1. September: Weltfriedenstag in einer Welt ohne Frieden – “War on terror”, Ukraine, Russland und zur deutschen Position à la Frau Baerbock

Am 1. September 1939 überfiel Nazi-Deutschland Polen. In Erinnerung an diesen verhängnisvollen Schritt, der den Zweiten Weltkrieg einläutete, wurde der 1. September in Deutschland zum Weltfriedenstag, zunächst in der DDR und wenig später auch in der alten Bundesrepublik. Wir haben nichts zu feiern an diesem Tag, wohl aber ein Versprechen zu erneuern: Niemals wieder soll von Deutschland Krieg ausgehen, oder, wie es in der Präambel zum Grundgesetz heißt: Wir sind „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen.“

Wie viele Tage des Friedens gab es eigentlich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges? In einer Veröffentlichung im Jahr 1987 hieß es, es wären nur 26 Tage gewesen, in denen es nicht irgendeine Form der bewaffneten Auseinandersetzung gab (und die kalkulierte den Kalten Krieg nicht ein). Und auch nach dem Ende des Kalten Krieges ging es kriegerisch weiter (vgl. Fußnote 6). Bis zum heutigen Tag ist der Weltfrieden nicht gesichert. Je nachdem, wie man Krieg definiert, variiert die Zahl der Staaten, die sich augenblicklich im Kriegszustand befinden, zwischen 14 und 32.

In Somalia dauert das Unheil nun schon seit 1991, in Afghanistan seit 2001, im Irak seit 2003, in Libyen und Syrien seit 2011.

Seit dem 11. September 2001 führen die USA den weltweiten Krieg gegen den Terror. Im Jahr 2018 warnte die Stiftung Wissenschaft und Politik davor, dass dieser Krieg nur noch kaum auf Gegenwehr der Europäer stößt, sich normalisierte und sehr schwer zu beenden ist. Die Veröffentlichung machte gleichzeitig darauf aufmerksam, dass dadurch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgehöhlt werden, Menschen- und Minderheitenrechte permanent verletzt (Veröffentlichung in Englisch).

Eine der Konsequenzen des US-Kriegs gegen den Terror bestand in einem massiven öffentlichen Ansehensverfall der USA. Gallup fragte 2013 Teilnehmer aus 65 Staaten, von welchem Land die größte Gefahr für den Weltfrieden ausginge, und 24% gaben die USA an. Pew machte ähnliche Umfragen und befragte Menschen in 38 Ländern, welches Land sie als größte Bedrohung wahrnehmen würden. Auch hier ernteten die USA einen Spitzenplatz mit 39% 2017, noch vor China und Russland (zum Vergleich: 2013: 25%). Bis heute kann die Biden-Administration unter dem Kriegsmandat agieren, das 2001 im US-Kongress verabschiedet wurde, mit nur einer Gegenstimme.

“As long as it takes”

Das alles ist heute vom Fokus auf den Krieg in der Ukraine überdeckt, den Russland 2022 völkerrechtswidrig startete. Schlimmer noch. Für diesen Krieg gilt nach der westlichen Ablehnung einer Verhandlungslösung im April 2022 das Motto: Unsere Unterstützung der Ukraine ist andauernd, solange es eben dauert („as long as it takes“) Wie lange es dauert, weiß keiner. Wie es enden soll, auch nicht. Welche Eskalationsstufen noch folgen, ist ebenfalls unklar. Der große Krieg, der im Kalten Krieg vermieden werden konnte, ist nicht vom Tisch.

Nach den Vorstellungen der Ukraine will sie ihr Territorium vollständig zurückerobern und ist zu Verhandlungen mit einem Russland unter Putins Führung nicht bereit. Darin wird sie von der NATO und der EU unterstützt. Glaubt man Präsident Selenskyj ist die Ukraine im nächsten Jahr der Sieger und NATO-Mitglied. Nach Auffassung des US-Präsidenten hat Russland den Krieg schon verloren. Nach Auffassung seines Sicherheitsberaters Sullivan ist der Krieg „von Natur aus unvorhersehbar“. Gleichzeitig gab er seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Ukraine die Mittel und die Tapferkeit hat, Fortschritte auf dem Schlachtfeld zu erzielen. Nach Jake Sullivan hat der Krieg ein Eigenleben, in das man besser nicht hineinpfuscht, aber nach Kräften unterstützt.

Drei Fettnäpfchen

Die deutsche Außenministerin stellte offenbar schon im Juni fest, dass die Sanktionen gegen Russland nicht wirken und gab als Begründung an: „weil eben die Logiken von Demokratien nicht in Autokratien greifen“. Und darauf wiederum folgte: “Wir haben erlebt, dass mit rationalen Entscheidungen, rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden ist.”

Damit trat Frau Baerbock gleich dreimal ins politische Fettnäpfchen. Selbstverständlich wirken die Sanktionen, allerdings anders als von ihr erwartet (Das wird Russland ruinieren): Sie schlagen auf uns zurück, aber sie treffen auch Unbeteiligte am Konflikt. So wie man anderswo auch weiß, dass diese Sanktionen nicht vom Völkerrecht gedeckt sind, und den globalen Handel unterminieren. Die westlichen Sanktionen gegen Russland waren nie logisch, sondern eine gigantische Fehlkalkulation, in die der Westen offenbar viel Zeit investierte, die er besser auf Konfliktentschärfung verwandt hätte.

Der letzte Satz der Frau Bundesaußenministerin ist allerdings atemberaubend:

Der Krieg ist nicht zu beenden, nicht mit rationalen Entscheidungen und rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft. In welche Kategorie fallen dann die Friedensinitiativen bzw. -überlegungen von China, seitens afrikanischer Staaten oder etwa Brasiliens? Sind sie nicht rational oder ihre Urheber nicht zivilisiert? Und wie verhielt sich das hinsichtlich der Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die die Türkei begleitete, aber auch der ehemalige israelische Ministerpräsident? Diese Verhandlungen hatten ein paraphiertes Dokument zur Folge. Es enthielt unter anderem ein ukrainisches Neutralitätsversprechen (Putin machte das beim Besuch der afrikanischen Delegation öffentlich).

Irrational schien das nicht. Es passte nur nicht in die Absprachen zwischen „zivilisierten“ Staaten, denn umsonst betont der US-Sicherheitsberater nicht unentwegt, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nicht verhandelbar wäre, was nur unter der Voraussetzung als rational angesehen werden kann, dass der Konflikt mit Moskau auf keinen Fall politisch beigelegt werden darf. Offenbar regiert der Glaube, der russische Bär sei wie ein tönernes Gefäß, das nur noch den einen fatalen Schlag braucht, um in tausend Scherben zu zerschellen.

Fehleinschätzungen und Fehlinformationen haben eine so lange Geschichte, wenn es um Russland geht. Konfliktentschärfung stand und steht nicht auf der westlichen Agenda. Die USA bestimmen, die westliche Herde läuft hinterher, das bockige Russland wird immer bockiger, und am Ende griff es zum Krieg.

Den Preis dafür bezahlen die Ukrainer.

Nicht weil sie es so wollten. Mit der Wahl von Selenskyj (auch ohne die Stimmen der Krim und des Donbass) entschlossen sie sich 2019 zum Frieden mit Russland. Nur der stand auch nicht auf dem westlichen Plan. Diese Stimmungslage hat die russische Aggression unzweifelhaft verändert, denn es sind die Ukrainer, die bluten und sterben. Wir nicht. Wir lassen es geschehen, das die nunmehr „pro-westliche Ukraine leidet, und reden uns ein, sie wird siegen. Zwischendurch beklagen US-Medien, die Ukraine fürchteten sich vor menschlichen Verlusten („casuality adverse“)
Dabei habe man doch, so die Washington Post, das in vorbereitenden Planspielen der Gegenoffensive eingepreist (irgendwie muss man ja durch die russischen Minenfelder kommen).

Niemand fragt sich, wieso die russische Seite ungestört ihre Befestigungslinien anlegen konnte, zu denen die ukrainische Armee bis heute nicht vorgedrungen ist. Aber die ukrainischen Kriegs-Verluste sind eine Art geheime Kommandosache, nach ukrainischer Lesart sterben vor allem Russen, und nach US-Lesart sind (Gott sei Dank) keine US-Bürger betroffen. So scheint beinah alles in Ordnung. Oder, um Nicki Haley, frühere US-UN-Botschafterin unter Trump und heutige republikanische Präsidentschaftskandidatin zu zitieren: „Die Ukraine ist unsere erste Verteidigungslinie. Ein Sieg für Russland ist ein Sieg für China.“

Und schon ist der nächste Feind im Visier, spitzen sich Konflikte zu, so als wären sie Naturgewalten und nicht das Ergebnis menschlichen politischen Handelns. All das erinnert mich an die mahnende Rede von Barbara Lee 2001 im US-Kongress, die im Augenblick des Schocks aufgrund des Terroranschlags vom 11. September für Innehalten und Besinnung stand und dafür warb, dass sichergestellt werden muss, dass die Dinge nicht außer Kontrolle geraten. Damals schloss sie ihre Rede mit einer Referenz zum morgendlichen Gottesdienst

„Lasst uns durch unser Handeln nicht zu dem Bösen werden, das wir beklagen.“

Die damalige einsame Rede der Frau Lee war der äußerste Ausdruck von Zivilisiertheit und Rationalität. Man hat sie gleichwohl für eine Vaterlandsverräterin gehalten.

Wie halten wir es nun mit dem Ukraine-Krieg, in dem wir zu Komplizen wurden, weil wir ihn weder verhinderten und auch nicht beenden wollen, obwohl inzwischen in der Ukraine die Friedhöfe aus allen Nähten platzen?

Der 1. September dieses Jahres ist ein guter Moment, um sich ganz rational zu fragen: Wie weit wollen wir es noch treiben mit der Befeuerung dieses Kriegs? Warum beseelt uns nicht der Frieden? Wohin ist der Willen zum Frieden entschwunden?

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.