Am 24. April 1915 begann in der Türkei der Völkermord an den Armenier/innen. Dieser Tag ist in Armenien und in der armenischen Diaspora ein Trauertag, der Genozid-Gedenktag. Auch wenn das Ereignis bereits 110 Jahre zurückliegt, hat das Gedenken daran immer noch eine besondere Bedeutung und Berechtigung. Erstens leistet die Türkei unermüdlich Widerstand gegen die Bezeichnungen Völkermord bzw. Genozid für die damalige Verfolgung und Ermordung. Zweitens war dieses Ereignis Anlass für die juristische Definition des Begriffs ‘Völkermord’ und für die Verabschiedung der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords im Jahre 1948 (in Kraft getreten 1951).
Aufgrund seiner Lage an wichtigen Fernhandelsstraßen war Armenien immer ein umkämpftes Gebiet. Verschiedene Völkern hatten Ansprüche erhoben: Meder, Perser, Ostrom, Seldschuken, Russen und Osmanen. Schon 1071 hatte es unter den Seldschuken eine Massenvertreibung gegeben. Seit dem 17. Jahrhundert befand sich der größte Teil des armenischen Siedlungsraums unter osmanischer Herrschaft. Auch wenn keine Gründung eines Nationalstaates gelang, bewahrte das armenische Volk seine Identität, wahrscheinlich gefördert durch die frühe Christianisierung.
Bis Ende 1915 April fühlten sich die Armenier/innen in der Türkei sicher. Das änderte sich am 24. April 1915, als türkische Behörden in Istanbul mehr als 2.000 Mitglieder der armenischen Elite verhafteten. Die meisten wurden gefoltert und hingerichtet. Dem folgte eine landesweite Verhaftung, Verfolgung, Ermordung und Vertreibung. Ziel der Deportationen waren wüstenähnliche Gebiete im heutigen Nordirak und Nordsyrien, wasserlos und unfruchtbar. Typhus breitete sich aus und befiel auch die (islamische) Bevölkerung jener Regionen, durch die die Todesmärsche gingen.
Bei Hungermärschen, durch Erschießungen, Überfälle, Seuchen, Entbehrungen und Erschöpfung starben zwischen 800.000 und 1,5 Mio. von einer Gesamtbevölkerung von 2,5 Mio. Personen. Auch assyrische und griechische Christen wurden verfolgt, vertrieben und ermordet. Schon in früheren Jahre waren die Armenier Übergriffen und Pogromen mit bis zu 200.000 Toten ausgesetzt gewesen.
Die Organisation und Durchführung der Massaker oblag zunächst einer Sonderorganisation, die jedoch bald die Unterstützung des Kriegs-, des Justiz- und des Innenministeriums erhielt. Die Regierung wurde damals vom nationalistischen Komitee für Freiheit und Fortschritt (‘Jungtürken’) gestellt. Am 27. Mai trat ein gezieltes Deportationsgesetz in Kraft. Die Verfolgung wurde damit begründet, dass die christlichen Volksgruppen die militärischen Gegner der Türkei unterstützen würden, vor allem Russland. Dies sei Hochverrat. In der Tat hatten armenische Freiwilligen-Batallione auf russischer Seite gekämpft, und es gab armenische Parteien, die die Unabhängigkeit anstrebten.
Anfang Juli erkannte der deutsche Botschafter in der Türkei, dass die Deportationen nicht kriegsbedingt erfolgten. Er berichtete, dass die türkische Regierung „tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten.“ Es passierte jedoch nichts. Im Gegenteil, hohe deutsche Militärs unterstützten die türkischen Machthaber bei der Vernichtung der Armenier. Spätestens jetzt machte sich das Deutsche Reich mitschuldig am armenischen Massaker. Die Kriegsgegner der Türkei, Großbritannien, Frankreich und Russland, drohten dagegen den türkischen Verantwortlichen ein internationales Strafverfahren an. Nach Kriegsende fehlte dazu jedoch offenbar die Durchsetzungskraft.
In der UN-Konvention, zu deren Erstunterzeichners auch die Türkei zählt, wird Völkermord definiert als „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“
Die Vereinten Nationen haben den Völkermord an den Armenien 1985 durch die Annahme des Berichts einer UN-Expertenkommission für die Verhütung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten anerkannt. Das Europäische Parlament folgte 1987 mit einer entsprechenden Erklärung. Auch der Weltkirchenrat anerkannte den Tatbestand 1983.
Inzwischen sehen 22 Staaten den Völkermord an den Armeniern als bestätigt an. Unterschiedlich ist die Regelung, ob eine Leugnung dieses Sachverhalts ein Straftatbestand ist. Die meisten Staaten stufen dies als zulässige Meinungsfreiheit ein, andere drohen mit Bestrafung. Teilweise sind die Parlamentsbeschlüsse mit Kritik an der Türkei und mit der Aufforderung verbunden, den Völkermord anzuerkennen und zur Versöhnung beizutragen.
Der Deutsche Bundestag hat am 2. Juni 2016 die Massaker an den Armeniern endlich als das bezeichnet, was es tatsächlich war, ein Genozid. Es gab nur eine Gegenstimme und eine Enthaltung. Die Entscheidung fiel trotz energischer Proteste der türkischen Regierung, die den Beschluss als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verurteilte. Wer jedoch wie die Türkei hundert Jahre lang einen Völkermord verdrängt und verleugnet, muss damit leben, dass ihm dies vorgehalten wird. Immerhin sei die Türkei ein Anwärter für eine EU-Mitgliedschaft und damit strengen Rechtsstaatsansprüchen unterworfen. In der Debatte wurde die Türkei zur Einsicht und zur Aussöhnung mit den Armeniern aufgefordert.
Die Türkei kämpft gegen den Begriff ‘Völkermord’ und versucht, möglichst viele Staaten von einer Anerkennung dieses Tatbestands abzuhalten. So erklärt sie die Toten als Folge von Kampfhandlungen im Zuge des Ersten Weltkriegs oder von Hunger und Krankheit aufgrund der Kriegswirren. Ein andere Erklärung behauptet, dass die Armenier Aufständische waren, die die Kriegsgegner der Türken unterstützten, und dass deren Vertreibung und Verfolgung deshalb ein Akt der Selbstverteidigung war. Selbst wenn letzteres stimmen sollte, hätte sich die Vergeltung nach Genfer Kriegsrecht nicht gegen Millionen Zivilisten richten dürfen.
Auf Druck der Sicgermächte Frankreich und Großbritannien gab es nach Kriegsende in der Türkei eine strafrechtliche Verfolgung. Immerhin verhängte die türkische Militärgerichtsbarkeit gegen einige der Planer und Vollstrecker der Vernichtung siebzehn Todesurteile „wegen Kriegsverbrechen und der Massaker und Vernichtung der armenischen Bevölkerung“ und bestätigte insoweit die Verbrechen. Drei Urteile wurden vollstreckt. Erst später begann unter Präsident Kemal Atatürk die Leugnung der Schuld. Nicht ohne Grund weigert sich die Türkei bis heute, ihre Archive für unabhängige Historiker/innen zu öffnen.
Einige Verurteilte flüchteten, unter anderem nach Deutschland. Armenische Überlebende gründeten eine Geheimorganisation, die die für den Völkermord Hauptverantwortlichen aufspüren und hinrichten sollte. 1922 erschoss ein Armenier, der bei den Deportationen 85 Angehörige verloren hatte, in Berlin zwei Verantwortliche, darunter den früheren türkischen Innenminister. Der Attentäter wurde freigesprochen. Der Vorfall führte jedoch zu einer juristischen Diskussion über die Gesetzeslücke bei der Bestrafung von Staats- und Großverbrechen.
Am 2. Mai 2025 hat die taz ein weiteres Massaker in der Türkei dokumentiert. Am 4. Mai 1937 gab die türkische Regierung den geheimen Marschbefehl für einen Einsatz in der Proviz Turceli mit dem Ziel, „die Dörfer zu vernichten und die Einwohner zu deportieren.“ Die Soldaten gingen mit großer Gewalt vor, zerstörten viele Dörfer und erschossen massenhaft Einwohner. Sogar Gasbomben wurden eingesetzt. Die Zahl der Opfer wird auf bis zu 50.000 geschätzt. Ziel war es, die dortige alevitische Bevölkerung auszulöschen – gemäß der türkischen Staatsideologie, die in ethnischer Vielfalt eine Gefahr für die nationale Einheit sah. Anders als beim Völkermord an den Armeniern bestreitet die Türkei die Gräuel nicht. Staatschef Erdogan entschuldigte sich 2011 im Namen des Staates für das Drama und für das „Abschlachten“ der Männer, Frauen und Kinder.