Beueler-Extradienst

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Demokratie braucht Vorbilder

Heribert Prantl, langjähriger Ressortchef Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, Kommentator, Kolumnist und Leitartikler, wird in diesen Tagen 70 Jahre alt und hat seine Art Autobiografie in 12 Kapiteln geschrieben – „Themen, die mir wichtig sind“ erklärt er dazu im Vorwort. „Mensch Prantl“ erscheint im Verlag Langen Müller München. Es war der Anlass für ein längst fälliges Interview. Interviewer und Buchautor kennen sich seit nun 30 Jahren, die die Anrede „Du“ erlauben, ohne die notwendige Distanz zu verlieren.

Dein wichtigstes Thema über die Jahre sind die Grundrechte und die Verfassung, auf denen unser Gemeinwesen fußt. Viele Deutsche halten die Demokratie für ein Geschenk, das die Amerikaner, unterstützt von Briten und Franzosen, 1945 den naziverseuchten Deutschen als Maßregel der Sicherung und Besserung mitgebracht haben. Aber: Die Demokratie ist Deutschland nicht geschenkt worden; die deutsche Demokratie hat tiefe Wurzeln.  1793 die „Mainzer Republik“, 1832 das „Hambacher Fest“, was übrigens eine höchst europäische Veranstaltung war, 1848 die liberale Revolution. Dann vor allem die Weimarer Verfassung, die das neue Prantl-Buch als eine ganz hervorragende Verfassung bezeichnet. Ich meine, dass wir viel zu wenige Robert Blum–, Friedrich Hecker– Strassen haben und zu viele Kaiser Friedrich, und Bismarck-Sackgassen. Die demokratische Tradition ist geradezu verschüttet worden. 

Das ist leider wahr und bitter. Im Zivilisationsbruch der Jahre 1933 bis 1945 ist auch die Erinnerung an die Kämpfe um Freiheit und Demokratie in Deutschland zerbrochen. Die Frühgeschichte der deutschen Demokratie ist so voller Kraft, die Lebensschicksale ihrer Protagonisten sind so faszinierend. Wer kennt Caroline Schlegel-Schelling, die Demokratin im Kerker? Wer kann erzählen von Carl Schurz, der nicht in Deutschland, aber in Washington Innenminister wurde? Von Friedrich Hecker, dem Bilderbuch-Revolutionär? Von Robert Blum, dem Märtyrer der Demokratie? Gewiss: Sie alle sind in Deutschland fürs Erste gescheitert. Aber ihre Ideen lebten auf, hundert Jahre später, im Grundgesetz. Die Wurzeln unserer Demokratie reichen tief, sie könnten Halt geben. Der Kreis der jungen alten Demokraten von 1832, 1848 und 1918/19 ist groß, es sind ganz viele Frauen dabei, aber kaum einer erinnert sich wenigstens an ihre Namen. Ich mag an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dass er immer wieder versucht, diesen Teil unserer Geschichte lebendig zu machen; er macht es nicht immer mit ansteckender Begeisterung, aber er macht es. Die Art und Weise, wie er zum 175. Jubiläum die 1848er Revolution zu Leben erweckt hat, war jedenfalls höchst respektabel.

Demokratie keine Soloaufgabe des Präsidenten

Die Erinnerung an die Gründerzeit der Demokratie ist keine Soloaufgabe des Präsidenten, sie ist eine Aufgabe der Publizistik. Warum? Unsere Demokratie braucht Vorbilder! Da sind ja tolle Köpfe dabei, Wegmacher, Wegbereiter, Vordenker, Nachdenker. An diesen Vorbildern – und ich bin sicher, die Demokratie braucht Vorbilder – können die Leute sehen und lernen, dass Demokratie nicht vom Himmel fällt, dass sie kein abstrakter Wert ist, sondern immer wieder neu errungen werden muss. Meine Großmutter – in meinem neuen Buch erwähne ich sie immer wieder in Verehrung – würde sagen: „Schreib was, Bub!“ Als ich neulich über Friedrich Hecker meine Kolumne schrieb, hat mir Friedrich Merz gratuliert. Vielleicht, weil er auch Friedrich heißt. Vielleicht, weil er sich insgeheim auch als Revolutionär fühlt. Die Erinnerung an die demokratischen Revolutionäre sollte sich jedenfalls nicht in Schulterklopferei erschöpfen.

Das Kapitel Emanzipation erzählt nicht von Alice Schwarzer, sondern von der mir bisher unbekannten Hannelore Mabry; es erzählt von der ersten Anwältin Deutschlands, Maria Otto und von Erna Scheffler; sie war das erste weibliche Mitglied des Bundesverfassungsgerichts. Mir als liberalem Grünen fielen da noch Marie-Luise Lüders oder Gertrud Bäumer ein, die beide in der Weimarer Republik Grundrechte erstritten und Berufe für Frauen geöffnet haben. Warum sind die heute so unbekannt?

Fantastische Gleichberechtigungsgeschichte

Ich habe keine befriedigende Antwort, ich kann das nur sehr bedauern. Vielleicht ist die Eliminierung des Angedenkens der letzte Erfolg des Nationalsozialismus. Wenn es gelänge, diese Traditionen der Demokratie wieder wachzurufen, die sich mit Persönlichkeiten aus den Urzeiten der Demokratie, die sich mit starken Frauen wie Marie-Luise Lüders und Maria Otto verbinden, dann könnte das auch ein Mittel sein, um die national-radikale AfD zurückzudrängen. Es gilt zu zeigen: „Hier gibt es eine demokratische Tradition mit einer positiven Geschichte, einer fantastischen Gleichberechtigungsgeschichte, wo Ihr euch mit Eurem schwachsinnigen Frauenbild der 50er Jahre, mit eurer Emanzipationskritik schleichen könnt, weil vor hundert Jahren die Frauen in Deutschland schon progressiver waren, als ihr es heute seid.“ Wenn es gelänge, dies auszupacken und anschaulich zu machen, wäre viel gewonnen.

Ich las vor Jahren in einer Zeitung der Jungdemokraten von 1926 den Artikel einer jungen Politikerin der DDP, die ganz selbstverständlich den Begriff „Abgeordnetinnen“ des Reichstags benutzte. Dieses Wort kam 1984 mit dem „Frauenvorstand“ der Grünen Bundestagsfraktion erstmals wieder ins Parlament. 1926 gab es in Berlin offen schwule Menschen, Transen und alles, was wir auf dem CSD heute feiern. Das zeigt, was die Nazis kulturell für eine Zerstörung angerichtet haben.

Bei aller Liebe zur Emanzipation: Den Ausdruck „Abgeordnetin“ halte ich für etwas bekloppt: Da gibt es mal eine Wortform, die alle Geschlechter umfasst – und dann wird sie verballhornt. Zum Grossthema: Es geht mir darum, gute Geschichte wieder lebendig zu machen auch für die Menschen, die etwas mit geringerem geschichtlichen Wissen ausgestattet sind. Es gehört schon viel Unwissenheit dazu, in der AfD die Verkörperung einer heilen Welt zu entdecken.

 Grundrechtsvergiftung am Artikel 1 Grundgesetz

Ein Wort zur Menschenwürde. Der rechtskonservative Jurist Matthias Herdegen (CDU), hat im wichtigsten Kommentar zum Grundgesetz versucht, den Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ in einen Kernbereich und einen Randbereich auseinanderzudividieren. Wie kann das sein?

Was Matthias Herdegen hier macht, ist Grundrechtsvergiftung. Er bläst einen bösen Geist in diesen wunderbaren Artikel hinein. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – das ist ein Satz wie eine pointierte SMS, das ist eine beeindruckende Antwort auf die Greuel und die Schrecknisse der Nazizeit. Da dürfen nicht, wie Herdegen das tut, viele Wenns und viele Aber hineingepackt werden. Dann wird nämlich aus dem kompromisslosen Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ der bittere Satz „Die Würde des Menschen war unantastbar“. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist das Fundament unserer Gesellschaft.

Über alle Eingangstüren der Alten- und Pflegeheime schreiben

Der Artikel 1 sollte an so viele Orte geschrieben werden, er müsste zum Beispiel über allen Eingangstüren der Alten- und Pflegeheime stehen. Wir hatten kürzlich im Bundestag die Debatte über Sterbehilfe. Es geht dabei um die Würde im Leben und im Sterben. Es wäre der Horror, wenn ein würdiges Sterben zu einem Ausweg würde aus einem unwürdigen Leben. Ich habe gelesen, dass etwa in NRW in zehn Jahren ein Drittel der Pflegekräfte fehlen werden. Wir wissen, wie es schon heute aussieht in der Pflege, wir ahnen, was uns dann blüht. Aber es ist bis heute kein Konzept erkennbar, wie die Würde der Menschen im Alter gesichert und gewährleistet werden kann.

Das Friedensgebot des Grundgesetzes beschreibt das erste Kapitel, der Januar Deines Lebens. Ich war erstaunt, wie sehr der bürgerrechtliche Journalist Prantl seine Werte auf das Christentum, zum Teil auch auf die Kirche baut.

Aus der Erfahrung zweier Weltkriege friedensbewegt

Da geniere ich mich kein bisschen. Ich habe da als junger Mensch viel gelernt – Werte wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Solidarität und Aussöhnung. Es ist letztendlich egal, wo man lernt, sich für eine soziale und friedliche Gesellschaft einzusetzen. Es ist gut, wenn man es lernt. Beim Schreiben am Buch „Mensch Prantl“ ist mir bewusst geworden, auf welcher Basis ich da stehe. Mir ist aber auch klar geworden: Wenn Werte nur gelehrt, aber nicht gelebt werde, entsteht Leere. Das ist das Problem zumal der katholischen Kirche von heute. Ich hatte das Glück, in einer Großfamilie und in einer Gemeinde aufzuwachsen, die mir Kraft fürs Leben gegeben hat. Deshalb zum Beispiel ist in meinem Buch immer wieder von meiner Großmutter die Rede, die mir eine wunderbare Begleiterin war: weise, lebenstüchtig und lebenskräftig, was man daran merkt, dass sie fünfzehn Kinder hatte. Sie war – aus der Erfahrung zweier Weltkriege – friedensbewegt. Das hat mich mehr geprägt, als ich es vor dem Schreiben des Buches dachte. Als ich zum Ukraine-Krieg kommentierte, fiel mir ihre Kiste ein, in der sie die Briefe ihrer Söhne und Schwiegersöhne von allen Fronten zweier Weltkriege aufbewahrte. Auf dieser Kiste saß sie bisweilen und erzählte dem Buben Heribert vom Elend des Krieges und vom Glück des Friedens. Würde sie noch leben, sie würde mir sagen: „Bub, schreib für den Frieden.“ Der Gedanke hat mich ermuntert, herausgefordert und beflügelt. Sie sieht mir von irgendwoher zu und sagt: „Heribert, tu was, ganz einflusslos bist Du ja nicht, schreib was“.

Das spürt man sogar zwischen Deinen Zeilen.

Das ist Heimat. Ich bin gerne in meiner oberpfälzischen Heimat – sehe aber, um ein anderes Thema anzusprechen, wie der Flächenfraß an der Heimat frisst, wie der Flächenverbrauch grassiert, wie der Boden immer weiter versiegelt wird. Bei der Outletisierung, der Möbelhausierung und der Parkplatzisierung ist Bayern deutscher Spitzenreiter, gefolgt von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. In meinem Heimatstädtchen hat man ein Amazon-Auslieferungslager gebaut, und wenn Du das siehst, dann denkst Du, an den Planungen sind vierzig Jahre Entwicklung spurlos vorbeigegangen. Und so geht es mir in vielen grundsätzlichen Fragen, über die ich in diesen Tagen nachdenke: Was haben wir erreicht?

Ich kenne viele Radikaldemokraten, Grüne, Linke, Linksliberale, Sozialdemokraten, Anhänger der christlichen Soziallehre und der Aufklärung, Friedensbewegte, – nicht in Regierungsämtern – die sich  das derzeit angesichts von Krieg, Klimakrise, Hunger und Vertreibung fragen.

Ich hatte in den Wochen vor ihrem Tod Kontakt mit Antje Vollmer, sie konnte ihrer schweren Erkrankung wegen nicht mehr gut reden, also haben wir uns geschrieben. Ihre Gedanken zu Krieg und Frieden hat sie in ihrem letzten Essay prägnant zusammengefasst. Ein Satz darin hat mich besonders ergriffen: „Gerade die Grünen, meine Partei, hatte einmal die Schlüssel in der Hand zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechten Welt … Wer die Welt retten wollte, musste ein festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben. Wir hatten dieses Friedensbündnis greifbar in den Händen. Was hat die heutigen Grünen verführt … ihre wertvollsten Wurzeln verächtlich zu machen?“

Für Deutschland ist Amerika unverzichtbar, aber Russland ist unverrückbar.

Als ich den Text las, wusste ich, das ist ihr politisches Vermächtnis, ihr finales Plädoyer für den Frieden.

Ja er enthält vieles von dem, was auch ich denke und was meinen Blick auf die Politik der Grünen ausmacht. Friedenspolitik – da bin ich geprägt von Egon Bahr, den ich ganz gut kannte. Im Urlaub saßen wir einmal in Südfrankreich auf einem Badesteg am Meer, er in einer altväterlich-riesigen Badehose, die ihm fast zur Brust reichte, und redeten über seine Entspannungspolitik. Er sagte: „Probieren, probieren, probieren – es geht darum, eine gute Zukunft zu finden.“ Seine berühmte Rede über „Wandel durch Annäherung“ in der Evangelischen Akademie in Tutzing ist jetzt genau sechzig Jahre her – und die Leitgedanken haben auch Gültigkeit in der sogenannten Zeitenwende: „Für Deutschland ist Amerika unverzichtbar, aber Russland ist unverrückbar.” Das stimmt immer noch.

Du nennst die deutsch-russischen Städtepartnerschaften in Deinem Buch – sie beizubehalten auch nicht ruhen zu lassen, um den Gesprächsfaden aufrecht zu erhalten. Wie sollen denn Russen sonst andere Informationen bekommen, außerhalb der Propaganda?

Ich habe in den ersten Monaten des Ukrainekriegs einen Vortrag in Wolfsburg gehalten – und den Bürgermeister darin sehr bestärkt, die Städtepartnerschaft auf kommunaler Ebene fortzuführen, als kleinen Widerstand gegen den Krieg und gegen russische Desinformation. Ich weiß nicht, ob das noch geht. Aber wenn die Sanktionen gegen Putin auf Kultur und Kunst ausgedehnt werden, wenn Werke von toten russischen Künstlern nicht mehr aufgeführt werden, wenn lebende Künstler nicht mehr auftreten sollen, weil sie russische Wurzeln haben – dann ist das nicht die Zeitenwende, die ich mir wünsche. sondern Sippenhaft. Eine Zeitenwende erleben wir übrigens auch innenpolitisch, wenn eine extrem nationalistischen Partei, die AfD, immer mehr Wähler gewinnt, wenn sie die politische Agenda bestimmt. Ich frage mich: Wenn wir eine wehrhafte Demokratie sein wollen, müssen wir nicht diese Partei verbieten, wenigstens die eindeutig neonazistischen Landesverbände in Thüringen und Brandenburg? Was soll denn noch passieren? Als es einst vor dem Bundesverfassungsgericht um ein Verbot der NPD ging, war sie angeblich zu klein, um sie zu verbieten. Und jetzt soll die AfD zu groß sein? Was denn nun?

Gegen die Verwüstung der Demokratie ein Zeichen setzen

Die Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger verweist im Spiegel angstvoll auf die Gefahr, in Karlsruhe zu scheitern. Aber müsste nicht zumindest die gesichert rechtsextremistische Jugendorganisation „Junge Alternative“ in einigen Ländern verboten werden?

Meine Angst vor der Verwüstung des Gemeinwesens ist größer, als die Angst der Professorin Schönberger vor einem Scheitern in Karlsruhe. Ich habe jedenfalls keinerlei Zweifel daran, dass die rechtsextreme Jugendorganisation der AfD verboten werden kann. Für die neonazistisch dominierten AfD-Landesverbände in Thüringen und in Brandenburg gilt das auch. Natürlich ist es richtig, auf die politische Bekämpfung zu setzen. Aber wie schaut der politische Kampf bisher aus? CDU/CSU, die SPD, die Grünen und die FDP geben sich gegenseitig die Schuld am Erstarken der AfD, Friedrich Merz erklärt die Grünen zum Hauptfeind; das ist nicht nur peinlich, das ist gefährlich, das fördert nur die wutgetränkte Apathie, die dazu führt, dass viele Menschen AfD wählen. Ich denke, dass ein Verbotsverfahren aufrüttelnde und abschreckende Kraft hat.

Ich las dieser Tage einen Aufruf katholischer Bischöfe an die Politik, diese tue zu wenig gegen den Klimawandel. Unterschrieben hatte auch ein gewisser Kardinal Woelki aus Köln, der den ganzen Appell für mich unglaubwürdig macht. Wie kann, so habe ich mich gefragt, ein Mensch derartig engstirnig und von sich selbst besoffen sein, dass er gar nicht merkt, dass er jeder Sache und der Katholischen Kirche, ja der Religion unermesslich schadet? – Nicht, dass ich als Ungläubiger traurig darüber wäre…

Woelki in der Blase…

Woelki lebt wohl in einer ecclesialen Blase. Er sieht sich, so denke ich, als eine Art Märtyrer gegen die Moderne. Warum ihn Papst Franziskus nicht längst abberufen und durch eine spirituelle Persönlichkeit ersetzt hat? Papst Franziskus interessiert sich nicht so sehr für die Krisenkirche in Europa, die Kirche schrumpft dort, aber in Südamerika und in Afrika wächst sie, dort ist die Kirche lebendig. Hat Franziskus, was Europa angeht, resigniert? Oder will er den deutschen Bischöfen eine Lektion erteilen, dass sie sich nicht so wichtig nehmen sollen? Franziskus glänzt in der Kapitalismuskritik und seinen Appellen zur Migration, aber nicht in den Bereichen, die den synodalen Weg betreffen. Köln bräuchte einen Kölschen Franz von Assisi, dem die Leute vertrauen, weil er bescheiden ist, naturverbunden, charismatisch und sozial. Ich weiß nicht, ob es in Deutschland so einen gibt. Und wenn es ihn gibt – kommt er im deutschen Katholizismus überhaupt über den Rang eines Ortspfarrers hinaus?

So ein oder zwei solcher Ortspfarrer gibt es in Köln, aber die werden nix in der Kirche. Das bringt mich zur Moral und Deiner Frage an den ehemaligen Außenminister Klaus Kinkel: „Wie viel Blut muss an der Hand eines Diktators kleben, dass Sie ihm nicht mehr die Hand schütteln?“ und er hat geantwortet: „Das kommt darauf an.“ – was Du, wie Du schreibst, empört zurückgewiesen hast, heute aber anders siehst.

Weil man mit blossen moralischen Gesten kaum jemandem hilft, mit moralischem Dünkel schon gleich gar nicht.

Und mir fällt die Außenministerin ein, die wortreich in China die Politik gegenüber den Uiguren anprangert, aber keinen einzigen Dissidenten befreit hat, und ich erinnere mich dann an Hans-Dietrich Genscher, der in solchen Fällen wenig öffentlich gesagt hat, vielleicht sybillinisch „ja, die Menschenrechtslage ist schwierig“, aber gleich oder Monate später wurden Dissidenten oder politische Gefangene freigelassen und durften in den Westen ausreisen. Hat sich da Politik grundsätzlich geändert?

Aufgesetzter Moralismus

Da hat sich etwas geändert, und zwar nicht die Moral, sondern der moralische Habitus. Das ist etwas, das mich sehr stört. Für mich ist die Personifikation dieser Veränderung tatsächlich Annalena Baerbock. Ein aufgesetzter Moralismus, der letztendlich den deutschen und europäischen Interessen, aber auch der Durchsetzung menschenrechtlicher Anliegen schadet; der aufgesetzte Moralismus denkt sich nicht hinein in die Art und Weise, wie der Andere denkt. Diplomatie besteht doch darin, mit anderen zu agieren und etwas zu erreichen, nicht Theater zu spielen. Sie spielt zu oft Theater.

Ich war neulich in der Premiere von „Julius Caesar“ im Sommertheater von Oberammergau. Laientheater, aber vom genialen Regisseur Stöckl inszeniert. Es war laienhaft gespielt, aber genauso kommt mir Annalena Baerbock vor – großes Pathos, laienhaft; aber es fehlt hier leider der geniale Regisseur. Ich weiß, es ist ein alter grüner Satz: „Politik ohne Moral ist unmoralische Politik“, das habe ich als junger Journalist dem damaligen Außenminister Kinkel entgegen gehalten, aber heute denke ich, „Prantl, so leicht darfst Dus Dir als Schreiber nicht machen!“ Und: „So leicht darfst Du, Annalena Baerbock, es Dir als Außenministerin nicht machen!“

…sie schweigt beharrlich zur Streumunition…

Sie ist da sehr sparsam mit ihren Äußerungen. Sie schweigt zur US-Verfolgung von Edward Snowden, sie schweigt zu Julien Assange – da hat sie vorher große Worte im Wahlkampf gesprochen; aber jetzt, wo die Auslieferung von Assange an die USA droht, kommt von ihr nichts.

Streumunition und die Haltung von Frank-Walter Steinmeier

Bei der Sache mit der Lieferung von Streumunition durch die USA an die Ukraine kritisiere ich besonders die Haltung von Frank-Walter Steinmeier. Der Steinmeier, der im Jahr 2008 als Außenminister dieses Abkommen in Oslo unterzeichnet hat, drückt sich jetzt vor einer klaren Äußerung; er führt Eiertänze auf. Die Bundesrepublik hat sich damals nicht nur verpflichtet, keine Streumunition zu besitzen, sondern auch auf die Nichtverbreitung hinzuwirken, auf andere Staaten wie Russland oder die USA einzuwirken, diese geächtete Munition nicht zu gebrauchen. Und jetzt sagt Steinmeier „ich bin befangen“ – das ist Feigheit vor dem Freund USA. Wenn ich eine völkerrechtliche Verpflichtung unterschreibe, kann ich mich doch nicht später raushalten mit der Begründung, den USA nicht in den Arm fallen zu wollen. Gerade unter Freunden muss Vermittlung möglich sein und versucht werden.

Da fällt mir ein Satz ein, den Franz-Josef Strauß im Wahlkampf 1949 gesagt hat: „Wer je wieder ein Gewehr anfasst, dem soll der Arm abfallen.“ Auf Steinmeier angewendet: Wenn Steinmeier die Verpflichtung unterschreibt, alles Menschenmögliche gegen den Einsatz von Streumunition zu unternehmen und das dann missachtet, dann müsste ihm eigentlich die Hand abfallen, mit der er 2008 das Abkommen unterschrieben hat.

Es ist falsch, die frühere Russlandpolitik in Bausch und Bogen zu verdammen

Ich mag diesen Präsidenten eigentlich sehr, weil er, wie eingangs schon gesagt, ein so feines Geschichtsbewusstsein hat. Aber ich wünsche ihm mehr Mut, auch den Mut, seine eigene frühere Russland-Politik nicht in Bausch und Bogen zu verdammen. Sie war ein Versuch; sie ist gescheitert. Die Hoffnung, den Frieden sichern zu können, war ja nicht per se falsch.

Ich möchte noch auf den Journalismus, den Prantl und auf seine journalistischen Kolleginnen und Kollegen kommen. Wie soll das Verhältnis zwischen Politik und Journalismus sein? Im Vorwort des Buchs „Mensch Prantl“ steht ein Satz, den Heiner Geißler dem Autor einst in ein Buchgeschenk zum Geburtstag geschrieben hat: „Zwischen Politikern und Journalisten gibt es keine Freundschaft. Wenn es sie gäbe, wären wird Freunde.“ Ich habe im Prantl-Buch viel über das Kommentieren als journalistische Disziplin gelernt. Und ich frage mich: Hat es unter den Bedingungen des Krieges eine Veränderung des Journalismus gegeben?

Ich habe mich das schon in der Corona-Zeit gefragt, ich frage mich das seit Beginn des Ukraine-Kriege. Angesichts der Unsicherheiten der Pandemie ist in der langen Pandemie-Zeit eine rechthaberische Sicherheit über die Richtigkeit der jeweils eigenen Meinung gewachsen. Es gab und gibt eine grassierende Unduldsamkeit, es gibt eine wachsende Unfähigkeit, Andersdenkende verstehen zu wollen und verstehen zu können. Die Medien waren und sind an dieser Unduldsamkeit nicht unschuldig.

Veränderung der öffentlichen Debatte und des Journalismus durch den Krieg

Wo ist die große respektvolle Diskussion über den richtigen Weg, wo ist die Achtung vor der Meinung des Anderen? Da sind schrille Töne, da ist ein militärisches Brausen in den sozialen Netzwerken, da ist eine ob der russischen Brutalität schockierte Öffentlichkeit, da ist ein jedenfalls lange Zeit sehr abwägender Bundeskanzler, der von sozialen und klassischen Medien getrieben wurde und getrieben wird, sich noch viel stärker in der Ukraine zu engagieren. Den Philosophen Jürgen Habermas irritierte schon im Frühjahr 2022 „die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten“. Mich irritiert das auch. Mich irritiert die radikale Konversion ehemaliger Pazifisten, die sich nicht einfach „zu Realisten bekehrt“ haben, sondern sich, ich zitiere da noch einmal Habermas, „geradezu in Realismus überschlagen“.

Ist der Journalismus zu schmalspurig geworden, ist er zu fixiert auf bestimmte Ergebnisse?

Wir sollten uns nicht freiwillig kastrieren. Journalismus ist nicht dann oder nicht erst dann gut, wenn er die Mehrheitsmeinung oder die Mehrheitssicht auf die Dinge vertritt,. Das gilt ganz besonders im Meinungsjournalismus. Wäre er nur dann gut, wenn er die Mehrheitsmeinung vertritt, könnte man die Kommentare ja von Infratest, von der Forschungsgruppe Wahlen oder von Civey schreiben lassen. Guter Journalismus steht im Zweifel auf der Seite der Schwächeren. Aber ich war und bin schon irritiert darüber, wie weitgehend einhellig sich der Journalismus für immer mehr Waffenlieferungen eingesetzt und hier die Bundesregierung jedenfalls eine Zeitlang regelrecht vor sich hergetrieben hat.

Einsatz von Mitteln zum Töten erfordert, immer wieder abzuwägen

Hat sich der Journalismus zum Akteur aufgeschwungen?

Ich selbst habe mich immer wieder und mit großer Kraft für den Erhalt des Asylgrundrechts eingesetzt . Ich frage mich, ob ich mich da nicht auch als Akteur begreife. Ich habe versucht und versuche es immer noch, mich für die einzusetzen, die ansonsten keine Stimme haben -für Schwache, für Flüchtlinge, für Arme, für Obdachlose. Die von Putin überfallenen Ukrainer muss man auch zu den Schwachen zählen, denen man helfen, für die man sich einsetzen muss. Dabei muss man sich aber auch vergegenwärtigen, dass dieser Einsatz ganz massive Folgen hat, nämlich den Einsatz von Mitteln zum Töten. Das erfordert immer wieder ein großes Abwägen.

Es gibt einen Unterschied, den ich als Kriegsdienstverweigerer vielleicht deutlicher sehe, weil es in der Verhandlung um die Anerkennung der Gewissensgründe zu meiner Zeit die richtige Antwort war, auf die perverse Frage, die jedem Verweigerer gestellt wurde: „Wenn drei Kerle im Wald ihre Freundin vergewaltigen wollen und Sie sind bewaffnet, was machen Sie dann?“ Da musstest Du den Unterschied zwischen persönlicher Notwehr und Staatsnotwehr kennen. Die Flüchtlinge sind in persönlicher Not, wie die Freundin, die Obdachlosen oder Opfer eines Straßenräubers – sie sind nicht handlungsfähig aus sich selbst heraus. Ein Staat generell und die Ukraine im Besonderen war bewaffnet und immer handlungsfähig und es gab genug Zeit, ihr beizuspringen. Und sie hatte lange mit einem teils übergriffigen Botschafter Melnik einen in allen Medien mehr als wohl behandelten Fürsprecher.

“Wir ringen zuwenig darum, wie der Krieg beendet werden kann”

Wenn ich für Asyl eintrete, geht es immer auch darum, das Sterben von Menschen im Mittelmeer zu beenden. Es geht um Basis-Sicherheit für geflüchtete Menschen, In der Ukraine geht es auch um eine Basis-Sicherheit. Diese Sicherheit vor der russischen Aggression soll durch Waffenlieferungen erreicht werden; sie werden gefordert, sie werden erfüllt, sie sind gegebenenfalls Teil der notwendigen Nothilfe. Wir reden aber wenig darüber, wie die Waffen wirken, welche Zerstörungskraft sie haben. Wir sehen die Panzerlieferungen, nicht aber, was die Waffen anrichten. Waffen töten. Ich war bewegt, als ich nach der Oscar-Verleihung den Film „Im Westen nichts Neues“ nochmal angeschaut habe. Man sieht, man hört die Verhandlungen im Wald von Compiegne. Ich war bewegt von der unbedingten Entschlossenheit des deutschen Verhandlungsführers Matthias Erzberger, das große Sterben in den Schützengräben so schnell es nur geht zu beenden; er ist dafür 1921 von der rechtsextremistischen Organisation Consul umgebracht worden. Es gilt, nicht einfach nur den Krieg für die Ukraine echt oder vermeintlich irgendwie zu gewinnen. Es gilt, dort den Frieden zu gewinnen. Das beginnt damit, dass nicht mehr gebombt und geschossen, dass nicht mehr getötet wird. Wir ringen im Ukrainekrieg viel zu wenig darum, wie der Krieg beendet werden kann.

Wir werden auch nach dem Nato-Gipfel in Vilnius immer wieder drüber reden, ob und wann die Ukraine in die NATO aufgenommen werden kann, soll oder muss. Das ist in Ordnung. Aber man darf auch die Frage, wie es zum Waffenstillstand und zu einem Frieden kommen kann, nicht als Nonsens abtun mit der Begründung, man könne ja mit Putin eh nicht reden. Ich sag darauf genauso plakativ, dass man, wenn es um den Frieden und die Rettung von Menschenleben geht, auch mit dem Teufel reden müsste. Mit einer solchen Erklärung gilt man womöglich als Putinfreund. Aber wer für Frieden wirbt, wer über Waffenstillstand diskutiert, ist ein Freund des Grundgesetzes, das uns den Frieden auferlegt.

“Putinversteher” stigmatisiert und zu “Unberührbaren” erklärt

Die demokratische Öffentlichkeit in Kriegszeiten – wie kann es sein, dass ein Krieg rechtfertigt, dass bestimmte Menschen, die mit dem Stigma „Putinversteher“ versehen werden, praktisch von der Bühne des Sag- und Denkbaren verbannt werden? Ich denke an Gabriele Krone-Schmalz, jahrzehntelange Korrespondentin in Washington und Moskau, unendlich klug, mit Lebenserfahrung, die ihresgleichen sucht, die praktisch zur „Unberührbaren“ erklärt worden ist, oder Georg Restle, der ja auch aus der Ukraine berichtet, wird ebenfalls angefeindet. Man beginnt, Journalist*inn*en zu mobben, die das tun, was Voltaire forderte: „Ihre Meinung ist genau das Gegenteil der meinigen, aber ich werde mein Leben daransetzen, dass Sie sie sagen dürfen.“

So etwas bekümmert mich; ich mag einen Journalismus, der die verschiedensten Register zieht, der alle Seiten beleuchtet, der nicht schmalspurig ist, der auch einmal andere Wege geht; ich mag die Andersdenkenden – vielleicht auch deshalb, weil ich selber bisweilen, zum Beispiel in Fragen von Asyl und Migration, ein Andersdenker bin. Wenn das Andersdenken massiv verunglimpft, wenn Andersdenkende ausgegrenzt werden, dann sollen eigentlich unsere Berufsorganisationen, dann sollten die Journalistenverbände, dann sollte auch das Netzwerk Recherche sich dazu erklären. Es gibt den Boden des Grundgesetzes; wer darauf steht, ist zu respektieren. Der Satz „Eine Zensur findet nicht statt“ steht im Grundgesetz; und er ist sehr umfassend zu verstehen. Monokultur tut dem Wald nicht gut, dem Journalismus und der öffentlichen Debatte auch nicht. Es gibt ja so etwas wie das kleine Einmaleins der öffentlichen Diskussion: Dazu gehört die Erkenntnis, dass womöglich auch der Andere recht haben könnte. Gerade bei den ganz großen Streitfragen muss man sich das immer wieder vor Augen halten. Das sage ich mir auch selber. Man darf nicht rechthaberisch werden, nicht überheblich, nicht unduldsam, weil man sich mit Wahrheit im Bunde wähnt.

Ein Marshall-Plan statt Mauern und NATO-Draht?

Reden wir übers Asylrecht Kann sich etwas ändern, solange wir glauben, Abschottung würde etwas ändern, Nato-Draht, Überwachungskameras, libysche „Küstenwache“, Mauern in Mexiko – brauchen wir nicht vielmehr einen Marshall-Plan für Nordafrika und den Nahen Osten, eine Solarindustrie von Marokko bis Syrien, die hunderttausende Arbeitsplätze vor Ort und Wohlstand schafft und unserer Industrie den dringend benötigten Wasserstoff bringt?

Diese Frage stelle ich mir seit dreißig Jahren. Seit über dreißig Jahren bearbeite ich das Thema. Fluchtursachenbekämpfung ist leider in dieser Zeit immer abstrakter geworden. Es besagt heute gar nichts mehr. Die EU-Innenminister halten es für Fluchtursachenbekämpfung, wenn sie jetzt nach Tunesien fahren und dem Präsidenten dort Geld anbieten dafür, dass er die Flüchtlinge aufhält. Warum solche Marshall-Plan-Konzepte, wie Du sie nennst, nicht verfolgt werden: Ich weiß es nicht. Weil der kreative Geist fehlt? Weil die Persönlichkeiten fehlen, die langfristige Konzepte mit Überzeugungskraft und mit Durchsetzungskraft verfolgen? Der letzte unbequeme Entwicklungsminister, es war Gerd Müller von der CSU in der Regierung von Angela Merkel, ist ja in seiner eigenen Partei randständig gewesen. Es ist niemand da, der oder die durchdringen könnte gegen diese ganzen Mauerbauer. Natürlich kann man schnell eine Mauer bauen, dagegen dauert es ein Jahrzehnt und länger, bis sich die Wirkungen eines solchen Marshallplans zeigen würden. Das überschreitet die Horizonte einer wahltermin-getakteten Politik. Es bröckelt die Ablehnung der Abschreckungspolitik der Ungarn, Polen, auch der Österreicher – sie bröckelt auch bei den Mitgliedern der deutschen Ampelregierung. Die SPD-Innenministerin Faeser vertritt Positionen, die ihr vor zwei Jahren niemand zugetraut hätte. Man glaubt, mit Rechtsaußenpositionen den Rechtsaußenparteien das Wasser abzugraben. Dabei weiß man seit Jahrzehnten, dass man so nicht das Wasser abgräbt, sondern Wasser auf deren Mühlen leitet. Das lässt mich schier verzweifeln.

Körpersprache des Staates, die den Rechten recht gibt

Ich erinnere mich an 1992/93, da war es nicht die AfD, sondern die CDU, die im Landtag NRW die Wörter Asylschwindel, Asyltourismus, Asylbetrüger, Wirtschaftsflüchtlinge im Mund führte, während Rechtsextremisten und ganz „normale“ besoffene Junggesellen in Weilerswist, und Hünxe, jugendliche Neonazis in Solingen und an vielen anderen Orten Brandanschläge unternahmen. Du führst die Daten auf: am 26.5.93 beschließt der Bundestag die Abschaffung des bisherigen Asylrechts, am 29.5.93 brennt in Solingen das Haus der Familie Genç. Ich habe mich vor Jahren intensiv mit Körpersprache beschäftigt. Die Asylpolitik damals und heute kommt mir vor, wie eine Körpersprache des Staates, der den Rechtsextremisten recht gibt, obwohl er mit Worten etwas anderes sagt.

Ja, das ist schön beschrieben; und wenn wir darüber reden, fällt mir der Spruch ein, den ein Sprayer in Solingen seinerzeit an Hauswand gesprayt hat: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch.“ Mit diesem Satz sind eigentlich Genese und Folgen der Grundrechtsänderung schön beschrieben. Wir erleben jetzt an den europäischen Außengrenzen die Wiederholung dessen. Das ist, was mich so empört und das bei meinen Journalistenschülerinnen und -schülern immer zur Frage führt: „Und was haben Sie erreicht, mit Ihren hundert oder zweihundert Leitartikeln zum Asylrecht? – Dass alles so weitergeht?“ Vielleicht habe ich wenigstens die engagierten Menschen und Gruppen stärken können, die sich für Flüchtlinge einsetzen.

Artikel 23: “Kein Anschluss unter dieser Nummer”

Das bringt mich zur nächsten Verfassungsfrage, zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland 1990. Was wäre das für ein Prozess auf Augenhöhe gewesen, wenn die beiden deutschen Staaten über eine Formulierung einer gemeinsamen Verfassung, wie in Artikel 146 Grundgesetz vorgesehen, auf Augenhöhe verhandelt und einen Zusammenschluss unter einer gemeinsamen, neuen Verfassung vollzogen hätten, statt des „Anschlusses“ nach Artikel 23?

Die Überzeugung hatte ich damals, ich saß in meinem ersten „Presseclub“ im WDR, damals waren noch Politiker dabei, ich habe den Artikel 146 vertreten und Wolfgang Schäuble, damals Innenminister, sagte: „Herr Prantl, das sind doch alles Phantastereien, wir haben die Zeit dafür nicht.“ Ich hab damals sinngemäß gesagt: „Wenn wir uns jetzt die Zeit nicht nehmen, dann wird uns das später einholen.“ Ich glaube, dass das, was wir jetzt im Osten erleben, die Stärke der AfD in Brandenburg, in Thüringen, in anderen Bundesländern im Osten hat auch etwas damit zu tun, wie wir beim Einigungsprozess mit dem Osten umgegangen sind. Es war nicht wertschätzend gegenüber den Menschen und ihren Erfahrungen, mehr noch: Es war missachtend.

Den Einigungsprozess kann man nicht nachträglich anders gestalten. Aber es gäbe nachträgliche Gesten der großen Anerkennung, die ich für wichtig halte – diese zum Beispiel: Man könnte die deutsche Nationalhymne, die ja nur noch eine offizielle Strophe hat, durch eine zweite Strophe ergänzen, nämlich durch die ehemalige DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. Das ist ein schöner Text, das sind starke Zeilen, Es hat, es hätte noch immer hohe symbolische Kraft, die beiden Strophen, die West-Strophe und die Ost-Strophe, zu singen.

Der Zukunft zugewandt…und ein mutiger Präsident!

Lothar de Maizière, letzter Ministerpräsident der DDR, hat seinerzeit diesen Vorschlag gemacht und ist von Helmut Kohl dafür furchtbar abgebürstet worden: Ob er denn völlig verrückt geworden sei, wir im Westen wären doch die Sieger der Geschichte, wir könnten doch nicht „deren“ Hymne singen, die Hymne der kommunistischen Verlierer. Ich halte auch in einer Demokratie Gesten für sehr wichtig, mir würde es sehr gefallen, wenn wir künftig bei öffentlichen Anlässen aufstehen und beide Strophen sängen. „Einigkeit und Recht und Freiheit…auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. Und dann könnten wir diskutieren, wie diese Zukunft aussieht, in Deutschland in Europa, ob und wie wir zum Frieden kommen; und auch darüber, ob und wie es gelingen kann, Moskau für Europa und für die europäischen Werte zu gewinnen. Wie schaut das künftige Europa aus, wie schaut die Welt auf Europa … der Zukunft zugewandt: das wäre unglaublich schön.

Der Text passt perfekt auf die Melodie.

Es bedürfte nur eines Briefs des Bundespräsidenten an den Bundeskanzler. Wir bräuchten also einen mutigen Präsidenten, der sich was traut. Es wäre dies ein herrlich spektakulärer, ein souveräner Brief zum 75. Grundgesetzjubiläum im nächsten Jahr. Frank-Walter Steinmeier ist in seiner zweiten Amtszeit, er kann sich das trauen. Lieber Frank-Walter Steinmeier, trauen Sie sich was!

Vielen Dank für dieses Gespräch

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

3 Kommentare

  1. Rudolf Schwinn

    Sehr vielen Dank für dieses ernste. dieses bedeutende Gespräch. In einer Zeit, da sich Demagogen und Phrasendrescher, Karrieristen und Opportunisten in den meist verbreiteten Medien ungeniert austoben können, tut es wohl , Satz für Satz den bedachten Austausch von Roland Appel mit Heribert Prantl in hoher Aufmerksamkeit in Wiederholung wahrzunehmen. Ich vestehe und nutze ihn als Orientierungshilfe in gefährdeter Zeit. Und ein Mal mehr bin ich sehr froh, dass Martin Böttger mit dem Beueler Extra-Dienst Tag für Tag in kargerZeit ein Stück Aufklärung vermittelt. Wie gut, weil wichtig dies ist, erkennt Jeder, der im Blick auf den Saus-und-Braus in den gedruckten wie gesendeten mainstream-Medien nur noch entsezt den Kopf schütteln kann.

  2. Der Maschinist

    Ein, nicht nur im Umfang, wahrhaftig großer Wurf! Vielen Dank, Roland – und vor allem an Heribert Prantl. Ein Vorbild! Alles vom Besten zum 70. Geburtstag, Dank für all die Jahrzehnte engagierten Journalismus und noch viele gesunde und produktive Jahre, für ihn und für uns, seine Leser*innen.

  3. Bärbel Stark

    … auch von meiner Seite vielen Dank für dieses nachdenkliche und anregende Gespräch zu für unsere Gesellschaften so enorm bedeutenden Kernthemen, angesichts zunehmender Erosion demokratischer Grundhaltungen und friedfertiger Strukturen.

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