Am 6. November vereinbarten die EU-Kommission und die Regierungen der Mercosur-Staaten in Montevideo ein Freihandelsabkommen. Mercosur (Markt des Südens) ist eine Freihandelszone, die die südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay seit 1991 vereint. Neuerdings gehört auch Bolivien dazu, während die Mitgliedschaft Venezuelas aus politischen Gründen ruht. Wenn das Abkommen zwischen der EU und Mercosur in Kraft tritt, entsteht ein Wirtschaftsraum mit mehr als 700 Mio. Menschen und einem Anteil von fast 20% der Weltwirtschaft und 31% des Welthandels.
Allerdings sind noch einige Voraussetzungen zu schaffen, bis das Abkommen wirksam werden kann. Dazu müssen es nämlich alle EU-Mitgliedstaaten ratifizieren, was derzeit fraglich erscheint. Als Ausweg peilt die EU-Kommission eine Schmalspurlösung an (Link mit Paywall), bei der alle politischen Ziele aus dem Abkommen gestrichen werden und nur die Handelsregelungen verbleiben. Dann reichen eine einfache Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat.
Die Industrie begrüßt dieses Abkommen, sie ist auf den Export von Waren und auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Die Landwirtschaft lehnt es ab. Sie befürchtet zusätzliche Konkurrenz durch Produkte aus Südamerika, weist auf die dortigen niedrigen Löhne und Gehälter hin und hat schon einige Proteste organisiert. Die milliardenschweren Subventionen, die die EU an die europäischen Landwirte zahlt, werden dabei zumeist verschwiegen. Diese Zahlungen betrugen 2022 54 Mrd. € und machten 32% des EU-Haushalts aus. Davon können südamerikanische Bauern nur träumen. Zudem ist die EU selbst der weltweit größte Agrar- und Lebensmittelexporteur der Welt. Sie exportiert 70 Mrd. € mehr als sie importiert.
Der Protest der Bauern hat dazu geführt, dass einige EU-Staaten (darunter Frankreich und Polen) ihre Ablehnung des Vertragswerks angekündigt haben. Umweltverbände befürchten, dass der steigende Handel zu einem Mehrverbrauch an Pestiziden und zur weiteren Abholzung des Regenwaldes führt. 400 Organisationen der Gesellschaft und Wissenschaft aus Lateinamerika und Europa warnten vor dem Abkommen. In Deutschland gibt es kaum Proteste.
Der Streit um das geplante EU-Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten hat bereits das Europaparlament erreicht. Die Fraktion der Linken droht mit einem Misstrauensantrag gegen die EU-Kommissionspräsidentin und wirft ihr vor, sie habe den Deal hinter dem Rücken der Abgeordneten und gegen die Interessen mehrerer großer EU-Staaten ausgehandelt. Sie warnt vor einem „neoliberalen Ruinierungspaket“ und befürchtet, dass kleine und mittelständische Unternehmen in Deutschland durch Mercosur bedroht seien.
Die EU-Kommission hingegen betont die Handlungsfreiheit, die den Vertragspartnern bleibt: Das Abkommen berühre nicht das Recht der EU oder des Mercosur, Vorschriften für politische Ziele wie den Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie der Umwelt und der Arbeitnehmer zu erlassen oder öffentliche Dienstleistungen zu erbringen. Das Abkommen lasse den Regierungen auf beiden Seiten vollkommene Freiheit, die Wasserversorgung und andere Grundversorgungsleistungen nach eigenem Ermessen zu verwalten und weiterhin darüber zu entscheiden, ob diese durch den öffentlichen oder den privaten Sektor erbracht werden.,
Angesichts dieser Kontroversen ist untergegangen, dass der aktuelle Vertragstext eine erhebliche Verbesserung enthält. Das EU-Mercosur-Abkommen enthält keine Sonderklagerechte für Investoren mehr. Eine solche Regelung war jahrzehntelang darin vorgesehen und wurde aus Politik und Wissenschaft sowie Nichtregierungsorganisationen kritisiert. Über private Schiedsgerichte könnten Unternehmen Schadensersatz wegen (angeblicher) Gefährdung ihrer Investitionen und Gewinnerwartungen geltend machen. Nun teilt die Bundesregierung mit, dass Investitionsschutz nicht Bestandteil der Verhandlungen war. Deutschland habe bilaterale Investitionsförderungs- und -schutzverträge mit Argentinien, Paraguay und Uruguay. Ein Abkommen mit Brasilien ist unterzeichnet, aber noch nicht in Kraft.
Auch die EU-Kommission hat auf die Kritik reagiert. Statt über ISDS (Investor State Dispute Settlement) verhandelt sie bei künftigen Abkommen über ein ICS (Investor Court System). Der Startschuss soll mit Kanada fallen. Klageberechtigt wären alle globalen Konzerne, die Niederlassungen in den Vertragsgebieten haben. Verhandelt würden die Investorenklagen vor einem sogenannten Investitionsgerichtshof. Allerdings ist dieses System nur eine verfahrenstechnisch aufgebesserte Institution zur Verhandlung von Investitionsstreitigkeiten.
Als rechtliche Grundlage dient nicht parlamentarisch beschlossenes Recht, sondern das der jeweiligen Verträge. Diese kennen in der Regel keine Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums und auch keine Klimaziele. Auslegbare Begriffe wie „gerechte und billige Behandlung“ und „indirekte Enteignung“ durch staatliche Regulierung ermöglichen lukrative Entschädigungsforderungen, was in der Praxis häufig zur Einschränkung staatlicher Regulierungsrechte führt.
Warum im Mercosur-Abkommen ein Verzicht auf private Schiedsgerichte stattgefunden hat, ist unklar. Es mag sein, dass die EU auf diesen Punkt verzichtet hat, um die Zustimmung zum Abkommen nicht noch zusätzlich zu erschweren. Es mag aber auch sein, dass die vielfache Kritik an Sonderklagerechten für Investoren dies bewirkt hat, verbunden mit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Immerhin hat der EUGH solche Schadensersatzforderungen innerhalb der EU unterbunden. Schon 2018 hatte er festgestellt, dass solche Schiedsverfahren zwischen EU-Staaten unzulässig sind, da die EU über ein funktionierendes Rechtssystem verfügt. Ein weiteres Urteil betrifft die Energiecharta, eine besondere Form eines Investitionsschutzabkommens. Nunmehr sind auch deren Schiedsverfahren zwischen Investoren und Mitgliedstaaten der EU illegal. Zwar können die Schiedsgerichte das EUGH-Urteil ignorieren (was sie vielleicht auch tun werden), doch wird innerhalb der EU keine Vollstreckung mehr stattfinden.
Auch die Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP, Transatlantic Trade and Investment Partnership) und mit Kanada (CETA, Comprehensive Economic and Trade Agreement) sahen private Schiedsgerichte vor. Beim JEFTA (Japan-EU-Free-Trade-Agreement), seit 2019 in Kraft, konnte keine Einigung über ein Schiedsverfahren erzielt werden. Über TTIP wird seit 2013 ohne Ergebnis verhandelt. Die Kritik an diesem Abkommen richtet sich gegen die Verhandlung hinter verschlossenen Türen, gegen die Untergrabung demokratischer Prinzipien und gegen den starken Einfluss mächtiger Lobbyisten. Zudem dürfte die Feststellung des EUGH, dass bei Staaten mit funktionierendem Rechtsystem private Schiedsgerichte unzulässig sind, auch bei den USA und bei Kanada zutreffen.
CETA ist 2017 nur vorläufig in Kraft getreten. Diese Einschränkung bedeutet, dass nur jene Bereiche wirksam werden, die unzweifelhaft in der Zuständigkeit der EU liegen. Zum endültigen Inkrafttreten müssten alle EU-Staaten das Abkommen ratifizieren – zehn fehlen noch. Anstelle des geplanten Investor-Staat-Schiedsverfahren mit von den Streitparteien benannten Schiedsrichter/innen gibt es jetzt ein Investitionsgericht mit 15 staatlich ernannten Richter/innen und mit einer Berufungsinstanz. Wie die Regierung neuerdings die privaten Schiedsgerichte einschätzt, zeigt die Tatsache, dass sie bei diesen jetzt von „einer missbräuchlichen Anwendung“ spricht.
Bereits seit 1965 gibt es ein Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (International Centre for Settlement of Investment Disputes – ICSID). Das ICSID gehört zur Weltbankgruppe und hat seinen Sitz in Wahington. Es hat keine Entscheidungskompetenzen und übernimmt keine Rechtsprechungaufgaben, sondern unterstützt die Streitbelegung durch Verfahrensregeln, Räumlichkeiten und administrative Leistungen.
Je nach Vereinbarung der Parteien werden Streitigkeiten durch einen Einzelschiedsrichter oder ein Tribunal aus einer ungeraden Zahl von Schiedsrichter/innen entschieden. Üblich ist ein Tribunal aus drei Personen, von denen jeweils einer von jeder Partei bestimmt wird. Auf den dritten Schiedsrichter müssen sich die Parteien einigen. Das ICSID führt eine Liste von möglichen Schiedsrichter/innen (“Panel”), die von den Vertragsstaaten des ICSID nominiert werden. 2021 wurden dem ICSID 66 Streifälle vorgelegt, bis Juli 2024 waren es insgesamt 1.300 Klagen gegen Staaten. Entscheidungen, die unter ICSID-Obhut fallen, können in alles Vertragsstaaten vollstreckt werden.
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