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Rechtsextremismus der Mitte – 4.

Die rechtsextrem angehauchte Asyl-Weltsicht des Sigmar Gabriel

Sigmar Gabriel hat sich dieser Tage ungewollt und so überflüssig wie eine Überschwemmung nach einem Klimasturzregen in Sachen Asylrecht zu Wort gemeldet. Er wolle, so Sigmar Gabriel, eine pragmatische Lösung ins Gespräch bringen.„Unsere Regeln aus dem 20. Jahrhundert passen nicht zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, sagte Gabriel dem Redaktionsnetzwerk Deutschland – das klingt chic und modern. Dann plaudert Gabriel so fachunkundig wie populistisch drauflos: Ein erster wichtiger Schritt wäre, dass alle demokratischen Parteien anerkennen: Es gibt hier keine Bilderbuchlösung. Wer so tut, als habe er eine, beschwindelt die Leute.” Na klar, wer möchte nicht ehrlich sein und Kompromisse finden: “Wir müssen Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit verbinden mit klaren und durchsetzbaren Regeln für die Begrenzung von Zuwanderung. Denn weder können wir unbegrenzt viele Menschen aufnehmen, noch existiert irgendwo in der Welt ein Recht auf unkontrollierte Einwanderung.

Gabriel in argumentativ-rechten Fußstapfen

Zwei üble Unterstellungen der politischen Rechten und des Populismus macht sich Gabriel hier zu-eigen: Denn weder kommen unbegrenzt viele Menschen nach Deutschland: mit etwa 161.000 bis zur Jahresmitte kam ein lächerliches Viertel der Flüchtlinge des Jahres 1993 nach Deutschland. Noch findet “unkontrollierte Einwanderung” statt. Gabriel macht sich hier nicht nur einen AfD-Kampfbegriff zu eigen, er ignoriert auch, dass Einwanderung in Deutschland so “toll” kontrolliert wird, dass immer noch Flüchtlinge nach 10 Jahren Duldung, die integriert, ihre Kinder hier geboren sind und die von ihren Arbeitgebern dringend gebraucht werden, trotzdem von deutschen Ausländerbehörden rücksichtslos  abgeschoben werden.

Besonders infam ist sein Gebrauch der Formel “Recht auf unkontrollierte Einwanderung”. Er unterstellt damit Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie unter Einsatz ihres Lebens versuchen, das Mittelmeer zu überwinden, sie würden damit ein “Recht auf unkontrollierte Einwanderung” beanspruchen. Das ist schon recht nah am Höcke-Niveau. Dass Migrationsforscher und Ökonomen fordern, dass Deutschland dringend  jährlich 400.000 Einwander*innen (Kölner Stadtanzeiger) braucht, um den Wohlstand zu erhalten, benennt Gabriel natürlich nicht.

Es gibt einen Krieg in Europa, Herr Gabriel!

Darüber hinaus befinden sich natürlich zweifelsfrei etwa eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge nach Genfer Konvention in Deutschland – sie haben aber mit der Kriegs- und Armutsflucht aus dem Süden nichts zu tun. Allein die Vermischung dieser Gruppen ist ein politischer Affront gegen die internationalen Verpflichtungen, die Deutschland eingegangen ist. Noch schlimmer, dass dies ein Jurist und ehemaliger Aussenminister in die Welt setzt, der es besser wissen müsste. Aber die darauf folgende Passage des RND-Interviews macht deutlich, worum es Gabriel wirklich geht: Er führt einen Frontalangriff auf das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention:

Gabriel will die Grundfesten der Asyl- und Flüchtlingsverfassung schleifen

“Der Versuch, mit einem Individualrecht auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention auf das moderne Phänomen von Massenflucht zu reagieren, wird uns nicht zum Erfolg führen. Wir sollten jetzt parteiübergreifend nach neuen Wegen suchen, ohne durch Wahlkampfgetöse das Geschäft der AfD zu fördern.”  Hier versucht ein Sozialdemokrat auf infame Weise, das historisch gewachsene und begründete Individualrecht auf Asyl, das aus der Erfahrung der Verfolgung von Juden, Sozialisten, Kommunisten, Schwulen, Arbeitsscheuen, Zigeunern und anderen Minderheiten durch die Nationalsozialisten und Hitler geschaffen wurde, zu unterminieren und als “überholt” zu diffamieren.

Als ob der schwule Mann aus dem Iran oder Saudi-Arabien, die Frauenrechtlerin aus Afghanistan, der Dissident aus Aserbaidschan oder vielen anderen Ländern durch “Fluchtkontingente” erfasst werden könnten. Der Jurist Gabriel, der weiß, was es für das Individuum bedeutet, versucht der Öffentlichkeit  denselben Unsinn zu verkaufen, wie Thorsten Frei (CDU), der statt des individuellen Asylrechts diese Kontingente einführen will. Das wäre nach 75 Jahren Grundgesetz ein historischer Bruch mit dessen Systematik, die in Artikel 1 so klar zum Ausdruck kommt: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”

Verachtung von Bürgerrechtlern und Befeuerung von Stammtischparolen

Gabriel äußerte sich weiter im RND: “ Das wird zunächst lauten Protest der Proasylszene auslösen.” Allein mit dieser Diffamierung des ehrenamtlichen bürgerrechtlichen Engagements von Pro Asyl und Flüchtlingsräten bundesweit hat Sigmar Gebiel einen Schlag ins Gesicht von hunderten Aktivist*innen der Flüchtlingshilfe vor Ort, in denen gestandene Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aktiv sind, gelandet. Sie verdeutlicht seine Inkompetenz oder gar Böswilligkeit in der Flüchtlingsfrage. Für seine Böswilligkeit spricht, dass er als ehemaliger Aussenminister weiß, dass auch die Europäische Flüchtlingskonvention einen Individualanspruch auf Asyl begründet. Will er die etwa, wie die Italien regierende Rechtsextremistin Giorgia Meloni, kündigen? Folgt man Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in “Monitor”, müsste Deutschland dazu die Europäische Menschenrechtskonvention aufkündigen und bezeichnet das Ansinnen eindeutig als: “Stammtisch”.

Der Bluff mit der Hilfe vor Ort

Weiter fabuliert Gabriel: “ Auf Dauer aber könnte eine kluge neue Flüchtlingspolitik der alten sogar in moralischer Hinsicht überlegen sein, wenn sie vor Ort stärker den wahrhaft Bedürftigen hilft. Zugleich können wir auf diese Art im Inland Menschen zurückholen in die politische Mitte.” Leider spricht die Geschichte der Asylrechtsdiskussion seit den 90er Jahren genau gegen dieses Trugbild. Seit Jahren behaupten wechselnde Bundesregierungen, Fluchtursachenbekämpfung zu betreiben. Angela Merkel reiste in die Sahel-Zone, genau in die Länder, wie Mali, Niger und  Burkina Faso, die nun von Militärputschen beherrscht oder bedroht sind. Fachleute der Migrantionsforschung bestreiten, dass es jemals einen ernsthaften Versuch der Fluchtursachenbekämpfung gegeben hätte.

Denn dieser Plan hätte bedeutet, dass in Nordafrika und der Sahel-Zone wie auch immer ein Projekt entstünde, das etwa die als humanitär deklarierten EU-Exporte von Hühnerfleisch und IT-Schrott ebenso hätte unterbinden müssen, wie die korrupten Folgen von Entwicklungsgeldern, die in den Taschen der korrupten Regime versickert sind. Sigmar Gabriel als ehemaliger Aussenmister weiss das besser, als mancher andere. Er ist deshalb kein Phantast, sondern – viel schlimmer – Überzeugungstäter. Da war Friedhelm Farthmann, SPD-Fraktionsvorsitzender im NRW-Landtag 1991 ehrlicher: “An Kopf und Kragen packen und ‘raus damit” sagte der damals über Armutsflüchtlinge.

Gabriel bedient rechtsextreme Muster und Asyl-Lügen

Ebenso wie die CDU behauptet Gabriel indirekt, dass Europa von Flüchtlingen überrannt werde – nicht mit Worten, sondern durch seine Haltung. Es gibt eine Körpersprache demokratischer Politiker, die den Rechtsextremisten der AfD recht gibt. Indem sie unterstellen, dass es zu-viele Flüchtlinge gebe, obwohl das objektiv nicht stimmt, und indem sie zum Beispiel behaupten, die Anerkennungsquoten lägen bei 2-3%, dabei liegen sie bei afghanischen oder syrischen Flüchtlingen bei 76-100%. Es ist schon erstaunlich, dass dieser heimliche Konsens der Flüchtlingsabschreckung, Abschottung und des Nichtstun gegen die Ursachen der Armuts- und Umweltflucht von SPD über FDP und CDU bis AfD Anhänger findet und es schafft, dass sich die öffentliche Meinungsbildung sie als “realistisch” einschätzt, während Politiker der Linken und Grünen, die es wagen, dieser Märchenerzählung zu widersprechen, bestenfalls als “Gutmenschen” diffamiert werden.

Das ist die beunruhigendste Spielart von “Zeitenwende” kurz vor dem 75. Geburtstag des Grundgesetzes.


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Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Manfred Klimanski

    Lieber Roland, bin mit allem einverstanden. Natürlich folgt ein Aber. Aber Gabriel ist Lehrer im höheren Schuldienst und nicht Jurist. Auch wenn das nichts ändert an dem gefährlichen Quatsch, den er wieder mal aus der Hüfte geschossen hat.

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