Deklassierte aller Klassen vereinigt Euch!

Der Historiker Stephan Malinowski analysiert in der Sonntags-FAZ das Phänomen der „Reichsbürger“ mit Hilfe von Hannah Arendts „Mob“-Begriff. Damit gemeint ist nicht eine Desperado-Gruppe aus dem Prekariat. Es geht um ganz unterschiedliche Randgruppen, die aus ihren Herkunfts-Milieus, -Schichten und -Klassen herausgefallen sind, so wie etwa der Reichsbürger-Anführer „Prinz Heinrich XIII“, der vom eigenartig frisierten Frankfurter Geschäftsmann zum Kaiser-Darsteller mutierte.

Schon beim Lesen von Hannah Arendts Totalitarismusstudie ist mir aufgefallen, dass in ihrem Mob-Begriff viel analytisches Potenzial für die Jetztzeit stecken könnte. Das sollte man stärker nutzen.

Stephan Malinowski in der Sonntags-FAZ:

„Hannah Arendt hatte in ihrer zuerst 1951 publizierten Analyse der ‘Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft’ den Begriff ‘Mob’ als Leitkategorie verwendet. Dies nicht als pejorative Bezeichnung der Unterschichten, sondern als Verweis auf neue Mischungsverhältnisse. Zutreffender als marxistische Analysen oder die Rede von der Panik im Mittelstand skizzierte Arendt damit verschiedene Milieus seit dem späten neunzehnten Jahrhundert – von weißen Siedlern in afrikanischen Kolonien und antisemitischen Banden während der Dreyfus-Affäre bis zur Zusammensetzung der nationalsozialistischen ‘Bewegung’.

Arendt hatte den ‘Mob’ als Sammlung der ‘Deklassierten aller Klassen’ verstanden, als das ‘Volk in seiner Karikatur’, in welcher der Bauernsohn, der Volksschullehrer und Mitglieder des Hochadels im selben SA-Sturm marschierten. Unter den jetzt Beschuldigten und Verdächtigten finden sich Köche, Piloten und Tenöre. Diese aber kochen, wie zu vermuten ist, nicht im Ritz, fliegen nicht für Singapore Airlines und treten nicht in der Frankfurter Oper auf.

Von den Völkischen bis in die Gegenwart rekrutiert sich der ‘Mob’ im Arendt’schen Sinn aus tatsächlichen Modernisierungsverlierern und jenen, die sich von den Zumutungen der globalisierten Moderne subjektiv bedroht fühlen. Eben hier dürfe auch der Ort Heinrichs XIII. liegen. Nach Lichtung der Nebel wird man das designierte ‘Staatsoberhaupt’ wohl weniger als mächtigen Schattenfürsten denn als Figur deuten, die aus ihrem eigenen Milieu gefallen war.

Hannah Arendt hatte postuliert, dem Mob gelinge der Zugriff auf den Staatsapparat in dem Moment, da ein temporäres Bündnis von Mob und Elite entsteht – in Deutschland ist dies seit 1932 der Fall, als bürgerliche und adlige Vertreter der Funktionseliten zum offenen Bündnis mit dem nationalsozialistischen Mob übergehen.“

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.