progressive Kandidat*innen bei den Wahlen durchzubringen. Ein Beispiel dafür ist Pastor Henrique Vieira, der sich ausdrücklich auf sein religiöses Bekenntnis berief und für die progressiven Evangelikalen kandidierte. Seit einigen Jahren stellen einige evangelikale Führer konservative Lehren infrage und prangern die irdische Hölle des Hungers, des Rassismus und des Machismo an. Von repressiven Gemeinden bedrängt, gründeten sie ihre eigenen Kirchen. Obwohl es sich immer noch um eine kleine Bewegung handelt, die, anders als die großen konservativen Kirchen, von ihren Gläubigen nicht aggressiv Geld einfordert und entsprechend keine finanziellen Mittel für den Bau großer Tempel zur Verfügung hat und bisher noch ohne größeren politischen Einfluss ist, ist es ihnen dennoch gelungen, sich in der Gesellschaft zu konsolidieren.
Trotz der massiven negativen Kampagne gegen den Kandidaten der Linken haben die evangelikalen Unterstützer*innen Lulas auf breiter Front den Missbrauch religiöser Macht, Nötigung, moralische Belästigung, Todesdrohungen und physische Gewalt angeprangert. Progressive und demokratische evangelikale Kreise versuchten in Gottesdiensten, bei Kundgebungen, mit Flugblättern, Videos, in den sozialen Medien und durch die erwähnten Kandidaturen progressiver Pastoren öffentlich für Lula und die Demokratie einzutreten, um die Assoziation zwischen Bolsonarismus und evangelikaler Identität zu schwächen und ihre Glaubensbrüder bei den Wahlen zu beeinflussen.
Für die Forscherin Ana Carolina Evangelista, Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des Instituts für Religionswissenschaft (ISER) in São Paulo, ist dennoch klar, dass ein Großteil der religiösen politischen Führung der Evangelikalen in Brasilien mit dem neuen Szenario der globalen extremen Rechten übereinstimmt. Während der Regierung Bolsonaro wurden mehrere Bündnisse mit internationalen rechtsextremen Netzwerken geschlossen und engere Beziehungen zu entsprechenden Kräften und Regierungen in Ländern wie Ungarn geknüpft. Brasilien spielte sogar eine führende Rolle in Vereinigungen wie dem „Genfer Konsens“, einer Allianz konservativer Regierungen gegen die Entkriminalisierung von Abtreibung, reproduktive Rechte und Gendergerechtigkeit.
Den Einfluss dieser Orientierungen kann man auch in der Zivilgesellschaft Brasiliens finden, in Ausbildungszentren oder Kommunikationseinrichtungen. Es gibt dazu auch Unterstützung aus konservativ-religiös geprägten Teilen der Bevölkerung, teils aus ideologischen Gründen, teils als Reaktion auf die tiefe Krise in Bezug auf Konsum, Einkommen, Beschäftigung und die Umstrukturierung der Sozialpolitik. Ana Carolina Evangelista zufolge zeigt das internationale Szenario, dass diese Netzwerke nicht an Stärke verlieren, sondern sich neue Taktiken aneignen, wenn sie in den Regierungen an Einfluss verlieren. Es ist zu beobachten, wie sich diese Umstrukturierung im brasilianischen Kontext vollziehen wird.
“Für die Freiheit erziehen”
André Neto, (progressiver) Pastor der Ersten Baptistengemeinde von Ubatã in Bahia (Primeira Igreja Batista de Ubatã), ist der Ansicht, dass sich die Herausforderungen, denen sich die brasilianischen evangelikalen Kirchen angesichts der neuen Regierung stellen müssen, in drei Gruppen unterteilen lassen. Kurzfristig gelte es, die Geister zu besänftigen und die Einheit der Gemeinden zu wahren. Mittelfristig werde es notwendig sein, die Kirche zu „entbolsonarisieren“ und mit biblisch-theologischen Argumenten in einfacher und verständlicher Sprache zu zeigen, dass die Bolsonaro-Philosophie dem christlichen Glauben widerspricht. Langfristig sei es notwendig, für die Freiheit zu erziehen und ein christliches Gewissen zu formen, das fest in Christus steht, seinen Lehren und seinem Beispiel treu ist und gegen Parteilichkeit und opportunistisches Schmarotzertum immun ist. Ob das tatsächlich geschehen wird, bleibt abzuwarten. Wir hoffen es! Aber mit den ständigen Anfechtungen des Wahlergebnisses durch rechte evangelikale Kreise wird sich die Polarisierung meiner Meinung nach eher noch verstärken.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 461 Dez. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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