Gegen das Sterbenlassen vor der Festung Europa – Seenotrettung auf dem Mittelmeer mit Sea-Watch

Mehr als 30000 Menschen sind nach ihrem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, tot oder vermisst, so die offizielle Zahl der UN-Organisation IOM für die letzten zehn Jahre. Die Dunkelziffer kennt niemand, sie liegt auf dem Meeresgrund. Noch schlimmer sähe es aus ohne die verschiedenen Organisationen, die mit eigenen Schiffen, Freiwilligen und Finanzierung durch Spendengelder Seenotrettung betreiben. Thomas Scheible ist seit 2016 bei Sea-Watch. Er war auf dem Meer als Einsatzbootfahrer und Koch aktiv, übernimmt auch an Land verschiedene Aufgaben und hat uns seine Berichte zur Verfügung gestellt.

Bei meinen Einsätzen auf der Sea-Watch 3 habe ich vieles erlebt. Ich habe Menschen sterben sehen, aber auch erfolgreichen Reanimierungen beigewohnt. Ich habe unter Tränen den leblosen Körper eines Kleinkindes in eine Tiefkühltruhe gebettet. Ich habe hunderte Kinder und Erwachsene lachen, singen, weinen, spielen und tanzen gesehen, die ohne dieses Rettungsschiff ihre Flucht über Europas tödlichste Grenze nicht überlebt hätten. Auf der Sea-Watch 3 habe ich Solidarität gelebt, mit dem Rauchen aufgehört, geküsst, geweint, geschrien und gelacht, mich verliebt, unfassbar viel gelernt, Freundschaften fürs Leben geschlossen, kiloweise selbstgemachte vegane Currywurst mit Pommes für die Crew produziert. Ich habe furchtbare Spuren von Folter und Gewalt an menschlichen Körpern gesehen, Menschen nach ihrer Rettung in Ohnmacht oder auf die Knie fallen sehen.

All dies ging mir durch den Kopf, als ich im Mai 2023 als letzter unserer Crew und mit Gänsehaut ein letztes Mal die Sea-Watch 3 über die Gangway verließ. Zuvor hatten wir in einer Werft in Gent, wo das Schiff dem Recycling zugeführt wird, in einer kleinen Zeremonie die Sea-Watch-Flagge vom Hauptmast eingeholt. Die Sea-Watch 3 ist über 50 Jahre alt und ihre Zertifikate laufen bald aus. Wegen des Zustands des Schiffes und zunehmend strengerer Regulierungen von Seiten der italienischen Behörden wäre es nicht mehr wirtschaftlich gewesen, die anstehenden Werftarbeiten umzusetzen. Deswegen haben wir uns schweren Herzens dazu veranlasst gesehen, die Sea-Watch 3 zu verschrotten.

Im Jahr 2017 übernahmen wir das Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“, seitdem hat es Beachtliches geleistet. Mit der Sea-Watch 3 konnten in über fünf Einsatzjahren 6000 Menschenleben gerettet werden. Viele mehr hätten gerettet werden können, hätten europäische Staaten das Schiff nicht insgesamt über 29 Monate unrechtmäßig und politisch motiviert festgehalten.

Von libyschen Milizen attackiert

Der erste meiner sechs Einsätze auf der Sea-Watch 3 war das schlimmste Ereignis meines Lebens. Bei einem Übergriff durch libysche Milizen während unserer Rettungsaktion ertrinken Menschen vor meinen Augen. Während der verzweifelten Versuche, so viele Menschen wie möglich zu retten, werden wir von der sogenannten Libyschen Küstenwache bedroht und attackiert. Überlebende werden von den Milizen drangsaliert und an Deck ihres Schiffes, ein Geschenk der italienischen Regierung, vor unseren Augen geschlagen und ausgepeitscht. Am Ende des Tages haben wir 59 traumatisierte Überlebende an Bord – und den Leichnam des zweijährigen Great in unserer Tiefkühltruhe. Auch viele andere Schutzsuchende mussten an diesem Tag die Begegnung mit Europas gewissenlosen Türstehern mit dem Leben bezahlen.

Zu erleben, was für Flüchtende auf dem Mittelmeer bittere Realität ist, macht fassungslos, traurig, wütend. Nie werde ich das Gefühl von Scham vergessen, als uns wochenlang ein sicherer Hafen verwehrt wurde und wir unsere Crew aus Ehrenamtlichen austauschen mussten. Während wir an Land gebracht und von neuen Crewmitgliedern abgelöst wurden, mussten unsere Gäste an Bord zurückbleiben, geschwächt und mit schwindender Hoffnung. Es sind Hautfarbe, Herkunft und Pass, die entscheiden, wer an Land gehen darf – und wen Europa ertrinken lässt.

Kurz zuvor hatten wir auf dem Achterdeck zusammen Heiligabend verbracht. Menschen aus 17 Nationen, die gemeinsam aßen, sangen, tanzten. Es sind auch diese Momente, warum ich immer noch dabei bin, weitermache. Die Sea-Watch 3 war ein Flaggschiff im Kampf gegen das Sterbenlassen und die Menschenverachtung im Mittelmeer. Aber eben auch: eine Insel der Menschlichkeit, ein Ort des Respekts und der Würde für Menschen auf der Flucht, die hier „Gäste“ genannt und auch als solche behandelt wurden. Jetzt ist mit der Sea-Watch 5 ein geeigneteres und, was den Dieselverbrauch anbelangt, deutlich sparsameres Rettungsschiff am Start.

Kein sicherer Hafen

Bei einem anderen Einsatz 2020 waren wir mit 119 aus Seenot Geretteten an Bord der Sea-Watch 3 bereits sieben Tage auf See, bis endlich ein sicherer Hafen in Sicht war. Warum dieser auf dem italienischen Festland liegen musste, etwa 40 Stunden Fahrtzeit weiter als Malta, Sizilien oder Lampedusa, und warum wir fast eine Woche darauf warten mussten, weiß der Henker.

Unsere Gäste liegen dicht an dicht unter Plastikplanen auf den Decks, ihre Decken und Klamotten sind immer noch nass von dem Hagelsturm, der vor einigen Nächten über uns hinweggefegt ist. Die winterliche See wird rauer, Menschen fragen uns nach Kotztüten und Unterwäsche, der Schlafmangel zehrt an unserer 22-köpfigen Crew, die im Schichtdienst rotiert. Überall sind Menschen, die Geräuschkulisse ähnelt der eines Marktplatzes im Orient. Zwischendrin wuselt die Rasselbande, ein knappes Dutzend Kinder, deren Familien in einer Nussschale aus Kunststoff vor dem libyschen Bürgerkriegschaos geflohen sind, johlend über die Decks. Seifenblasen werden vom Fahrtwind aufgewirbelt, während mir einer unserer Gäste die verschiedensten Foltermethoden aufzählt, denen er in den libyschen Lagern des Grauens ausgesetzt war. Ein nordafrikanischer Chirurg erklärt mir, warum er es vorgezogen hat, mit seiner Familie die Flucht über das Meer zu riskieren, statt in Libyen auf eine Eskalation der Konflikte durch Erdogans Truppen zu warten. Mal wieder ist niemand hier an Bord, der in Erwartung von schicken Smartphones und großzügigen Sozialwohnungen die oft tödliche Flucht angetreten hat, sondern nur Menschen, die ums blanke Überleben kämpfen.

Seenotrettung auf einsamem Posten

Wie immer in meinen Einsätzen möchte ich trotz des ganzen Stresses und der Anstrengungen an keinem anderen Ort sein als genau hier auf diesem Schiff und das einzig Richtige tun: helfen, wo ich kann, mit dem, was ich tun kann.

Es ist fast schon erschreckend, wie routiniert wir hier nach rund fünf Jahren Sea-Watch abbuckeln, dass die Politik sich einen Scheiß für die Situation der Menschen bei uns an Bord interessiert. Wie wir freitags völlig selbstverständlich feststellen, dass sich vor Montag eh nichts tun wird, weil ja schließlich Wochenende ist und weil in jeder Pommesbude mehr bewegt wird als in den Büros der EU-Bürokratie, wenn es um Nothilfe für die Gestrandeten der menschenverachtenden europäischen Migrationspolitik geht. Wie wir sofort den Kurs ändern, obwohl die Decks vollgepackt mit Gästen sind, wenn wir von einem Notfall in acht Stunden Entfernung erfahren und mit Volldampf dorthin fahren. Schließlich ist uns völlig klar, dass ein maltesisches Kriegsschiff und diverse Handelsschiffe, die in unmittelbarer Nähe der Notfallposition sind, auf gar keinen Fall eingreifen werden: Seenotrettung ist in diesen Breitengraden nicht mehr angesagt, wenn die Betroffenen zufällig im falschen Land geboren wurden. Wie wir nur lakonisch mit den Schultern zucken, wenn wir dort mitten in der Nacht ankommen und nach angestrengter Suche mit Ferngläsern tatsächlich ein fast auseinanderfallendes Schlauchboot finden, dessen verzweifelte Insassen mit billigsten Taschenlampen Lichtsignale geben, während wir, teilweise noch im Halbschlaf, in Windeseile unsere beiden Einsatzboote ins Wasser kranen und zeitgleich besagtes Kriegsschiff in Sichtweite friedlich auf den Wellen schaukeln sehen, das einfach nicht auf die Signale oder unsere Funksprüche reagiert.

Das Boot war zwei Tage unterwegs, bis der Motor ausgefallen war. Die ungefähre Position war bekannt, mehrere Schiffe sind tatenlos daran vorbeigefahren. Das ist der Alltag an Europas tödlichster Grenze, dem Mittelmeer. Hier wird das Sterben nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern mit allen Mitteln forciert und wissentlich vorangetrieben.

Auch wenn es sehr kräftezehrend ist, die immer wieder neu in den Weg gelegten Steine wegzuräumen oder zu umschiffen, ist es ein gutes Gefühl, Solidarität zu zeigen und Widerstand zu leisten. Denn Sea-Watch war nicht nur an der Rettung von über 45000 Menschen beteiligt, sondern legt immer wieder den Finger in die Wunde der menschenverachtenden, mörderischen Außenpolitik der Europäischen Union.

Auf YouTube gibt es einen Filmbericht der New York Times über den Angriff der libyschen Milizen am 6. November 2017: How Europe Outsources Migrant Suffering at Sea.

https://sea-watch.org/

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 479 Okt. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Thomas Scheible / Informationsstelle Lateinamerika:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.