Ein Versuch über den Zusammenhang von gesellschaftlicher Entwicklung, Parteimitgliedschaft und allgemeiner Politikverdossenheit

Dieser Beitrag ist zuerst am 9.2.2007 im “Freitag” erschienen und geringfügig aktualisiert worden.

In der Bevölkerung sind Kritik und Unverständnis an den Politikern auf Spitzenwerte gewachsen. Dieser Affekt hat eine demokratiegefährdende Seite: Abwendung von und Aversion gegen kontroversen Diskurs und “parlamentarische Schwatzbuden”, Legitimation für eigenes Nichtengagement und Desinteresse an gesellschaftlichen Angelegenheiten, die Sehnsucht nach dem “starkem Mann”, oder ersatzweise einer “Großen Koalition”. Dieser Affekt ist jedoch gleichzeitig ein Indiz für die durchaus sensible Wahrnehmung von Wirklichkeit. Denn Autismus  breitet sich auch dort aus, wo die Parteien ihr Personal gewinnen und entwickeln, an der Basis von Kreisverbänden und Kommunalpolitik.

Den Höhepunkt parteipolitischen Engagements erlebte die westliche Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Die Zahl der SPD-Mitglieder streifte die Millionengrenze, CDU und CSU kamen an die 800.000 heran. Fast drei Prozent der BRD-Bürger waren Parteimitglieder; in der heutigen Republik sind es weniger als halb so viele. Heute wird so getan, als seien damals ökonomisch Milch und Honig geflossen. Das ist falsch. Seit Beginn der siebziger Jahre stieg die Zahl der Erwerbslosen kontinuierlich. Es war freilich noch lange keine Million, und aus der Erfahrung des Wiederaufbaus in den fünfziger und sechziger Jahren machte man sich weis, das sei nur ein vorübergehendes Problem, das man, entsprechende politische Energie vorausgesetzt, schon lösen könne. Die Menschen glaubten an Dauerhaftigkeit und Kontinuität, gesellschaftlich und für ihr eigenes Leben. Dieser Glauben ist gründlich verloren gegangen. Die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hat dazu geführt, dass alle zunächst für sich selbst sorgen müssen. Während die heutige Rentnergeneration in der Mehrheit ein Berufsleben mit kontinuierlichem Aufstieg oder doch zumindest sozialer Sicherheit hatte, sehen die heutigen Jugendlichen ein Berufsleben vor sich, in dem prekäre Beschäftigung nicht mehr die Ausnahme sondern die Regel ist. Das ist ein durchgreifender “Erfolg”, den sich die großen deutschen Parteien an die Brust heften dürfen. Und wenn sie das nicht wollen, dann werden sie jetzt dazu gezwungen.

Denn dieser Erfolg rächt sich jetzt an ihnen selbst. Keineswegs leiden sie nur an dem demografischen Wandel, obwohl auch der zum Teil Resultat dieser Politik ist. Die gewachsene Unsicherheit der Individuen wirkt sich selbstverständlich direkt auf ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Familienplanung aus. Noch mehr allerdings wirkt es sich so aus, dass die Menschen weder Lust noch Zeit haben, sich in den Parteien, die das alles angerichtet haben, zu engagieren.

Wer tritt heute noch einer Partei bei? Natürlich waren es schon immer die Beamten. Sie haben einen sicheren Arbeitsplatz und es kann ihrer Karriere förderlich sein. Daran hat sich nichts geändert. Allerdings: es gibt Beamte, die das nicht “nötig” haben, Lehrstuhl-Professoren oder Richter zum Beispiel. Sie sind beruflich bereits ganz oben und können sich der Steigerung ihrer Lebensqualität widmen. Eine Parteimitgliedschaft kann dabei nur stören. Andere Beamte können dagegen nicht mehr: Die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer unter Parteineumitgliedern steigt nicht. Es gibt Studien, denen zufolge 60 Prozent von ihnen in der einen oder anderen Weise bereits berufskrank sind; Burnout oder Überengagement. Beides ist inkompatibel mit Parteiengagement.

Freiberufler müssen abwägen. Die Erfolgreichen haben keine Zeit und es auch nicht nötig, einer Partei beizutreten. Schwächere setzen dagegen auf den Spin-off-Effekt, den Parteinetzwerke bieten können. Das gilt zum Beispiel für Journalisten, Rechtsanwälte, Unternehmensberater und auch die vielen IT-Berufe. Für sie alle trifft aber bereits zu, dass nur eins erfolgversprechend verfolgt werden kann: der Beruf oder die Politik. Für beides reicht die Zeit nicht.

Als Faustregel kann gelten: Wer heute im Beruf seinen Mann und seine Frau steht, zusätzlich gar noch Verantwortung durch Familiengründung als Ernährer eines Haushaltes übernommen hat, findet und will keinen Zugang mehr zur Politik. Das Zeitbudget ist bereits streng verteilt. Im Beruf muss man Risiken früh erkennen und ihnen rechtzeitig vorbeugen; die Mehrheit der Erwerbstätigen fürchtet nichts mehr als den zukünftigen Verlust des Jobs. Logistik und Management des Familienbetriebs, egal ob es sich um Ehepaar mit Kindern, Alleinerziehende oder Patchwork-Familien handelt, fressen den Rest an Zeit und Kraft. Der Politikbetrieb nimmt auf diese Zwänge keine Rücksicht.

Zeit für die Partei haben allenfalls noch solche Singles, die beruflich nur – in der Regel prekäre – Teilzeitbeschäftigung haben, Familienväter, denen eine Frau den Rücken frei hält und Hausfrauen und -männer, deren Kinder “aus dem Gröbsten raus sind”. Hinzu kommen Studierende, die noch auf Orientierungssuche für sich und ihr Leben sind. Wenige von ihnen erweisen sich als “politische Talente” und erklimmen die politische Karriereleiter, die meisten beenden die aktive Parteiarbeit nach erfolgreichem Examen und Jobgewinn.

Diese Zusammensetzung wird niemand mehr ernsthaft als Querschnitt der Bevölkerung bezeichnen wollen. Es wird aber mit hohem Tempo der Querschnitt der Mitglieder unserer Parteien.

Das ist nicht nur quantitativ bedauerlich für das Funktionieren der hiesigen Demokratie. Katastrophaler sind die qualitativen Auswirkungen. Schon lange wird zu Recht beklagt, dass die Parteien programmatisch nichts mehr zu bieten haben. Neue Ideen entstehen woanders und landen in Parteidebatten erst, wenn sie schon wieder veraltet sind. Fast lächerlich und ärmlich wirkt es, mit welchen Kontrollreflexen sie zum Beispiel auf alle Internet- und Medienentwicklungen der letzten 20 Jahre reagierten. Kritischen Diskursen zur Globalisierung standen sie lange ignorant gegenüber, um sich, nachdem sie medienrelevant wurden, an sie ranzurobben.

Das ist kein Wunder, denn die verbliebenen Parteimitglieder leben nicht in den gesellschaftlichen Sektoren, in denen solche Diskurse entstehen. Sie sind voll ausgelastet damit, auf dem innerparteilichen Karrieremarkt zu bestehen. Parallel zur programmatischen Ausblutung steigt dessen Bedeutung im Alltagsleben eines Parteimitgliedes. Nicht die gegnerischen Parteien hat es im Visier, sondern innerparteiliche Rivalen, die ihm Themenfeld, Ressortzuständigkeit und Mandat streitig machen könnten. Hier herrscht bereits der reine Darwinismus; es gibt weder Dank für Verdienste noch Solidarität, allenfalls Zweckbündnisse. Aktive Parteimitglieder bedauern sich selbst als Opfer dieser Verhältnisse. Vier oder fünf Abende sind in der Woche mit Terminen besetzt; manchmal drei oder vier Termine am Tag für Ehrenamtliche. Am gesellschaftlichen Leben nehmen sie kaum noch teil, keine Zeit. Die Finanzschwachen unter ihnen wünschen sich sogar die vielen Sitzungen, um das kärgliche Sitzungsgeld aufzubessern. Kino, Theater, Vereinsleben wird nur noch über Einladungen und Freikarten wahrgenommen. Ansonsten besteht das eigene Sozialleben aus dem Nach-Sitzungsbier mit Seinesgleichen; bei der Gelegenheit werden die kommunalpolitischen Deals ausgehandelt.

Im permanenten innerparteilichen Konkurrenzkampf drehen die Aktiven auf diese Weise allesamt am Rad und merken nicht, dass es ein Hamsterrad ist. Die Öffentlichkeit dankt es nicht, im Gegenteil: diese Politik-Unkultur in der Kommune macht es interessierten Bürgerinnen und Bürgern fast unmöglich, noch einen lebensnahen und lebensbejahenden Zugang zu parteipolitischer Praxis zu gewinnen.

Den Parteien wird so die Möglichkeit verbaut, sich als “lernende Organisation” zu regenerieren und gesellschaftliche Veränderungen adäquat wahrzunehmen. Sie werden nicht nur steuerungsunfähig und damit ein leichtes Opfer von Lobbyismus; sie geraten in Gefahr, sogar dieses niedrige Niveau von Bedeutung zu verlieren, weil sie die gesellschaftliche Entwicklung intellektuell gar nicht mehr verstehen.

Das Bild der sich selbst bereichernden Kleptokraten stimmt ganz unten schon längst nicht mehr. Ernsthaft Geld wird nur in kommunalen Firmen, auf dortigen Vorstands-, Geschäftsführungs- und Aufsichtsratspositionen verdient. Dieser Markt ist durch die Privatisierungspolitik der letzten Jahrzehnte immer enger geworden, und ist nur Fraktionsvorsitzenden und ähnlichen Chefpositionen vergönnt. Enger wurde auch das Parken verdienter ehrenamtlicher Funktionäre auf Scheinjobs in Vorfeldorganisationen, um ihnen so den Rücken für ehrenamtliche Kommunalpolitik freizuhalten. Das funktionierte vor allem in Bundesländern mit stabilen absoluten Mehrheiten und wird irgendwann sogar in Bayern enden. So droht den Mittelschichtlern in der deutschen Kommunalpolitik das Gleiche wie den Vielen draußen im Lande: die Proletarisierung.

Diese Sorgen und Probleme lasten das Denken aktiver Parteipolitiker aus. Das senkt nicht nur ihr intellektuelles Niveau. Es führt auch zu Fehlern im machtpolitischen Management. Nirgendwo wird das deutlicher, als dort, wo angeblich “Große” Koalitionen regieren. Sie glauben sich nämlich der Notwendigkeit zu geduldiger Konsensentwicklung enthoben, da sie ja über “stabile Mehrheiten” verfügen. So machen z.B. im Bund CDU, SPD und Grüne eine Außenpolitik, die eine Mehrheit der Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen kann. Auf kommunaler Ebene handeln sie sich immer mehr Bürgerbegehren ein, die trotz restriktiver Gesetzgebung in Zukunft erfolgreicher sein werden. Hier könnte eine neue Chance entstehen: dass die Parteien die Bürger so gegen sich aufbringen, dass es diese wieder zu gesellschaftlichem Engagement mobilisiert. Ein schöner Traum? Kleine Städte mit großen Hochschulen wie Freiburg, Göttingen, Münster, Aachen, Oldenburg oder Bonn geben zu solchen Hoffnungen Anlass. Doch ja, es sind alles Städte im Westen, es sind die Bildungsbürger, die aufstehen. Für einen ganzen Staat wird das nicht genügen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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