Rentenpolitik: Die Markt-konforme Argumentation des Thomas Mayer und die Wirklichkeit
I.
Desinformation und Irreführung gehören zum Handwerkszeug aller Geheimdienste. Sie haben darauf aber kein Monopol. Bei öffentlichen Äusserungen und Stellungnahmen ist man gut beraten, immer zu fragen, welche Interessen und welches Weltbild die Rednerin oder der Autor vertreten. „Cui bono?“, das ist immer noch der beste Lackmustest.
Das gilt besonders für ökonomische und soziale Themen, bei denen es um viel Geld geht. Die Rentenversicherung und die Rentenpolitik sind ein besonders prominentes Beispiel dafür. Seit Jahrzehnten versuchen Versicherungs- und Finanzwirtschaft die gesetzliche Rente kaputt zu reden und kaputt zu machen. Sie wollen das auf die Solidarität der Generationen gebaute Umlagesystem durch sogenannte Kapitaldeckung ersetzen, weil sie damit viel Geld verdienen können. Unterstützung bekommen sie dafür von Marktradikalen in der Politik und finanzmarktgläubigen Professoren.
Die Riester-Rente, einst als Wundermittel gepriesen, hat sich als teurer Flop erwiesen, an der vor allem Versicherungs-und Finanzwirtschaft verdienen, kräftig subventioniert aus Steuermitteln. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung liegen die Verwaltungskosten bei 1,5 Prozent. Nach einer Auswertung der Bürgerbewegung „Finanzwende“ aus dem Jahr 2020 fliesst bei einem durchschnittlichen Riester-Vertrag fast ein Viertel der Beiträge in Kosten für Abschluss und Vertrieb, für Verwaltung und Gebühren. Die Rentenversicherung arbeitet viel sparsamer als alle Finanzdienstleister. Gewinne müssen bezahlt werden.
II.
In den vergangenen Monaten haben sich die Attacken auf die gesetzliche Rentenversicherung wieder einmal verstärkt. Ein aktuelles Beispiel dafür, mit welchen Methoden da gearbeitet wird, ist ein Artikel von Thomas Mayer in der April-Ausgabe von „Cicero“. Mayer war seit 1990 zuerst bei Salomon Brothers, dann bei Goldman Sachs und der Deutschen Bank in London. Von 2010 bis 2012 war er Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Bis heute ist er Chef des von ihm gegründeten „Flossbach von Storch Research Institute“ der Vermögensverwaltung von Storch in Köln.
Unter der Überschrift „Die Ruhe vor dem Crash“ prophezeit er den Kollaps der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Text strotzt vor falschen Behauptungen. An drei Beispielen möchte ich die Methode deutlich machen.
III.
Mayer schreibt: Die in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten belasteten „die Bundeskasse, da die Versicherungsbeiträge nicht ausreichen, um die Zahlungen an die wachsende Schar der Rentner zu finanzieren. Zurzeit schiesst die Bundeskasse der Rentenversicherung um die 110 Milliarden Euro im Jahr zu,…“
Das ist falsch.
Tatsächlich gibt es für die wachsenden Zahlungen aus dem Bundeshaushalt andere Gründe. Der Bundesrechnungshof hat darauf in „Prüfungsbemerkungen“ vom 7. Dezember 2023 hingewiesen. Dort heisst es:
„Der Bund zahlte im Jahr 2022 rund 108 Milliarden Euro an die gesetzliche Rentenversicherung. Davon waren 81 Milliarden Bundeszuschüsse. Der Rest entfiel auf Beitragszahlungen, Erstattungen, den Defizitausgleich für die knappschaftliche Rentenversicherung und sonstige Leistungen.“
Die „Bundeszuschüsse“ liegen also bei 81 Milliarden Euro. Wofür wird dieses Geld gebraucht? Nicht für die normalen Rentenzahlungen, sondern für versicherungsfremde Leistungen. Was ist darunter zu verstehen? Versicherungsfremde Leistungen werden von der Rentenversicherung aufgrund politischer Entscheidungen bezahlt. Dazu gehören z.B. Rentenansprüche aufgrund von Kindererziehungszeiten für Mütter, die nie einen Pfennig oder cent in die Rentenversicherung einbezahlt haben, oder der Anspruch auf eine Grundrente aufgrund langjährig niedrigen Einkommens.
Die Rentenversicherung berechnet die Höhe der versicherungsfremden Leistungen in unregelmässigen Abständen in zwei Varianten. Für das Jahr 2020 kommt sie nach den „Prüfungsbemerkungen“ des Bundesrechnungshof zu folgendem Ergebnis: „Nach der engen Abgrenzung beliefen sich die versicherungsfremden Leistungen auf 63,3 Milliarden Euro. Gemäss der erweiterten Abgrenzung machten sie 112,4 Milliarden Euro aus. Die Bundeszuschüsse betrugen im Jahr 2020 insgesamt 75,3 Milliarden Euro und lagen damit innerhalb der Bandbreite zwischen der engen und der erweiterten Abgrenzung.“
Bei diesen Zahlungen aus dem Bundeshalt an die Rentenversicherung handelt es sich also um Gelder, die eigentlich aus Steuermitteln bezahlt werden müssten. Der Bundesrechnungshof lässt daran keinen Zeifel: „Nach einhelliger Auffassung sollten aber nicht die Beitragszahlenden, sondern alle Steuerzahlenden, also die gesamte Gesellschaft die versicherungsfremden Leistungen finanzieren.“
Das heisst: Die Darstellung von Mayer stellt die Dinge auf den Kopf. Die über 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshalt an die Rentenversicherung dienen nicht dazu, die durch Beiträge erworbenen Renten zu finanzieren, sondern zusätzliche Leistungen, die der Gesetzgeber beschlossen hat. Die Rentenversicherung wird dafür benutzt, manche sagen missbraucht, um Leistungen zu finanzieren, die aus dem regulären Bundeshaushalt bezahlt werden müssten.
IV.
Über die Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt zur Zeit der Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 1957 schreibt Mayer:
„Zu dieser Zeit profitierte Deutschland von starken Wirtschaftswachstum, dem Wirtschaftswunder. Die Bevölkerung war noch jung und die Erwerbsquote hoch.“
Für die Rentenversicherung ist die Höhe der Erwerbsquote von besonderer Bedeutung.
Mayer erweckt den Eindruck, damals sei die Erwerbsquote hoch und heute niedrig oder jedenfalls niedriger.
Das ist falsch.
1960 lag die Erwerbsquote in Deutschland bei 67,6 Prozent. 2010 lag sie bei 75,7 Prozent und 2020 bei 78,3 Prozent. Die Erwerbsquote ist in Deutschland heute also sehr viel höher als zur Zeit der Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung.
Das zeigen auch die absoluten Zahlen. 1960 gab es in Deutschland insgesamt 26,2 Millionen Erwerbstätige. 1991 waren es in der alten Bundesrepublik 31,2 Millionen, fünf Millionen Erwerbstätige mehr als 1960.
In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen stark gestiegen. Von 39,9 Millionen im Jahr 2000 über 41 Millionen im Jahr 2010, 44,9 Millionen 2020 bis auf 45,9 Millionen im Jahr 2023. Trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage steigt die Zahl der Erwerbstätigen auch im Jahr 2024 weiter.
In den gut zwanzig Jahren von 1991 bis 2023 ist die Zahl der Erwerbstätigen also um 18,2 Prozent gestiegen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die Beiträge zur Rentenversicherung zahlen, ist zwischen 2005 und 2023 von 21,8 Millionen auf 24,3 Millionen gestiegen, also um 11,5 Prozent. All das kommt bei Herrn Mayer nicht vor.
V.
Mayer schreibt: „Zur Verwaltung seiner umfangreichen Sozialprogramme und zum Management seiner zahllosen Eingriffe in die Wirtschaft braucht der Staat immer mehr Personal, das er der Wirtschaft entzieht. Aus produktiven Beschäftigten, die Güter und Dienstleistungen herstellen, werden Staatsbürokraten, die Gesetze und Regulierungen erzeugen und über deren Einhaltung wachen.“
Das ist falsch.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren 2022 insgesamt rund 5,2 Millionen Menschen in Deutschland im öffentlichen Dienst beschäftigt. Nur ein kleiner Teil davon kümmert sich um “Sozialprogramme und „Management“. Die meisten arbeiten in Schulen und Kindertageseinrichtungen, in Hochschulen, Forschungseinrichtungen, bei Polizei und Bundeswehr.
Über eine Million Menschen arbeiteten an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen.
710.000 Menschen arbeiteten im Bereich „Öffentliche Sicherheit und Ordnung, Rechtsschutz“, 620.000 an Hochschulen, 290.000 im Bereich Gesundheit, Umwelt, Sport und Erholung, 240.000 bei der Bundeswehr und 200.000 in der Finanzverwaltung. In allen Bereichen der sozialen Sicherung arbeiteten zusammen 900.000 Menschen.
Besonders hohe Zuwächse gab es in den vergangenen Jahren bei Schulen und Kindertageseinrichtungen, und trotzdem fehlen da zehntausende Erzieher, Lehrerinnen und Sozialarbeiter für frühe Förderung und gute Bildung für alle Kinder.
VI.
Diese drei Beispiele zeigen, dass Herr Mayer ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit hat. Er scheint nach dem Motto vorzugehen: Wenn die Tatsachen nicht zu meinen Vorurteilen oder zu meinen wirtschaftlichen Vorteilen passen, umso schlimmer für die Tatsachen. Was nicht passt, lässt er weg, verbiegt oder verfälscht er.
Mit dieser Methode steht er nicht alleine, aber er treibt es schon besonders dreist.
Die Zahlen, Daten und Fakten, die seine Behauptungen widerlegen, lassen sich mit jeder Suchmaschine im Internet ohne grossen Aufwand finden. Diese Mühe hat sich Thomas Mayer offenbar nicht gemacht. Vielleicht ist er schlicht Opfer seiner eigenen Propaganda geworden und hat deshalb die Wirklichkeit aus dem Blick verloren.
Ob Ignoranz oder Propaganda: Beides keine guten Voraussetzungen für den Gründungsdirektor eines „Research Institute“. Da scheint es gar nicht um „research“ zu gehen, sondern um die Verbreitung von Argumenten im Interesse der Finanzwirtschaft, die damit viel Geld verdient. Die Argumentation muss nicht richtig, sie muss Markt-konform sein. Diesem Anspruch wird Herr Mayer gerecht.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog der Republik, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Einige Links wurden nachträglich eingefügt. Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz.
Danke für den exzellenten Artikel von Herrn Habermann 🙏