Die erste Jungdemokratin Inge Meysel war eine beinharte Reala – keine Schauspielerin hat die deutsche Gesellschaft stärker beeinflusst

Wie kommichdrauf? “Die Unverbesserlichen” sind ab heute für ein Jahr verfügbar in der Mediathek. Der Plot der ersten von sieben Folgen (1965-71): “Jeden Sonntag geht Kurt Scholz zum Fußballplatz. Er hat allen Grund dazu, denn sein Sohn Rudi gehört zu den Assen der Mannschaft. Auch seine Frau Käthe, die Kinder Doris, Lore, Rudi, Schwiegersohn Helmut und Tante Hertha treten schlagartig ans Licht, als der Fußball-Tototipp eine beachtliche Summe ins Haus rollen lässt. Jeder möchte von dem Geld etwas anderes anschaffen. In Toto-Siegerlaune hat Kurt Scholz einen Kleinwagen gekauft und damit gleich einen Verkehrsunfall verursacht. Vaters Unglück bringt die Familie zur Besinnung.” Die Macher*innen – Robert Stromberger (Buch), Claus Peter Witt (Regie) und Inge Meysel (Hauptrolle) wussten genau, was sie taten.

Sie waren mächtig. Bei uns zuhause gab es nur ein TV-Programm. Ein- oder Ausschalten. Umschalten gabs nicht. Ich bekam mein erstes Fahrrad (ein 26er), mit dem ich ein Jahr später zum Gymnasium fahren sollte. Bei meiner katholischen Kommunion (gesprochen: “Kommion”) gab es ein für mich unvergessliches Kuchenbuffet, das meine Ernährungsgewohnheiten lebenslänglich prägen sollte. Borussia Mönchengladbach stieg in die Bundesliga auf. Am Grossen Alpsee in Immenstadt ereilte meinen Vater und mich der unbarrmherzigste Sonnenbrand unseres Lebens, weil die Aufsicht meiner hochschwangeren Mutter fehlte. Meine Zeit als Einzelkind endete. Und das Deutsche Fernsehen gebar die “Mutter der Nation”.

Mich sprach die Reihe damals nur geringfügig an. Ich wusste ja über meine familiäre Realität hinreichend Bescheid. Da brachte das Fernsehen nichts wirklich Neues. Wenn “der Gesellschaft den Spiegel vorhalten” jemals wahr war, dann bei den “Unverbesserlichen”. Die Presse kriegte sich kaum ein, so delektierte sie sich an dieser TV-Serie – Zeitungen und TV sahen sich nicht als Konkurrenz, sondern steigerten sich zum gegenseitigen Vorteil hoch.

Erst Jahrzehnte später begriff ich, was für eine unfassbar kluge Strategin diese Inge Meysel war. Erst durch die Forschungen meines Ex-Chefs und Mitautors Roland Appel anlässlich des 100. Geburtstages der Jungdemokraten 2019 (u.a. hier und hier) erfuhr ich, dass Meysel schon als 15-jährige “eine von uns” war. Wie bei jedem Menschen haben diese jugendlichen politischen Erfahrungen die Frau nachhaltig geprägt. Und den Grundstein für eine unfassbar erfolgreiche und leistungsstarke Schauspielerinnenkarriere gelegt.

Meysels Rollenspiel in den “Unverbesserlichen” dürfte Feministinnen wie Alice Schwarzer erst so richtig heissgemacht haben. Die Feministinnen der 60er und 70er rieben sich an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Die hochpolitisierte Schauspielerin Meysel interpretierte sie. Und zwar zur allgemeinen Kenntlichkeit. Das war faktische Machtausübung. Und Meysel wusste das ganz genau.

Auch das erkannte ich erst viel später bei ihr – sie machte nie grossen öffentlichen Wind um ihr Engagement, die Aufmerksamkeitsökonomie ihrer Zeit durchschaute sie besser als alle Andern – als bekannt wurde, dass sie die damalige im TV als “PDS-Punkerin” herumgereichte, und nicht selten gefährlich attackierte und diffamierte Angela Marquardt mit einem privaten Stipendium unterstützte. Frau Marquardt wurde später bei Andrea Nahles sowas Ähnliches, wie ich bei Roland Appel war.

Ich empfehle Ihnen, die Spuren, die diese grosse Frau in diesem Land hinterlassen hat, gut zu studieren. Es erleichtert das analytische Verständnis der Gegenwart. Wie konnte es so weit kommen? Wo sind wir jetzt? Wie kann es weitergehen? Würde Frau Meysel noch leben, sie wüsste Antworten. Würde das aber niemals von sich behaupten.

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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