RAND-Notizen: Der Ukraine-Krieg wird zum Störfaktor US-amerikanischer Hegemonialinteressen – Pentagonnahe Denkfabrik RAND fordert schnelles Kriegsende und blickt auf China

RAND hat im Januar eine Studie vorgelegt, die sich für eine möglichst schnelle Beendigung des Russland-Ukraine-Krieges ausspricht. Die Berliner Zeitung titelte dazu „Diesen Krieg kann keiner gewinnen – Kehrt jetzt Vernunft ein?“ Die NDS nahmen die Studie in ihre „Hinweise des Tages“ am 30. Januar 23 auf. Das RND stellte ebenfalls Aspekte der Studie vor. Der Chefredakteur der Weltwoche Köppel widmete dem Thema ein Extra-Video, nannte die Ausarbeitung einen „Lichtblick“ und erläuterte ausführlich wesentliche Argumente der Studienautoren.

Tatsächlich haben die inhaltlichen Überlegungen von RAND nichts mit der aktuellen Mainstreamerzählung zum Krieg gemein. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum die Studie in Deutschland nicht breiter kommuniziert wurde. Sie hätte es aber verdient, schon als Lehrstück, denn den Autoren ist ein Meisterstück strategischer US-Interessendefinition gelungen.

Die zentrale Frage, die sich mit dieser Studie stellt, ist, warum eine so einflussreiche Denkfabrik wie RAND, so nah am Pentagon, die mit ihren Arbeiten in den vergangenen Jahren einen Beitrag leistete, dass sich der USA-Russland-Konflikt verschärfte, sich nun zum Anwalt einer raschen Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg aufschwingt.

In einer Zeit, in der Politik und die allermeisten Medien den angeblich zum Greifen nahen Sieg der Ukraine gegen Russland öffentlich feiern: Nur noch ein paar Panzer mehr, im Anschluss ein paar Flugzeuglieferungen, Langstreckenwaffen mit einer Reichweite über 80 km (damit sie Russland treffen können), eventuell auch ein U-Boot fürs Schwarze Meer, dann noch ein paar „boots on the ground“, NATO-trainiert, und dann wird die Ukraine, dieser Verteidiger von Frieden usw. in Europa, erhobenen Hauptes, mit der Krim und dem Donbass im Arm, als Sieger vom Platze schreiten. „Ganz kompromisslos – Just peace“. Gerade erst hat die EU betont, wie uneingeschränkt sie dieses Herangehen unterstützt.

USA haben wichtigere Interessen

In dem brillant geschrieben RAND-Papier (man könnte neidisch werde, WIE die Autoren argumentieren, die „richtigen“ Knöpfe drücken und dennoch alles verwerfen, was gerade 24/7 mit alleroberster politischer Billigung gehechelt wird) stecken die Antworten:

Erstens ist die Vorstellung von einem ukrainischen Sieg unter Rückeroberung aller Gebiete, die sich Russland aneignete, unrealistisch. Es ist Zeit, nüchtern zu werden und auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Territorium ist nicht alles. (Anm.: Sonst riecht es womöglich nach einer NATO-Niederlage, bei dem Engagement, das man an den Tag legte.)

Zweitens, die USA haben wichtigere Interessen. Der Hauptgegner heißt China. Wenn man mit den Russen zu einem Verhandlungsergebnis in Sachen Ukraine käme, verhindert das möglicherweise auch das weitere Zusammenrücken von China und Russland, das China nützt.

Ein Zwei-Fronten-Krieg, bei dem man sich an einer Front selbst entwaffnet, ist keine kluge Strategie. Ein wegen der Ukraine entfesselter Atomkrieg auch nicht. (Anm.: Die Verteidigung der US-Hegemonie im 21. Jahrhundert ergibt nur Sinn, wenn noch eine Welt da ist, die man beherrschen könnte.)

Die Beschäftigung mit der neokonservativen Logik von RAND erleichtert die Weltsicht sogar.

RAND befasste sich nicht mit der angeblichen Rolle der Ukraine als Schild und Schwert westlicher Freiheit und Demokratie. Man wendet sich vielmehr dem Wichtigen zu, der Auseinandersetzung mit China. Dazu brauchen die USA Ruhe an der europäischen Front. Sollte Zelenskyj das nicht begreifen, wird er in die nötige Richtung geschubst. Die USA könnten die Kriegsalimentierung überdenken. Eine solche Drohung steht in der Studie.

Aus Sicht von RAND ist auch der Traum von der ukrainischen NATO-Mitgliedschaft ausgeträumt. Neutralität ist vernünftig und weniger anstößig für Russland.

Was die Sanktionen betrifft, so lassen diese sich gut und gerne zum großzügigen Verhandlungsangebot uminterpretieren. Man stellt – so wie die RAND-Autoren – schlicht fest, die russische Wirtschaft hätte bereits schwer gelitten und lässt weg, dass die Sanktionen nicht so wirken, wie man dachte. So macht man das. Es ist genial.

Von einem Krieg zum nächsten

Der gefährlichste Teil der Logik von RAND allerdings ist nicht aufgeschrieben. Es ist der unbeirrte gedankliche Marsch von einem Krieg zum nächsten. Verluste werden abgebucht, ein neues Schlachtfeld ins Visier genommen. Aus den verlorenen Kriegen wird nichts gelernt. Sie fädeln sich nur auf, wie Perlen auf einer Kette.

Deutsche Außenpolitik und Europapolitik täten gut daran, ihre eigene Position zu überprüfen. Die USA werden umschwenken, über kurz oder lang, so viel ist nach der RAND-Studie sicher. RAND beißt nicht die Hand, die sie füttert. RAND wird dafür bezahlt, das zu sagen, was im Pentagon mindestens seit Oktober 2022 gedacht wird und was jeder verstehen kann, der noch nicht vollends mit Kriegspropaganda zugemüllt ist:

Die Ukraine kann zwar tapfer kämpfen (und sterben), aber sie wird diesen Krieg nicht gewinnen.

Das Sterben ist so groß, dass darüber gelogen wird.

Die demographischen Konsequenzen dieses Krieges für die Ukraine sind schon jetzt entsetzlich, von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen ganz zu schweigen.

Sollte die Ukraine noch mehr Menschen, noch mehr Territorium und ihren Meerzugang verlieren, wäre sie praktisch ein gescheitertes Land. Die Zeit spielt gegen die Ukraine, nachzulesen in der WP.

Wieviel Ukraine noch übrig sein wird, wenn man weiter nach dem Prinzip „so lange es eben dauert“ verfährt, ist völlig offen.

In der EU tut man noch immer so, als wäre eine EU-Mitgliedschaft dessen, was von der Ukraine übrig sein wird, wenn es so weiterginge, realisierbar. In der aktuellen Rumpf-Ukraine träumt man von dieser Mitgliedschaft innerhalb von zwei Jahren, so, als hätten wir es noch mit einem funktionierenden Land zu tun, in dem Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte starke Wurzeln haben, die Wirtschaft boomt und die Übernahme aller EU-Rechtsverpflichtungen fast beendet ist.

Die Wahrheit könnte nicht ferner liegen. Es gilt Kriegsrecht in der Ukraine, und unter diesem Mantel sind weitere Festen der sich entwickelnden Demokratie geschleift worden: politische Opposition, Medienvielfalt, bürgerliche und individuelle Freiheitsrechte für alle, das ist vorbei. Aber das ist uns keine Diskussion wert, so wie auch die Wenigsten zusammenzucken, wenn „Slava Ukraijni“, der Sinnspruch neuer ukrainischer Identität, unentwegt bemüht wird. Nur naive, geschichtslose Menschen können dies als pro-europäischen Maidan-Gruß ansehen. Es ist der Gruß der Jünger Banderas, der heute als ukrainischer Nationalheld verklärt ist.

Bandera war ein in Polen verurteilter Mörder, ein Terrorist, ein vom ukrainischen Nationalwahn durchdrungener Verbrecher, der zeitweilig mit den Nazis kollaborierte. Der und seine Anhänger waren keine Mitläufer, sondern Faschisten, Mittäter. Jeder, der „Slava Ukraijni“ duldet oder selbst verwendet, düngt heute regelrecht den Boden, auf dem Rassenwahn und Völkerhass sprießen.

Westliche Geheimdienste investierten auch in Bandera einiges nach 1945, um ihn zu ihrem Werkzeug im Untergrund gegen die Sowjetunion zu machen. Nebenbei, mit mäßigem Erfolg. Seinen neuen Auftraggebern gegenüber bestand Bandera darauf, dass er “nicht nur für die Ukraine kämpfe, sondern für ganz Europa“. (Kommt das jemandem bekannt vor?)

Die Dienste benutzten ihn, aber er wurde auch verachtet. Im Nationalen Archiv der USA findet sich eine Auswertung seiner Rolle und der seiner Anhänger im Teil 5 einer Ausarbeitung, die die Überschrift „Hitlers Schatten“ trägt.

RAND schlägt in Sachen Ukraine vor, dass die USA jetzt retten sollten, was sie aktuell noch retten können.

Denn den Autoren ist die aktuelle Lage klar. Sie extrapolieren logisch von der seit 2021 verkündeten Entschlossenheit der NATO, dass diese sich auf keinen Fall wegen der Ukraine auf eine direkte militärische Konfrontation mit Russland einlassen wird.

Nicht, weil sie es nicht will, sie kann es nicht.

Russland ist nicht Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen

Einen konventionellen Landkrieg würde sie verlieren, im atomaren ginge die Welt zugrunde. Russland bombt man nicht ungestraft in Sack und Asche wie den Irak, wo es trotzdem schiefging, so wie alle anderen militärischen Interventionen der letzten Jahrzehnte auch schiefgingen: Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen.

Nun schafft auch die Ukraine nicht, was sie stellvertretend leisten sollte. Es gibt, und das hat sogar die Ukraine begriffen, nur Ukrainer, die bereit sind, für die NATO auf dem Feld der Ehre im Kampf gegen Russland zu sterben. (Ich sehe von den polnischen und aus anderen Ländern stammenden Söldnern ab. Auch unter ihnen gibt es Tote. Andere, wie die Gruppe „Mozart“, streckten die Flügel und fangen an zu reden.)

Wer in einem Korsett des Wollens- und- Nicht-Könnens steckt, wird giftig und böse, muss die Ukraine überhöhen, Russland zum unfähigen Totengräber erklären, der noch nicht mal eine Schaufel richtig halten kann und muss hyperventilieren, was das Zeug hält. Das erklärt sehr viele Aspekte der aktuellen Kriegspropaganda. Noch ist die Fraktion derer, die den Krieg in der Ukraine weiter anheizen wollen, stark und laut. Die trommelt mit Boris Johnson im Atlantic Council, mit Kagan in Foreign Policy und die EU-Führung bläst auch (noch) ins gleiche Horn. Aber am Ende zählen die Fakten. Auch die westliche Rettungsleine für die Ukraine ist endlich.

Man hat den Eindruck, dass sich sowohl im vertraulichen Briefing des Pentagon (die Krim ist für die Ukraine verloren), das Politico gesteckt wurde, als auch in öffentlichen Äußerungen des Vorsitzenden des US-Verteidigungsausschusses Rogers, (schnelles Kriegsende) viel RAND versteckt. Newsweek dementierte jüngst eine Meldung von einem angeblichen CIA-Vorschlag an Russland, gegen 20 Prozent des ukrainischen Territoriums den Krieg zu beenden. Wie dieser Vorschlag wohl in die Medien kam, wenn nicht durch die CIA selbst?

Ob Dementi oder nicht, schon ist klarer, wer in der Ukraine Aktien im Spiel hat.

In der RAND-Studie fehlte jeder Hinweis auf eine völkerrechtliche Aufarbeitung oder gar Vergeltung des Krieges. So ticken die nicht. Die denken praktisch darüber nach, dass man Russland für kommende Abrüstungsschritte braucht.

Nichts anderes kennen als Interessen – Alliierte sind keine Freunde

Aus der RAND-Studie lässt sich lernen, dass die USA messerscharf kalkulieren und nichts anderes kennen als ihre Interessen. Von einer notwendigen Abstimmung mit den Verbündeten (das Prinzip Einigkeit war doch so großgeschrieben seit Februar 22) steht kein Wort im Text. Warum auch? Alliierte sind keine Freunde und die Ukraine hat ihren Zweck erfüllt, nicht so gut, wie erhofft, aber immerhin. Möge sich Europa um die Aufräumarbeiten kümmern. Falls noch ein paar ukrainische Filetstücke zu haben sein sollten, wird Black Rock zur Stelle sein.

Schon das Einschwenken der Bundesrepublik auf die US-Russland-Strategie war für unser Land hochgefährlich. Geht es nach RAND, wird die Ukraine auf die harte Tour lernen, dass man weggeworfen wird wie altes, wenn der amerikanische Hegemon nach einem neuen Spielzeug greift.

Nuancen der Heuchelei

Taiwan, dieser „unsinkbare Flugzeugträger“ vor der chinesischen Küste, ist gut positioniert für die kommende große Auseinandersetzung. Das muss hochgerüstet werden.

Also wird daran gearbeitet, allen einzureden, Taiwan wäre ein Staat und bedroht von China. Offiziell ist Taiwan durch die USA als abtrünnige Provinz eingestuft, deren Unabhängigkeit sie nicht anerkennen, also ein integraler Teil Chinas.

Praktisch haben die USA im vergangenen Jahr ihre militärische Präsenz in Taiwan verdoppelt. Wenn man das auf ukrainische Verhältnisse übersetzen würde, käme das einer offiziellen militärischen Präsenz Russlands zwischen 2014 und Anfang 2022 im abtrünnigen Donbass gleich.

Daraus kann man lernen, in wie vielen Nuancen der Heuchelei das Konzept der „strategischen Ambiguität“ schillert.

Wie man liest, scheint die grüne Außenpolitik willens, bei der erkennbaren US-Chinastrategie ebenso willig mitzumarschieren wie im Fall Russlands. Das wird Russland ruinieren, tönte Baerbock stellvertretend für alle Koalitionäre, und niemand hat sie zurechtgewiesen. Wer hier gerade ruiniert wird, ist allerdings nicht Russland, obwohl die EU noch immer glaubt, bei den Sanktionspaketen könnte man genauso verfahren wie bei den Waffenlieferungen – immer noch eins obendrauf, bis einem nichts mehr einfällt bzw. die Arsenale leergeräumt sind.

Die jüngsten Prognosen des IWF zur Wirtschaftsentwicklung 2022-24 sind ein später Weckruf. Der sieht für 2023 und 2024 ein höheres Wachstum für Russland voraus als für Deutschland. 2022 betrug laut IWF die russische „Talfahrt“ minus 2,2%. Damit lief und läuft es für Russland sehr viel besser als gedacht.

Inzwischen ist Deutschland in eine sogenannte „Winterrezession“ gerutscht. Aber so sollte es ja laufen: Das erfolgreiche deutsche Wirtschaftsmodell musste politischen Umstrukturierungsvorgaben weichen. Nun sind wir auf Jahre in der Abhängigkeit von teurem Gas gefangen. In der RAND-Vorstellung einer schnellen Verhandlungslösung mit Russland ist Nord Stream nicht eingepreist.

Rutschbahn in die Bedeutungslosigkeit

Wenn wir uns allerdings nach dem billigen russischen Gas nun auch noch die Kooperation mit China wegschlagen lassen bzw. dabei auch noch willige Schützenhilfe leisten, dann wird die Rutschbahn in die Bedeutungslosigkeit immer steiler und Deutschland wird die ganze EU mit herunterziehen.

Haben Sie gewusst, dass die Seidenstraße in Duisburg endet, fragte das RND 2021. Das war eine Hoffnung für diese Stadt. Nun berichtete die FT, dass die Duisburger Hoffnungen auf ein Wiedererstarken „entgleisen“. So stellt sich die „Rettung“ Duisburgs vor dem „aggressiven China“ ganz praktisch dar, wenn eine Politik der „harten Hand“ und abstrakter Werteverteidigung regiert. Ob sich Duisburg auch noch einreden lassen wird, es habe dankbar zu sein?

Gerade schworen sich Macron und Scholz in die Hand, die EU müsse „souveräner“ werden, mit eigener globaler Stimme. Die deutsche Sozialdemokratie träumt allerdings neuerdings von einem hochgerüsteten Deutschland, das eine hochgerüstete EU anführt und bald auch einen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat. Ich habe keine Ahnung, wo diese Reißbrettstrategen ihr Handwerk gelernt haben, ich vermute in Wolkenkuckucksheim.

In der Realität hat Deutschland absehbar große wirtschaftliche, soziale und Energieversorgungsprobleme. Politisch besteht nicht die leiseste Chance, auch nur ein Stuhlbein in einem wie auch immer neu geordneten Sicherheitsrat zu ergattern. Nicht mit unseren etwas über 80 Millionen und schon gar nicht mit dem neu entdeckten militärischen Schmiss.

Deutschland bemerkt ja noch nicht einmal, wie alles zerfasert, in der EU, auch in der NATO.

“Nukleare Teilhabe” – Was ist so attraktiv daran, teilzuhaben, wenn es zum letzten Mal knallt?

Die USA werfen ausgewählten EU-Staaten Sicherheitsbröckchen hin. Immer sind es bilaterale militärische Arrangements und jeder lechzt danach, da ein paar neue Truppenstationierungen abzufassen, dort ein kleines neues Hauptquartier zu bekommen. Obendrüber steht das Gebettele um die sogenannte „nukleare Teilhabe“.

Auch der deutsche Traum vom Raketenschirm ist kein europäischer. Er ist der Traum eines Zwerges, mit 14 anderen noch kleiner gewachsenen Zwergen, die glauben, sich dadurch in einen Riesen zu verwandeln.

Wie denn? Die Grundfrage ist ja nicht gelöst: Die NATO steht militärisch unter US-Führung, die dadurch die militärische Positionierung in den europäischen Mitgliedstaaten bestimmt (und so auch eine Konfliktquelle mit Russland schafft).

„Nukleare Teilhabe“ bedeutet allenfalls, dass am Ende deutsche (und -wie die Polen hoffen – demnächst auch polnische Flieger) mit Atombomben bestückte Flugzeuge fliegen dürfen, um mit dabei zu sein im Fall des Falles. Wer gäbe den Einsatzbefehl? Soweit ich weiß, ist die Nuklearstrategie der USA keine basisdemokratische Veranstaltung, bei der alle mitreden dürfen. Was ist so attraktiv daran, teilzuhaben, wenn es zum letzten Mal knallt?

Es reicht ein einfaches Gedankenexperiment, um herauszufinden, wie sich „nukleare Teilhabe“ und die immer wieder bemühte politische Vision, langfristig eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen, in der deutschen Realität zueinander verhalten: Wie wahrscheinlich ist es, dass die deutsche Regierung öffentlich erwägt, sie schließe sich der UN-Bewegung nach Atomwaffenfreiheit an und wolle deshalb die Stationierung von US-Atomwaffen auf deutschem Territorium beenden?

Aber so kühn wollen wir ja gar nicht träumen. Im Augenblick würde es schon reichen, wenn sich die Bundesregierung in Sachen Ukraine den RAND-Vorstellungen näherte, schneller, als die USA das tun werden, und sie gleichzeitig sorgfältig vermeidet, sich in das Spinnennetz einer Konfrontation mit China hineinzuziehen zu lassen.

Aktuell kam gerade eine Studie auf den Markt, von einer anderen Denkfabrik, die die US-Rüstungsindustrie finanziert. Sie simulierte, wie es denn liefe, wenn die USA Taiwan beisprängen, sich einer chinesischen “Aggression“ (Anm.: streng genommen wäre es eine interne Konfliktlösung Chinas mit militärischen Mitteln) zu erwehren. Die Schlussfolgerung war nicht überraschend: Taiwan braucht US-Rüstungsgüter. Zur „Abschreckung“. Am Ausgleich lässt sich kein Geld verdienen.

Am Ende jedoch wird auch eine US-China-Konfrontation schief gehen, völlig gleichgültig, was dazu aus allen Verstärkern dröhnt oder noch dröhnen wird.

Offen ist nur, wie viele Milliarden öffentlicher Gelder, wie viele zerstörte Hoffnungen oder gar Leben die unentwegte Politik der Konflikteskalation noch kosten werden.

Wenn auch nur mit einem Bruchteil der Energie und Lust, mit der Konflikte angetrieben werden, versucht würde, den Kompromiss und die Kooperation voranzubringen, die Welt taumelte nicht mehr am Rande des Abgrunds. Aber nein, man beobachte nur die Diskussion über den mutmaßlichen chinesischen Spionageballon, der langsam über die USA gondelt. Abgedriftet vom Wind, nur ein ganz harmloser Klimaballon, sagen die Chinesen, voll steuerbar und zu Spionagezwecken, sagen die USA.

Tatsächlich gibt es keine festen Regeln, wie hoch ein nationaler Luftraum reicht. Es gibt zwar eine Mehrheitsmeinung (100 km), aber außer zu Flugzeugen nichts wirklich Verbindliches. Damit sich all die Raumfahrt-Länder mit ihren Spionagesatelliten, die niemand sieht, geostationär und in Umlaufbahnen positionieren können. Spionageballons bzw. Satelliten operieren in einem rechtlosen Raum.

Provokative Petitesse

Das ist allgemein ein heikles Thema: Die vielen Schichten der militärischen und/oder geheimdienstlichen Überwachung, die inzwischen global existieren: Drohnen, Ballons, Flugzeuge, Satelliten. Der ganze Orbit scheint zugepflastert. (Ein ehemaliger US-Pilot macht vieles davon im Internet sichtbar.)

So gesehen ist dieser aktuelle Ballon allenfalls eine provokative Petitesse, weil man ihn sieht. Die Spionage-Satelliten sieht man nicht, aber das ändert nichts daran, dass sie da sind und sich alle wechselseitig ausspähen.

Die aufgeregte Diskussionslage in den USA zum Ballon bezeugt lediglich die dominanten Denkstrukturen: Man darf nicht schwach erscheinen (also abschießen!), sonst glaubt China am Ende noch, man könne ALLES mit den USA machen.

So wird jede einzelne Frage kommunikativ sofort ins Extrem getrieben. Immer wird ein Preis gefordert, den der Gegner bezahlen muss. Immer fordern die USA diesen Preis. Diese Denklogik hat sich längst über den Atlantik in unsere Diskussion geschlichen.

Aber nicht generell, sondern selektiv. Beim Nord Stream-Anschlag hätte Deutschland allen Grund gehabt, einen Preis zu fordern, angesichts der Ungeheuerlichkeit der Tat. Aber da herrschte vor allem Stille. Erst gab es ein bisschen Russland-Verdächtigungen, dann Geheimhaltung und deutsche „Untersuchungen“.

Nun titelte die Welt (Basis offenbar dpa): „Keine Belege für russische Sabotage…“ und im Text wird der deutsche Generalbundesanwalt Frank wie folgt zitiert: „Was ich aber sagen kann: Der Verdacht, dass es sich hier um eine a u s l ä n d i s c h e Sabotage-Aktion gehandelt hat, ließ sich bislang nicht erhärten.“ War es etwa eine deutsche Sabotageaktion mittels militarisierter Schweinswale? Ein solche Meldung konnte nur entstehen, weil der Verstand aussetzte. Aber so ist das, wenn nur zum Schein gehandelt wird, weil man die Wahrheit nicht wissen wollen soll. In der realen Welt bezahlen wir die Zeche, die ein anderer machte. Und der sitzt nicht im Osten.

Zum Schluss:

Ein US-Blogger, der US-Reaktionen zum chinesischen Ballon kommentierte, garnierte seine Aussagen mit Nenas gefälligem Liedchen „99 Luftballons“ aus dem Jahr 1983. Er nutzte die deutsche Version. Ein Leserhinweis führte mich zur englischen Liedversion (99 rote Ballons). Überrascht stellte ich fest, dass diese sehr viel schärfer formuliert als das deutsche Original. Im Zusammenhang mit der Sichtung der roten Ballons heißt es: „This is what we’ve waited for, this is it, boys, this is war.” (Das ist es, woraus wir gewartet haben, das ist es, Jungs. Das ist Krieg…)

Kriegsenthusiasmus ist leider kein lyrisches Relikt der 80er Jahre. Er ist real. Er muss gebrochen werden. Dabei kann die RAND-Studie helfen. Wenn man sie richtig liest.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.