Es wurde Zeit in die Franz-Vorlesung zu eilen: „Komödie des Geldes.” „Jetzt mache ich einmal Literaturwissenschaft, wie ich sie verstehe,” hatte der graugelockte Professor Franz zu Anfang in einem der steil abfallenden, kleinen Hörsäle gesagt und fing sofort mit Lukács „Theorie des Romans“ an. Über Max Webers Aufsatz zur Konvertierbarkeit der menschlichen Arbeit in Geld, Karl Marxens Mehrwerttheorie und der Tatsache, dass dies alles bei den Griechen eben nicht griff, Mehrwerttheorie, Konvertierbarkeit der Arbeit in Geld, weil es in einem Sklavenhalterstaat, der Griechenland war, eben gar nicht erst einen Begriff von Mehrwert gab, kam Franz von Plautus, über Molière zu Sternheim: „Wir haben einen Eindruck, soll der einmal gesagt haben,” sagte Franz.
„Wunderbar,” dachte Alwys, „ich bin besitzlos, hier bin ich richtig.“ Alwys wollte sich von Franz prüfen lassen. Ein Abschluss musste jetzt irgendwie her. Franz mochte Musik, die großen Pianisten, Kempff, Pollini, Gould. In seiner Sprechstunde fühlte sich Alwys gut aufgehoben und verstanden.
Franz kam die Stufen hinunter, stellte sich ans Pult und eine kleine Flasche Wasser mit leichtem seitlichen Hüftknick unter die schiefe Fläche, auf der sein Skript lag. Alwys dachte: „Der meint, was er sagt, der verkörpert das wirklich selbst.“ Davor hatte er Respekt.
Nach der Vorlesung runter in die Stadt zum Discount. Alwys war dran mit Einkaufen. Es fehlte eigentlich alles im Kühlschrank. Bis auf den angebissenen Apfel von Claudius. Der hatte die Angewohnheit in einen Apfel zwei-, dreimal zu beißen und ihn dann in den Kühlschrank zu legen. Dort wurde er erst beige, dann braun und danach weich. Wer sich zuerst ekelte, warf ihn weg. Claudius ekelte sich nie.
Alwys hatte zwei Fahrradtaschen an sein Stadt-Bike mit 5-Gang-Kettenschaltung gehängt und einen Rucksack dabei.
„Mal gucken, wie’s Harry geht,” freute sich Alwys etwas hinterhältig auf dem Weg zum Discount. „Nicht mehr zu viel kaufen, muss nur bis Samstag reichen.“ Harry kam mit einer Palette Libby’s Fruchtsalat um die Ecke geschoben.
„Eyh Harry, did a vehicle come from somewhere out there?” sang Alwys den Anfang von Zappas „Inca Roads” mit piepsiger Kopfstimme nach. In dem Song ging es Däniken-like um die Vermutung, dass Außerirdische die Inkas besucht haben könnten, und es in den Anden einen Flugplatz gäbe, den wir für Tempelanlagen hielten.
Harry lenkte den Hubwagen in Alwys’ Richtung. Der sprang auf die Seite und die Palette krachte in ein freies Regal. Die Schrumpftüte aus durchsichtigem Plastik wurde dabei von einer Seitenstrebe des Regals aufgerissen. Mit lautem Scheppern wie ein Steinschlag schlugen die Konserven auf den harten Discounterboden auf und rollten ein Paar Meter den Gang entlang. Alwys suchte sich zwischen ihnen einen Weg und verschwand mit dem gewaltig pathetischen Schlussgesang „in old Jerusalem“ aus Genesis’ „Supper’s Ready“ um die Ecke.
Der Einkauf war rasch bewerkstelligt. „Samstag gibt’s dann schon bei Josh supper,” dachte Alwys recht schadenfroh über die Karambolage von Harry. Eine kurze Dürerfaltung befreite ihn gleichzeitig von dieser Todsünde.
An der Kasse ging es recht schnell. Erst das Schwere auflegen, Sixpack, Kartoffeln, Milch, dann das leichte, eine Stiege Bauerjoghurts als ein Relikt aus vergangener Zeit, Marmelade, abgepackter Aufschnitt und Käse, zum Schluss die Eier und Schaumküsse. „Küsst mich ja sonst keine,“ dachte Alwys.
„Einunddreißig Fünfzig,” hörte Alwys beim Einpacken in die Fahrradtaschen die Kassiererin sagen. Er zückte das plattgesessene Portemonnaie aus der Jeansgesäßtasche, wo er lieber eine Hand gespürt hätte, nahm dreißig Mark in einem Zwanziger und einem Zehnerschein heraus und zählte einsfünfzig ab. Die Scheine legte er auf das Transportband, das Kleingeld ließ er in die ausgestreckte blasse Hand der Kassiererin gleiten.
„Auf Wiedersehen,” hörte er von Ferne die Kassiererin sagen, während er die Fahrradtaschen zuschnürte.
„Was? Auf Wiedersehen.“
Am nächsten Tag ging es mit dem Rad in die Alte Welt. Alwys kannte bei den Grünen einen Beamten aus der Kreisverwaltung, der auch Gitarre spielte und ihn gut fand.
„Bei der nächsten Grünen Raupe im Wahlkampf, da spielst du mal, wenn die hier sind.“
Vorerst kamen durch seine Empfehlung mehrere Gitarrenstunden beim Volksbildungswerk für das städtische Hinterland zusammen. Alwys fuhr dafür an einem Tag in der Woche und bei gutem Wetter mit dem Rad eine ziemliche Steigung hinauf, um mit den ersten Äckern, Weinbergen und Obstfeldern seine Schüler zu erreichen. Wenn er denen was auf dem Instrument zeigen wollte, nahm er den. Die Ortschaften lagen wie am Schnürchen gezogen links und rechts eines halb ausgetrockneten Bächleins, das dem Tal den Namen gab. Nach dem Unterricht mit Kindern gab es zwei, drei Stunden in Privathäusern. In einem Ort gab es sogar einen Kunstverein, der regelmäßig in der Gemeindeverwaltung Ausstellungen organisierte und deren Vorsitzender, ein Physik- und Mathematiklehrer, ebenso regelmäßig zum Aquarellieren in die Provence fuhr. Seine Frau nahm Gitarrenunterricht und jedes Mal, wenn Alwys bei schönem Wetter mit dem Fahrrad vorfuhr, hatte das kinderlose Ehepaar dafür lobende Worte parat. Mit der Gattin wurde jede Woche fast das gleiche Stück geübt, was den Unterricht etwas mühsam machte, eine von dieser Misere ablenkende Unterhaltung wurde sofort begrüßt. Übergangslos gab es Tee, alles innerhalb von fünfundvierzig Minuten und dafür gab’s zwanzig Mark für Alwys pro Stunde.
Alwys wunderte sich über die rasant wachsenden Neubaugebiete. „Da, schon wieder ein Acker erschlossen. Die Bauern werden hier immer reicher.“ In den Neubaugebieten wohnten viele Medienschaffende aus den Sendeanstalten dieses Ballungsgebietes.
„Geht den Leuten gar nicht schlecht hier,” dachte sich Alwys beim Durchstreifen der Ortschaften. Eine Soziologin mit zwei kleinen Kindern, dickem Kombi und unglücklicher Ehe, vielleicht so eine Ehe, die in der Tageszeitung als “schlechte Beziehung” ausgemacht worden war, meinte einmal in der Stunde zu Alwys: „Mein Mann behandelt mich schlechter als seine Putzfrau.“
Alwys dachte nur: „Sieht die Putzfrau besser aus?” sagte aber dazu nichts. Nur soviel: „Die Gitarre muss auf dem linken Oberschenkel fast in der Waage aufliegen. Sie brauchen Ihre Kraft zum Greifen, nicht um das Instrument zu halten.“
Kurz vor Weihnachten hatte diese Frau, die Alwys gerne von ihren entzündeten Brustwarzen wegen des Stillens erzählte, Gebäck mitgebracht und ein paar Teelichter. Mitten in der Stunde, die in einem großen alten Klassenraum einer nicht mehr genutzten Dorfschule stattfand, stand sie auf und löschte das Licht. Das war Alwys unangenehm. Den Rest der Stunde verplauderte er mit ihr verlegen für zwanzig Mark Honorar.
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
Mein lieber Arthur Zupf,
ich habe eine zeitkritische Anmerkung: im Text heißt es “…zum Schluss die Eier und Schaumküsse.” Damals gab es keine Schaumküsse, es waren “Negerküsse” (oder auch “Mohrenköpfe”), das sollte korrigiert werden, sonst laufen wir Gefahr, dass der ganze Text nachträglich gegendert wird und auch kein Weihnachtsmann kommt, sondern ein Zipfelmännchen. Das würde das Werk entstellen.
Wie Du weisst, kenne ich Arthur Zupf nicht persönlich. Aber in diesem Blog gibt es keine Vorschriften und kein Verbot, sondern allein die Freiheit der Autor*inn*en. Das gilt auch für den Kollegen Zupf. Der*die Leser*in entscheidet selbst, wie sie*er das findet. Und der Weihnachtsmann kann hier gerne schreiben – aber er bekommt keinen Einlass in meine Wohnung.
Hallo Herr Wolf,
danke für den wichtigen Hinweis. Es stimmt: In dem ansonsten komplett gender- und postkolonialistischfreien Text ist hier ein Zugeständnis gemacht worden an unsere Gegenwart. Der “Negerkuss” ging mir dann doch nicht auf’s Papier. Im Kontext mit dem Inhalt des Romans, wie man/frau vlt. später bemerkt, liegen die Schäume bekanntlich nahe bei den Träume, was sich in dieser Syntax nun wieder nicht reimt und sprachlich aufgeht. So könnte dennoch von Schäumen geträumt werden, meinen Sie nicht?
Wünsche einen schönen Rest 2. Advent und bedanke mich für Ihr kritisches Interesse
Ihr
Arthur Zupf, der mit dem Wolf schreibt