Es ist gerade einmal zwei Monate her, da reiste der Bundeskanzler in den Niger. Begleitende Presseberichte stellten den Niger als instabilen, aber gutwilligen Partner dar. Im Gegensatz zum islamistisch und mit Hilfe russischer Wagner-Söldner umkämpften Mali, in denen letztere völkerrechtswidrige Massaker und andere Verbrechen begingen, erklärten das Auswärtige Amt, das Bundeskanzleramt und alle Beteiligten den Niger als Partner mit Zukunft. Bis vor 48 Stunden.
Militärputsch beim demokratisch gewählten Hoffnungsträger
Seitdem hat das Militär geputscht und Präsident Bazoum abgesetzt. Damit holte die bittere Realität, dass auch im Niger wirtschaftliche Hilfe wichtiger wäre, als die Gründung neuer Militärstützpunkte des Westens, neben demjenigen der US-Amerikanischen und der französischen Armee. Öffentlich gezeigte russische Fahnen sind wohl eher Propaganda. Entscheidender war die Haltung der Opposition im Parlament, die sich gegen noch mehr internationales Militär im Land ausgesprochen hatte. Wie konnte es da sein, dass Olaf Scholz bei seinem Besuch im Mai den Einsatz der 200 Bundeswehrsoldaten im Niger als vorbildlich lobte und sagte, sie “leiste hier Außerordentliches”. War das ein legitimer Versuch, die Moral der Truppe zu heben und Regierung des Niger zu stabilisieren? Warum beliess es dann der Kanzler bei warmen Worten, wo vielleicht Finanzmittel und humanitäre Hilfe dringender benötigt werden? Wo und auf welcher Umlaufbahn zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt werden die aktuellen Einschätzungen außenpolitischer Kooperationspartner eigentlich geschrieben? Gibt es so etwas wie eine gemeinsame außenpolitische Strategie?
Die Strategie der Außenministerin im Niger
Auf ihre ganz besondere Art hat Außenministerin Baerbock ein Jahr zuvor im Mai 2022 im Niger – die Tagesschau berichtete – eine ihrer internationalen Theatervorstellungen gegeben: “Annalena Baerbock übt Wassertragen mit einer Holzstange über der Schulter und zwei festgebundenen Eimern an den Seiten – eine traditionelle afrikanische Art, Wasser zu holen. ‘Wie mache ich das richtig?’, fragt die deutsche Außenministerin, und alle wollen ihr helfen. Ein Riesenspaß für die Frauen in dem kleinen Dörfchen Ouallam in Niger, sie lachen sich kaputt. So hatten sie sich eine Ministerin nicht vorgestellt. Die mitreisenden Journalisten filmen die Szene. Kurz darauf ist sie der Hit in den sozialen Netzwerken.”
Nun verlangt ja niemand, dass das Auswärtige Amt, so wie die Legende vom CIA berichtet, für jeden Staat auf der Erde fertige Interventionspläne nebst Aufstellungen über die dafür benötigte Stärke der militärischen Kräfte nebst Telefonnummern der Oppositionellen in der Schublade hat. Aber so etwas wie eine realitätstaugliche Analyse von Staaten wie dem Niger, die Stärken, Risiken und Schwächen benennt und dem Kanzler und jedem anderen Mitglied der Bundesregierung vor dessen Reise auch mitgeteilt wird, wäre schon hilfreich und wünschenswert.
Werden die Probleme des Sahel wirklich realistisch erkannt?
Allein Boris Pistorius scheint im Rahmen der gemeinsamen Reise mit Entwicklungsministerin Schulze besser vorbereitet gewesen zu sein. Im Interview der SPD-nahen Ebert-Stiftung vor der Reise sagte er: “Wir müssen vorsichtig sein, die Rolle von Niger nicht zu überhöhen. Ja, die dort durchgeführte Spezialkräftemission ‘Gazelle’ hatte auf den ersten Blick Erfolg. Auch hier stehen wir aber vor einem fragilen System, welches schnell kippen kann. Bereits jetzt sehen wir, dass das erhöhte europäische Engagement im Land, nicht nur positiv aufgenommen wird. Übereilte Entscheidungen mit Blick auf Niger oder der Versuch ‘zu viel, zu schnell’ zu machen und vor allem unzureichende Koordination zwischen internationalen Partnern, kann hier kontraproduktiv sein.” Dagegen entstand im Rahmen der Reise von Olaf Scholz der Eindruck, als handele es sich beim Niger um einen Hort der demokratischen Hoffnung und Stabilität.
Echte Hilfe oder Vorverlegung der Fluchtverhinderung?
Gleichwohl wurde Svenja Schulze am 10.7.2023 zur “Präsidentin der Sahel-Allianz”. Für die SPD-Entwicklungsministerin hat die Region am Rande der Sahara, von Mauretanien über Mali, Burkina Faso, Niger bis hin zum Tschad, Priorität in Afrika. Die Region ist gebeutelt von der Klimakrise. Islamistische Terrorgruppen machen den Menschen das Leben schwer. “Das ist eine sehr instabile Region, mit sehr vielen Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen fliehen müssen”, so die Ministerin. So will Schulze die Hilfe des internationalen Bündnisses koordinieren. Deutschland, Frankreich und die Europäische Union haben den Kreis ins Leben gerufen. Aber sind diese Schritte angesichts der instabilen Lage angemessen und hinreichend sensibel? Schulze selbst äußerte sich im Frühjahr noch skeptisch: “Der Fokus liegt im Moment absolut darauf, die Region zu stabilisieren”, so Schulze. Und das will sie als künftige Präsidentin der Sahel-Allianz vorantreiben. Auch im Interesse der Bundesregierung. Denn sollten immer mehr Menschen aus Krisengebieten der Sahel-Region fliehen, könnte das auch mehr Migration nach Europa bedeuten.
Schon Merkels Initiative viel zu kleine Münze
Die Interessen Europas und Deutschlands sind in der Region wohl bekannt. 2019 reiste die damalige Bundeskanzlerin nach Burkina Faso, Mali und Niger und verdeutlichte Deutschlands “intensives Interesse” daran, dass sich die Sahel-Staaten “stabilisieren”. Gemeint war ein Maßnahmenbündel aus Entwicklungshilfe und militärischer Unterstützung, dessen Teil der MINUSMA-Einsatz Frankreichs und der Bundeswehr war, der inzwischen gescheitert ist. Die Europäische Union hatte für den Zeitraum 2017 bis 2021 rund eine Milliarde Euro an Entwicklungshilfe zugesagt – ein Erfolg ist kaum sichtbar – vielleicht, weil es allzu durchsichtig nicht darum ging, wirklich nachhaltig Entwicklung zu betreiben, sondern vor allem Flüchtlinge an der Weiterreise nach Nordafrika und Europa zu hindern.
Ohne grundsätzliche Änderung der Afrikapolitik kein Erfolg möglich
Es wäre nicht nur interessant zu ergründen, wo diese EU-Mittel versickert sind – bei den Betroffenen von der Klima- und Armutskrise wohl nicht. Ob die aktuellen öffentlichen Appelle der Entwicklungs- und der Außenministerin vor Ort etwas bewirken können, ist mehr als zweifelhaft. Es bedarf eines grundlegenden Entwicklungsplans für die gesamte Region, für Nordafrika und die Sahel-Länder. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als einen Marshall-Plan für den nordafrikanischen Kontinent, der beispielsweise eine Solarwirtschaft aufbaut, die hunderttausende Arbeitsplätze schafft und die Menschen dauerhaft aus der Armut herausführt. Dabei wird es darauf ankommen, die Interessen der EU so einzusetzen, dass sie sich als Fairer Partner erweist – und sich darin fundamental von der Entwicklungspolitik der Schuldenfalle Chinas, der menschenverachtenden Gewalt der Wagner-Söldner und der Maßlosigkeit und des religiösen Wahns der Golfstaaten wie Saudi-Arabien oder Qatars zu unterscheiden. Eine Herausforderung zur Entwicklung einer intelligenten Afrikapolitik.
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