Ausgerechnet im hundertsten Jahr nach dem Unglücksjahr 1914, als die Staaten Europas in den ersten Weltkrieg taumelten, stehen viele Menschen fassungslos vor der Krisenentwicklung in der Ukraine. Was zum einen erschreckt, ist die harsche Reaktion Russlands, für die es einen Verantwortlichen gibt: Wladimir Putin.

Als ich vor einigen Tagen in Berlin die ukrainische Chauffeurin unseres Fahrdienstes fragte, wie sie denn die politische Situation in Kiew beurteile meinte sie: “Die sind doch alle korrupt-Regierung und Opposition” und auf die Frage, welche Chancen sie Vitali Klitschko habe, sagte sie “keine, der wohnt doch in Hamburg und hat sein Geld auch in den USA und der Schweiz liegen-wie soll der uns helfen?” Vielleicht kann eine solche nicht-repräsentative Stimme etwas erreichen, was im aktuellen Medien-Einheitsbrei verloren gehen zu scheint: kritische Distanz – auch zur Rolle der EU.

Viele wissen nicht, was sie tun

Was mich besonders erschreckt, ist die Einseitigkeit der Sichtweisen und Schuldzuweisungen, die Schnelligkeit, mit der Sanktionen und “Harte Reaktionen” gefordert werden. In der Tat ist die unkritische Sichtweise der eigenen Rolle der EU und den “Westens” bei der Entwicklung der ukrainischen Krise erstaunlich.

Ein Blick zurück: Seit Jahren wird die politische Entwicklung in der Ukraine vom Westen beobachtet und nicht immer war klar, welche Rolle die dort Regierenden zugeschrieben bekamen. So stand der jetzt abgesetzte Präsident Wiktor Janukowytsch vor einigen Jahren oben auf der EU-Wunschliste. Er führte einen Gaskrieg gegen Russland, um sich wenig später als “Prorussischer Diktator” wiederzufinden. Und auch die millionenschwere Unternehmerin und Nationalistin Julija Tymoschenko wurde zunächst als russlandfreundlich schlecht gemacht. Mit ihren Wahlverlusten und den mehr oder weniger undurchsichtigen Prozessen mit anschließender Haft wurde sie zur Heldin und Janukowytsch zum “Bad Guy”. Immer wieder zogen die beiden durch die Pressemeldungen, wurde Tymoschenko durch Verweigerung ihrer medizinischen Behandlung gepiesackt, – aber sie ließ auch keine Chance aus, politisches Kapital aus ihrer ungerechten Behandlung zu schlagen.

Nachfolger für Präsidentschaft gesucht

Dazu kam die im Westen natürlich beachtete, aber vor Ort zwiespältige Rolle des exilanten “Oppositionspolitikers” Klitschko, der sich mit Medien- und Millionenmacht ins Getümmel stürzte und eine unübersehbare Schar wirtschaftlicher Oligarchen. Als vor einigen Tagen der “Kölner Stadtanzeiger” die möglichen Nachfolger von Janukowytsch vorstellte, geriet dies zu einem Gruselkabinett von Industriemagnaten, Selbstdarstellern und Populisten. Alle mehr oder weniger der EU gewogen, alle mehr oder weniger von wirtschaftlichem Gewicht. Und damit Gegenstand des Interesses und der Einflussmöglichkeiten der EU. Aber nicht des Interesses der Ukrainerinnen und Ukrainer, der dort lebenden Russen, Krimtartaren und Juden. Von denen spricht leider niemand.

Arsenji Jazenjuk, der derzeitige Übergangspräsident, kommt aus der Wirtschafts- und Bankenbranche, soll Gelder unterschlagen haben, scheint auch keine weiße Weste zu haben. Wenn man in Betracht zieht, dass er sehr früh als Parlamentspräsident einen Aufruf unterzeichnete, dass sich die Ukraine der NATO anschließen solle, wird seine Rolle klar. Der Hilferuf dieser Regierung gegenüber der NATO ist ebensowenig glaubwürdig, wie die “Vermittlungsgruppe” der EU, deren Abkommen die Demonstranten auf dem Majdan wenige Stunden später wieder zum Teufel gewünscht haben, unabhängig war. Vom Ukrainischen Volk und dessen Willen war dabei wiederholt kaum die Rede. Von Interessen der EU und Russlands dagegen schon.

Am Finanztropf der EU trotz Oligarchen

Die Ukraine steht vor einem Staatsbankrott, ist ohne gewählte Regierung und steht im direkten Interessenkonflikt zwischen EU und Russland – das ist die Lage und diese bietet deshalb explosives Spannungspotenzial – schon ohne, dass jemand absichtlich zündelt. Ein in der Politikwissenschaft wichtiger Schritt zum Verständnis internationaler Politik und solcher Krisen ist die Fähigkeit, sich in die Person und Interessen des Gegenüber zu versetzen. Ein einfacher Blick auf die Landkarte genügt, um die Reaktion Putins nicht zu billigen, aber zu verstehen:

Vor 20 Jahren zerfiel die Sowjetunion und mit ihr der Einfluss Russlands als Welt- und Kontinentalmacht über Mitteleuropa. Mit Polen, den baltischen Staaten, der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien wurden ehemalige Ostblockstaaten Vollmitglied der EU. Mit Georgien, Azerbeidschan, Turkmenistan, Kyrgisien, Uzbekistan, Turkmenistan und Kazakhstan ist Russland von Süden von zum Teil instabilen, zum Teil korrupten Regimen und von einem nicht geringen islamistischen Potenzial umgeben.

Russisches Trauma

Zwischen Russland und der EU gibt es im Westen das diktatorisch regierte Weissrussland und die Ukraine. Die Ukraine spielt an der Westgrenze Russlands historisch eine besondere Rolle, weil der Süden mit der Krim industriell geprägt immer stark von der Sowjetunion gestaltet wurde und – nicht zuletzt historisch von besonderer Bedeutung – ist die Krim seit 200 Jahren Standort der russischen Schwarzmeerflotte – der strategische Zugang Russlands zum Mittelmeer. Bis 1954 gehörte die Krim zu Russland. Schon diese geopolitische Lage muss deutlich machen, dass Russland sich in der Ukraine in ihrer Interessensphäre berührt fühlen muss. Seit 1914 und 1939 gibt es das Trauma Russlands, politisch und geostrategisch eingekreist zu werden. Aus Russlands Perzeption sieht es so aus, dass es der EU um die Verbreitung ihres politischen Einflusses geht – bis vor die Haustür Russlands. Hinzu kommt, dass Putin, der sich über russisch-nationalistische Politik definiert, auch nach innen demonstrieren muss, dass er nicht vor dem Westen kapituliert.

EU sollte sich Selbstkritik leisten

Lügen wir uns nicht in die Tasche: Die auf bürokratischem Wege in den letzten Jahren voran getriebenen Bestrebungen der EU, die Ukraine zu assoziiieren, waren in Wirklichkeit ein politisches Spiel mit dem Feuer. Dass dies möglicherweise in der EU niemandem aufgefallen ist, sagt alles über die Stümperhaftigkeit der EU-Außenpolitiker. Ebenso naiv und ohne politisches Fingerspitzengefühl haben sich die Bemühungen der EU darauf gerichtet, oppositionelle Kräfte zu unterstützen, egal wer sie waren.

Ein wenig mehr Nachdenklichkeit wäre schon zu wünschen angesichts einer Lage, in der nun wie vom Himmel gefallen ein “Spannungsfall” mitten in Europa nicht mehr ganz ausgeschlossen scheint. Das bedeutet, dass schnellstens geredet und das System der Sicherheit in Europa, das wir seit der KSZE kennen, in Kraft treten muss. Ein Sondergipfel der G8 Staaten statt Ausschluss Russlands, eine gemeinsame diplomatische Offensive und viele Gespräche unter Wahrung der Unabhängigkeit der Ukraine bis zu den dortigen Neuwahlen sind jetzt das Gebot der Stunde.

Deeskalation auf beiden Seiten nötig

Eine Verteufelung Putins, wie sie etwa John Kerry betreibt, ist ebenso dumm wie die ideologische Hetze der russischen Medien, die jede Opposition als “Faschisten” diffamiert. Genau so fahrlässig sind Aktionen ideologischer Aufrüstung wie die Desinformation über angebliche Flüchtlingswellen oder Massendesertionen aus der ukrainischen Armee. Wer da zündelt, spielt wieder mit dem Feuer in Europa – nur hundert Jahre nach der großen Katastrophe von 1914.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net