Neues und Altes aus der Wutbürger-Fabrik
Laubbläser, über vier Stunden, gestern morgen. Ein Geräusch, das nicht einfach nur aggressiv macht, sondern Gewalt- und Mordfantasien mobilisiert. Wären hier die USA, wo auf jede*n Bürger*in mehrere Schusswaffen kommen, würde es erheblich mehr Tote geben. Die prekär beschäftigten Kollegen, die mit den Mordsmaschinen hantieren müssen, sind unschuldig. Es ist der Gesetzgeber (Immissionsschutzgesetz). Und die Kommune, die keine ausreichenden Ruhezeiten durchsetzt.
Die Argumente sind seit Jahrzehnten ausgetauscht. 2011/12 begann die Stadt Bonn ein neues Online-Beteiligungsverfahren unter dem Titel “Bonn packts an”. Eine fünfstellige Zahl an engagierten Bürger*inne*n machten mit. Selbstverständlich waren sie nicht repräsentativ. Sie sollten und konnten kein gesetzliches Organ ersetzen. Aber es war eine hohe Zahl an Bürger*inne*n, die Lust hatten, sich zu engagieren und diese Stadt mitzugestalten. Ein wertvolles Potenzial.
Der damals amtierende OB Jürgen Nimptsch fand das gut. Mit dem Kollegen Dirk Lahmann nahm er einen ehemaligen Fraktionsgeschäftsführer des Bürgerbundes in seinen Stab auf. Je näher ich Dirk kennenlernte, umso mehr verstand ich, wie lebensrettend dieser berufliche Schritt für ihn war. Im Stadtrat regierte seinerzeit eine schwarz-grüne Mehrheit. Die Bürger*innen*beteiligung wurde vom heutigen Beueler Bezirksbürgermeister Guido Pfeiffer sowie den CDU-Stadträten Dieter Steffens und Helmut Joisten politisch betreut und begleitet. Es war eine für mich überraschend konstruktive, gedeihliche Zusammenarbeit. Mann lernte viel von- und miteinander, professionell betreut von den Zebralog-Kolleg*inn*en. Nur wurde das von der Mehrheit der in diesem Fach weitgehend ahnungslosen Stadtrats-Fraktionen leider überwiegend ignoriert.
Diese damalige erste und bestbesuchte Bonner Bürger*innen*beteiligung erbrachte erstaunliche Ergebnisse. Die Freund*inn*e*n der Oper setzten sich mehrheitlich gegen ihre Feinde, die sie abschaffen wollten, durch. Versuche von Nimptsch, die Sport- und die Kulturlobby gegeneinander auszuspielen, gelangen nicht. Klare Mehrheiten gegen Kultur-, Migrant*inn*en- und Flüchtlingsfeindschaft. Mehrheiten auch gegen “Steuergelder für Karneval”. Und gleich dreimal in den TopTen: Verbot von Laubbläsern.
Ich fasse zusammen: alle diese Mehrheiten wurden vom Stadtrat gar nicht erst ignoriert. Entsprechend brach die Beteiligung der Bürger*innen an diesem die Ratsmitglieder belästigenden Verfahren schnell zusammen. Sie kapierten nicht, wie sie damit ihre eigene Legitimation schädigten. Hier der Ist-Zustand.
Folgerichtig wurde ich gestern vormittag vier Stunden am Stück von Laubbläsern terrorisiert. Und sicher nicht nur ich, sondern mehrere hundert Anwohner*innen.
Wohin mit meinen Aggressionen?
Das Schreiben in einem Blog erweist sich in diesem Lebenszusammenhang als selbsttherapeutisch. Anderen geht es weit schlimmer als mir. Zum Beispiel dem Kollegen Florian Rötzer. Von 1996-2021 arbeitete er beim Heise-Verlag als Chefredakteur des Magazins Telepolis. Fast genauso lange bin ich Stammleser dieses Onlinemediums. Sein Agendasetting war so wild und gefährlich, dass es mir nie langweilig wurde. Aber jetzt.
Sein langjähriger Autor und Nachfolger als Chefredakteur Harald Neuber schreibt in schrecklichstem Marketingsprech, über das das Rötzer-Telepolis angemessen brutal-sprachkritisch hergefallen wäre, das: “Qualitätsoffensive: Telepolis – Telepolis nimmt alte Texte unter die Lupe. Beiträge von vor 2021 vorerst nicht mehr abrufbar. Aber: Viele Archivperlen werden neu erscheinen.”
Ich persönlich bin nachhaltig empört, dass die Wochenzeitung des Millionärserben Jakob Augstein, der Freitag, meine dort veröffentlichten Texte (2002-09), die ich unter der Voraussetzung der Online-Verfügbarkeit geschrieben habe, nachträglich mehrheitlich digital eingemauert hat. Mir wurde auf entsprechende Forderung meinerseits zugesagt, das wieder zu ändern. Passiert ist es nicht. Ich könnte dagegen prozessieren. Aber es ist mir den Ärger und das Geld nicht wert.
Beim Kollegen Rötzer müsste das etwas anders aussehen. In seinem Fall wurde ein berufliches Lebenswerk vom Netz genommen. Einen fieseren Arschtritt kann ich mir gar nicht vorstellen. Seine Reaktion, und das schätze ich so an ihm, ist weniger persönlich beleidigt, als hochpolitisch, und damit viel beunruhigender, als es sein Einzelfall sein kann:
“Warum ‘Putins Gift wirkt’, auch wenn gar nichts passiert – Schnell und ohne Ermittlungen abzuwarten werfen Politiker und Journalisten mit Begriffen Sabotage und hybrider Kriegsführung um sich. Die Süddeutsche findet das angemessen.”
“Evolutiver Knick” – meine persönliche Verarbeitung
In meinem Lebensalter (67) ist physisch und täglich spürbar, dass die Zeit knapper wird. Wie mit ihr umgehen? Politisch wird das hier angemessen erörtert:
Florian Schwinn (Interview)/overton im Gespräch mit Prof. Kersten Reich: “Zukunft denken! Können wir das? – Heute geht es in dieser Kolumne um die ganz großen Dinge. Die gescheiterte Klimakonferenz von Baku ist der aktuelle Aufhänger, wenn auch nicht der Anlass für die grundsätzliche Frage, ob wir Menschen überhaupt in der Lage sind, Zukunft zu denken.”
Die “grossen Dinge” schön gesagt. Dabei sind wir doch so winzig und klein. Ich habe mein Berufsleben mit dem Einsatz für Ökologie, Abrüstung und soziale Gerechtigkeit absolviert. Ich konnte zu meinem Glück davon leben, ohne übermässig reich zu werden. Statt einem oder mehreren Autos konnte ich so eine kleine Wohnung finanzieren. Mein erstes WG-Zimmer 1977 (ich blieb dort 21 Jahre) kostete zu Beginn 120 DM, also 60 €. Mit so einem Kostensockel kann materielles Glück zusammenkommen. Dafür bin ich glücklich und dankbar.
Aber auch genervt. Mit Donald Trump, den gegenwärtigen und zukünftigen Regierungen in der EU und ihrer Führungsmacht Deutschland, wird es ein radikales klimapolitisches Rollback geben. Das Weltklima müssen andere retten: USA, China, Indien, Brasilien, Afrika. Die Deutschen kannze vergessen. Sind zum Glück auch nicht mehr so wichtig, Baerbock (u.a.) sei Dank.
Warum soll ich mich also in meinen späten Lebensjahren grämen? Das lehne ich ab. Alle guten Seiten des Lebens, die ich finanzieren kann, werde ich vor meinem Ableben mitnehmen. Niemand wird deswegen Not leiden. Mehr geht nicht.
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