(Befindlichkeitsstatement)

Wir nehmen den Verfasser dieses Textes mal in Augenschein:
Das Haar ist weiß bis gräulich und vor allem schütter. Die Kopfhaut scheint durch. Der Blick durch die Sehhilfe ist häufig abwesend oder verzweifelt, vor allem, wenn er die Sehhilfe, die er sich auf die Stirn geschoben hat, in der ganzen Wohnung sucht. In den Nasenlöchern befindet sich die Nasenbrille – zwei Düsen pusten Atemhilfe aus dem Sauerstoffgerät ins Riechorgan. Am Nasensteg hängt gern ein Tropfen, vermutlich Gehirnflüssigkeit. Wenn er den Tropfen wegputzen will, muss er die Nasenbrille bis an die Nasenwurzel hochschieben. Dadurch verrutscht die Sehhilfe. Dann kann er sie nicht suchen.

Er hat einen respektablen Tatterich. Der erleichtert nicht gerade das Anziehen der Stützstrümpfe, und auch für das gesittete Benehmen bei Tisch ist das Zittern der Hände keine große Hilfe. Folglich isst er am liebsten mit dem Löffel. Wenn er’s mit herkömmlichen Mitteln versucht, wird das Essen schnell mal von der Gabel auf’s Tischtuch oder an die Wand geschleudert.

Beim Gehen benutzt er, wenn er ihn nicht vergisst, einen Krückstock zur Bekämpfung seiner Gleichgewichtsstörungen. Meistens lässt er ihn aber irgendwo stehen oder liegen, so dass er nach fünfzig Metern Fußweg umkehren und ihn holen muss. Er vergisst eben nicht, was er am liebsten vergessen würde … Aber die Krücke nicht im öffentlichen Personenverkehr zu vergessen, das setzt sehr oft die Aufmerksamkeit anderer Passagiere voraus.

Keinen Grund, mit ihm unzufrieden zu sein, bietet das Gebiss. Die Zähne sind gepflegt, fest verwurzelt und nicht rausnehmbar. Und, um dem allgemein großen Sicherheitsbedürfnis nachzukommen: im Schrank liegen die pissdichten Unterhosen, für alle Fälle. Er hofft, den Zeitpunkt, sie anzuziehen, nicht zu verpassen…

Seit wenigen Tagen hat er nun auch noch ein Hörgerät. Das wurde nötig, weil er – horribile dictu – nur noch raten konnte, was sein Gesprächspartner gerade gesagt hatte. Dadurch sind große Veränderungen in sein Leben getreten: Die Umweltgeräusche sind meistens viel zu laut, zu schrill oder gar nicht zu identifizieren, aber der Ton des Fernsehgerätes ist wahrnehmbar, auch wenn die Synchronisation noch so nuschelig und der Musiksound noch so dilettantisch gemischt ist. Immerhin – um Musik zu hören, braucht er nun nicht mehr die ihn komplett abschottenden Kopfhörer, und wenn er mal was sagt, hört er sich sogar selbst – ein bisschen blechern, aber laut. Alles Hören wird über das Handy gesteuert, und das bietet, wie man schon lange weiß, ein Maximum an Möglichkeiten, sich Probleme aufzuladen.

Sein zur Zeit meist umkämpftes Krisengebiet ist die Region hinter seinen Ohren: Ohgottohgottohgott – wie gern hätte er raumgreifende Segelohren! Ohr ohne Raum – ein Albtraum! Das hat der Schöpfer aller Dinge nicht bedacht – der Raum hinter den Ohren muss doch groß genug sein, um alles unterbringen zu können, was einem Greis ein menschenähnliches Leben ermöglicht: die Bügel der Brille, die Hörgeräte und den Schlauch des Sauerstoffgerätes. Jetzt ist die Situation so:

Wenn er, beispielsweise in einem Restaurant, die Sehhilfe abnimmt, weil die Gläser beschlagen sind, er aber dringend den Weg zur Toilette finden muss, verschwinden auch Schlauch und Hörgeräte von ihrem Platz hinter den Ohren. Das Sauerstoffgerät fängt an zu piepen, weil die Sauerstoffbrille nicht mehr in den Nasenlöchern steckt, sondern irgendwo in Kniehöhe baumelt, das Hörgerät links kann er wegen des Tatterichs, das Hörgerät rechts wegen des Krückstocks nicht fangen, beide fallen runter, der Sauerstoffschlauch legt sich würgend um seinen Hals, er kann nicht sehen, wo die Hörgeräte liegen, es knirscht, weil er auf eins raufgetreten ist, der Krückstock entgleitet der zitternden Hand, und dann stößt er mit dem Kopf an die Lampe über dem Tisch, weil er ohne Brille nicht auch noch nach obern schauen kann. Blind, wie er ist, kickt er das andere Hörgerät unter die Zentralheizung, und die Gleichgewichtsstörungen kommen ins Spiel: Taumelnd wirft er den Stuhl um, auf dem er das Sauerstoffgerät abgestellt hatte, und dann fällt ihm ein, dass er nicht die richtigen Unterhosen anhat – es reicht, er fühlt sich bestätigt: Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion. Trotzdem: Das Zusammenspiel all seiner Hilfsaggregate mit den anderen pharmakologischen Errungenschaften wie diversen Pillen, Inhalatoren und dem Gymnastikband lässt ihn frohgemut seinem hundertfünfzigsten Geburtstag entgegentapern. Klar, die Synapsen arbeiten etwas langsamer als früher, aber das merkt ja kaum jemand. Die alte Frau an seiner Seite hat übrigens nicht annähernd so schwere Probleme wie er, allerdings eins mehr als er: Ihn.

Und sonst? Naja, Trump geht ihm am Arsch vorbei, und auch Scholzhabecklindnermerz&Co ist ihm keine einzige Blähung wert…

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.

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