Die Medienwelle der vergangenen Woche war der Crash, den Politiker*innen erleben, wenn sie raus in die feindliche Welt da draussen gehen. Dabei erlebten sie das, was Journalist*inn*en auch schon seit längerem erleben – und die meisten Menschen da draussen alltäglich: Aggression. Ja, woher kommt die bloss?

Sind es nicht die gleichen Politiker*innen, die gegenwärtig penetrant erklären, warum grosse Konflikte nur noch mit Waffengewalt und Aufrüstung gelöst werden können? Nein, nicht alle Politiker*innen meinen das, und nicht nur solche, die Flüchtlinge und Migrant*inn*en vertreiben wollen, werden bedroht. Sondern gerne solche, die selbst Flüchtling oder Migrant*innen*kind(-enkel) sind. In satireähnlicher Weise ist ein Wettkampf entbrannt, wer mehr Opfer von Gewalt ist. Gewaltursachen dagegen bleiben ausgeblendet – da würde eine differenzierte oder gar sachliche Debatte drohen, zu anstrengend für asoziale Netzwerke.

Zunächst zur Markierung meiner eigenen Position. Gewalt und Gewaltandrohung lehne ich seit meiner Kindheit ab. Damals schlicht deswegen, weil ich dabei immer als Verlierer schlecht abgeschnitten habe. Die frühkindliche Prägung wurde auch bei meiner Kriegsdienstverweigerung staatlich anerkannt, und ich habe sie seitdem nie innerlich bekämpft, sondern gedanklich und politisch ausgebaut – ein roter Faden meiner Biografie. Gewalt und Gewaltandrohung schädigt und gefährdet Grund- und Menschenrechte, sowie jeden demokratischen Diskurs. Eine Rechtfertigung kann es nur in Notwehrsituationen geben – politisch wäre das der Faschismus. Darum ist Gewalt gegen Journalist*inn*en und Politiker*innen nicht witzig, auch wenn jemand meint, die hätten was ausgefressen. Es gibt schlimmere Strafen für solche, als sie individuell zu verprügeln: Andere wählen und unterstützen, Anderes lesen, glotzen oder klicken.

Dass Medien und Politiker*innen aber eine solche Welle um unerfreuliche alltägliche Phänomene machen, ist eben auch allzu verräterisch. Einerseits ist es selbstreferenziell. Es gibt keinen anderen Berufsstand, der mehr Marktforschungsumfragen liest, und siehe, das sieht für sie nicht gut aus. Warum das so ist, dazu habe ich seit langem meine eigene Meinung: it’s the Neoliberalismus, stupid!

Schon in der BRD-Bundeshauptstadt Bonn hatte sich der politische Medienzirkus eingepuppt: in wenigen teuren Restaurants, Kölner Bordellen (und einem bei Andernach) und den immergleichen Absackerkneipen nahe des Regierungsviertels. Mit dem Umzug nach Berlin haben sie sich auch geografisch von allen städtischen (= menschlichen) deutschen Ballungsräumen abgesetzt. Was sie vom Land da draussen mitkriegen, ist zu 90-95% medienvermittelt, also selbstreferenziell. Das qualitative Problem deutscher Politik ist, unabhängig von politischen Positionen und Ideologien, dass sie selbst immer mediengetriebener wird (das eigentliche Erfolgsgeheimnis des Springerkonzerns mit seinen abkackenden Auflagezahlen). Und wir hier draussen merken das – und die, die es nicht rauf und runter analysieren, wie ich hier, fühlen es. Sie sind ja nicht blöd (mehrheitlich nicht).

Im Wahlkampf dann treibt es sie hinaus ins Land. Und nun haben sie sich erschrocken, wie es da aussieht und was da los ist. Ich weiss selbst, dass Parlanentarier*innen (und auch Minister*innen) in Arbeit und Terminen ersticken. Es ist eine grosse Kunst, wenn es ihnen gelingt, Alltagskontakt zur Wirklichkeit zu behalten. Nur sehr, sehr wenige beherrschen sie, selbst in der Kommunalpolitik, in der sie im wörtlichen Sinn nur als Amateur*inn*e*n agieren müssen (was aber nur die wenigsten Wähler*innen wissen). Das Hamsterrad, in dem sie sich bewegen, ist auch ein Trick des Systems, um sie ahnungsloser und fügsamer für finanzstarken Lobbyismus zu machen.

Medienkompetenz würde helfen. Und lesen. Bahnfahren. Selber einkaufen gehen. Fussballgucken. Theater besuchen. Und Schulen. Sozialämter, Flüchtlingsunterkünfte. Auf weitere Ämter verzichten und anderen den Vortritt lassen. Es gäbe viel zu tun, hauptsache weg vom Schreibtisch. Nur dann vor Mikrofone und Kameras, wenn Du vorher schon weisst, was unbedingt gesagt werden muss. Das darfst Du auch üben. Sprechen ist eine Kunst. Labern nicht … aber ich schweife ab.

Wenn Sie bis hierher gelesen haben, und immer noch mehr über Gewalt und Wirklichkeit wissen wollen, dann empfehle ich Ihnen das weiterlesen z.B. hier oder hier oder hier. Alle 11 Minuten ein “Femizid” – hässliches Wort für hässliche Tat.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net