Bundeskanzler Friedrich Merz: Ein Herz für Kinder?
„Ich bin sehr empfindlich, wenn es um Kinder geht“. So begründete Kanzler Friedrich Merz am 5. Oktober in der ARD-Talkshow von Caren Miosga seine tränenreiche Rede in der Münchener Synagoge vor drei Wochen. „Als erster Kanzler seit 27 Jahren mit eigenen Kindern“ präge das Wohl der Kinder seine politische Arbeit, betonte er. Doch wie wirkt sich seine behauptete Empathie für die Kinder im Land tatsächlich auf seine Sozialpolitik aus? Jedes 5. Kind lebt in Deutschland in Armut, in manchen Städten und Regionen sind es bis zu 30% und mehr, in der Armutsstadt Gelsenkirchen über 40%. Die Armutsquote steigt seit 35 Jahren ungebremst, und das auch in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums.
Seither haben 10 Regierungen mit unterschiedlichen Koalitionen unter siebenmaliger Kanzlerschaft der CDU ihr wiederholtes Versprechen, die Kinderarmut zu beseitigen, nicht erfüllt, im Gegenteil. Die Vorgängerin von Kanzler Friedrich Merz hatte in ihrer vorletzten Regierungserklärung nach 16 Jahren Regierungsverantwortung achselzuckend bedauert: „Kinderarmut ist eine Schande für unser reiches Land“. Nach dieser (empathischen?) Feststellung verabschiedete sich Frau Merkel als maßgeblich Mitverantwortliche aus dem Kanzleramt.
Sozialreformen: Mit Rezepten der Vergangenheit soziale Zukunft gestalten?
Auch unter Kanzler Friedrich Merz kommt im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierungskoalition Kinderarmut kaum vor. Als CDU-Oppositionsführer hatte Friedrich Merz sogar die geplante Kindergrundsicherung der Ampelregierung aus Kostengründen strikt abgelehnt und stattdessen ein unzureichendes „Kinderzukunftsgeld“ vorgeschlagen, von dem jetzt keine Rede mehr ist. Als Fraktionsgeschäftsführer und heutiger Kanzleramtsminister von Friedrich Merz hatte der CDU-Spitzenpolitiker Thorsten Frei im April 2025 im Deutschlandfunk „Einschnitte im sozialen Sicherungssystem“ als „unangenehme Entscheidungen“ auch im Bereich Gesundheit, Pflege und Rente angekündigt.
Zugleich lobte Friedrich Merz wiederholt im Einklang mit SPD-Vizekanzler Lars Klingbeil die damalige Agenda-Reform des SPD-Kanzlers Schröder, die wegen der forcierten prekären Beschäftigungsverhältnisse und steuerlichen Umverteilung von unten nach oben der eigentliche Auslöser für die jahrzehntelangen Armutsentwicklungen mitsamt Kinderarmut waren und somit eher Ausdruck von sozialer Kälte. Daran sollen sich die neuerlichen „Sozialreformen“ orientieren, die nach der Regierungsklausur aus der Industriellen-Villa Borsig nebulös verkündet wurden?
Die eigene Nichtbetroffenheit relativiert die Empathie für Kinder
Die drei Kinder und sieben Enkelkinder von Multimillionär Friedrich Merz, die ihn sensibilisiert haben, sind darauf nicht angewiesen und werden auch zur abgesicherten Erbengeneration gehören, womöglich ohne nennenswerte Erbschaftssteuer. (Die 3,5 Mio. Armutsrentner in Deutschland können ihren armen Enkeln nichts vererben). Das Vermögen von Friedrich Merz wird in Medien auf ca. 12 Mio. € geschätzt, für die er keine Vermögenssteuer zahlt, die von ihm auch politisch abgelehnt wird, derweil seine Steuerreform-Politik eher eine Steuersenkung für Reiche wie ihn bewirkt. Es sei die polemische Frage erlaubt: Ist das der reiche (klimaschädigende) Privatflieger und Ferienhaus-Besitzer am Tegernsee seinen Freunden aus der Wirtschaft als Kanzler schuldig?
Er selber konnte vor seiner Rückkehr in den Bundestag als Wirtschaftsanwalt, Unternehmensberater und Mitglied in 12 Aufsichtsräten (einschl. Blackrock Deutschland) eine Mio. Jahreseinkommen erzielen und sich seither zu den 5% der obersten Zehntausend zählen. Im Bundestag war er lange Zeit mit einer Viertel Mio. € Nebeneinnahmen einer der Abgeordnete mit den meisten Nebenverdiensten, deren Offenlegung er per Gericht verhindern wollte. Die Steuerzahler garantieren ihm später eine fürstliche Abgeordneten-Pension, die er eigentlich nicht benötigt und von denen die dreieinhalb Millionen Armutsrentner auch nach über 40 Arbeitsjahren nur träumen können.
Vertreter der vielen „kleinen Leute?
Bei seiner Kandidatur für den Parteivorsitz hatte der langjährige Sozialstaatskritiker Friedrich Merz 2021 erklärt, er wolle die CDU wieder zur Vertretung der vielen „kleinen Leute“ und der „hart arbeitenden Normalverdiener“ machen. Inzwischen leben 21% der Bevölkerung in Armut oder sind davon bedroht, das sind 18 Mio. sozial ausgegrenzte Menschen im Land, die nicht „über ihre Verhältnisse gelebt haben“, wie ausgerechnet Kanzler Merz unterstellt. “Kinder aus armen Elternhäusern haben es noch schwerer als gedacht”, schreibt die FAZ am 03. Oktober 2025 unter der Überschrift: “Warum arme Kinder arm bleiben.”
Besonders steil war der Anstieg der Armut nach 2005 von 13% auf 21%. Schon in 2000 war sie trotz „Reformagenda“ von 12% auf 14% gestiegen. Die Armutsgefährdung von Alleinerziehenden mit Kindern liegt bei 40%, die der Familien mit Kindern bei 30%. Die davon mitbetroffenen Kinder sind aufgrund der Geburtslotterie für eine Armutsbiografie vorgeprägt, so dass sich Kinderarmut über Generationen vererbt. Für sie ist der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar? „Armutsprävention braucht Empathie für die Lebenswelt der Armut“ sagte hingegen der Abteilungsleiter der Koordinationsstelle Kinderarmut des Landschaftsverbandes (LVR).
Höchste Quote der millionenfachen Kinderarmut
Heute sind insgesamt 2,5 bis 3 Mio. Kinder in Deutschland von Armut betroffen. Von den 1,5 Mio. Tafelbesuchern bei der Armenspeisung sind 28% Kinder. Bei Alleinerziehenden beträgt die Armutsgefährdung ihrer Kinder über 40%, von denen 38% sich keinerlei Urlaub leisten können. Auch 29% Paare mit Kindern können sich laut Hans-Böckler-Stiftung nicht einmal eine Woche Campingurlaub leisten, aber auch viele Singles nicht.
Insgesamt sind 17 Mio. Menschen (21%) von den Urlaubsfreuden abgehängt und auch von sozialer Teilhabe in vielen Lebensbereichen. Das trifft die vielen Kinder in besonders schmerzlicher Weise, die oft in unbeheizten Wohnungen leben müssen oder ihre verbrauchte Kleidung nicht ersetzen könne, weil den Eltern das Geld fehlt. Da kommen einem die Tränen. Wo bleibt da die Empathie des Kanzlers?
Zum vierten Mal in Folge hatte 2023 der UN-Menschenrechtsrat die Bundesrepublik Deutschland wegen der anhaltenden und ungebremst steigenden Kinderarmut in Deutschland angemahnt wegen Verstoßes gegen die verbindlich geltende UN-Kinderrechtskonvention. Kinder haben in Deutschland keine Lobby, denn die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz fand bisher im Bundestag keine Mehrheit, obwohl laut Umfragen der Kindernothilfe 82% der Deutschen Bevölkerung das befürworten würden.
Bildungsbenachteiligung der Kinder mit Armutsbiografie
Von 100 Kindern mit Armutserfahrung und von Eltern ohne Abitur schaffen in Deutschland nur 12 den Sprung aufs Gymnasium. Kinder aus Armutsfamilien machen also seltener das Abitur als diejenigen Kinder, die niemals in Armut gelebt haben. Und nur jedes 5. Kind aus ärmeren Verhältnissen oder Nichtakademiker-Familien beginnt ein Studium, anders als bei den Akademiker-Elternhäusern mit 79% studierenden Kindern.
Auch die Bundestagsabgeordneten haben zu 81% einen akademischen Studienabschluss gegenüber 21% in der Gesamtbevölkerung. Von wegen „repräsentative Demokratie“. Haben unsere akademisch gebildeten Berufspolitiker überhaupt auf dem Schirm, dass ganz unten eine „verlorene Generation“ heranwächst, deren Benachteiligung die gesamte Biografie prägt? Eine Bildungsreform wäre ein wesentlicher Bestandteil einer Sozialreform und umgekehrt wäre die soziale Absicherung und der soziale Aufstieg die Voraussetzung für eine Bildungslaufbahn der benachteiligten Kinder und Jugendlichen. Sprach Friedrich Merz nicht bei Caren Miosga von Gerechtigkeit im künftigen Sozialsystem?
Wirtschaftswachstum nur bei sozialer Sicherheit erreichbar
Das Wachstumsversprechen von Bundeskanzler Friedrich Merz geht davon aus, dass erst ein wieder steigendes Wirtschaftswachstum die Möglichkeit sozialer Wohltaten für die Ärmsten eröffnet, die wohl solange kürzertreten sollen. Dabei wird umgekehrt ein Schuh daraus, wie der Armutsforscher Prof. Butterwegge feststellt: „Das größte wirtschaftliche Wachstum erreichte Deutschland in der Blütezeit des Sozialstaates“.
Butterwegge beklagt: „Immer dann, wenn es der einheimischen Wirtschaft schlecht geht, ertönt der Ruf nach dem Abbau des Sozialstaates“. Die davon betroffenen würden zu Sündenböcken gemacht, wie das Bürgergeld-Bashing zeige, deren Beziehern man das sozio-kulturelle Existenzminimum missgönne, denen auch noch die Wohnungslosigkeit drohe. Dabei ist die soziale Sicherheit der Lohn- und Gehaltsabhängigen eine Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Nach der Ideologie von Kinderfreund Merz solle wohl mit dem Um- und Abbau der sozialen Sicherungssysteme „der Übergang vom solidarischen Bismarck´schen Sozialversicherungsstaat zu einem Fürsorge-. Almosen- und Suppenküchenstaat erfolgen.”
Unzufriedenheit mit der Regierung und dem Funktionieren der Demokratie
Es verwundert nicht, dass nach dem neuesten ARD-Deutschlandtrend vom Oktober 2025 nur noch eine Minderheit von 42% damit zufrieden ist, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Die Unzufriedenheit mit der Regierung ist mit 77% extrem hoch. Nur 20% sind mit der politischen Leistung der Bundesregierung um Kanzler Merz zufrieden und es gibt keine „Aufbruchstimmung“. Der abgekündigte „Herbst der Reformen“ bereitet den meisten mehr Sorge vor Sozialkürzungen als Zuversicht.
Die AfD, die Friedrich Merz großspurig „halbieren“ wollte, hat auch deshalb in Umfragen ihre Zustimmungswerte mehr als verdoppelt und liegt mit 26% vor der Kanzlerpartei CDU. Rechtsextremes Gedankengut tendiert zur Normalisierung, nicht zuletzt auch bei den Jugendlichen aus der verlorenen Generation in den sozialen Brennpunkten. Bei der Europawahl 2024 machten die 16-19-jährigen Jugendlichen die AfD (als „Protestpartei“) zur zweitstärksten Kraft. Bei den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern war sie bei den Jungwählern die stärkste Kraft. „Rechtsextreme Alltagskultur und Subkultur ist für Jugendliche wieder attraktiv“ stellt die Amadeu-Antonio-Stiftung fest, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen als soziale Verlierer und Bildungsbenachteiligte in abgehängten Vierteln, Städten und ländlichen Regionen.
Rüstungshaushalt versus Sozialhaushalt
Dies sollten Friedrich Merz mit seinem Kabinett, vor allem die unaufhaltsam zur 5%-Partei absackenden Sozialdemokraten sich zu Herzen nehmen, wenn sie Zuversicht ausstrahlen und einen Rechtsruck verhindern wollen. Nach ihrer Klausur in der Berliner Industriellen-Villa Borsig – dessen Gründer zusammen mit Rheinmetall am Bau von Kriegslokomotiven beteiligt war (deren Aktienmehrheit 1938 an die Reichswerke Hermann Göring gingen) – sollten sie das Verhältnis von Militär- und Rüstungsausgaben und Sozialausgaben in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Rüstung macht arm – insbesondere diejenigen Menschen und deren Kinder, die jetzt schon an der Armutsgrenze leben.
„Keine Abstriche beim Sozialen wegen Aufrüstung und Krieg“, so versprach noch die Ampelregierung. Arbeitsminister Heil bei den Haushaltsberatungen im Bundestag: „Wir dürfen nicht Rente gegen Rüstung ausspielen“. Gilt das noch nach seinem Ausscheiden? CDU-Politiker Kiesewetter ließ 2024 die Katze aus dem Sack: „In dieser Lage ist es zwingend, dass der Bevölkerung endlich reiner Wein eingeschenkt wird und klargemacht wird, dass wir priorisieren und etwas ändern müssen.“ Wird damit deutlich, dass das Soziale und – allen Krokodilstränen zum Trotz – die Schicksale der Kindern ins Hintertreffen geraten?
„Herbst der Reformen“ als „Herbst der Tränen“?
„Verteidigungsfähigkeit braucht sozialen Zusammenhalt“, so unterstrich dagegen der außen- und verteidigungspolitzische Sprecher der Europa-SPD, Tobias Cremer. „Wenn Mittel, die wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Zusammenhalt fördern sollen, umgewidmet werden für Verteidigungsmaßnahmen, gefährden wir langfristig die Widerstandskraft unserer Gesellschaften.“
Es steht also vieles auf dem Spiel beim “Herbst der Reformen“, der hoffentlich kein „Herbst der Tränen“ wird für die sozialen Verlierer. Vielleicht kann sich die Regierung an der Präambel der Schweizer Verfassung orientieren: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“.
Diesr Beitrag erschien zuerst im Lokalkompass, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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