Vor der Sommerpause hat der Bundestag die seit Jahren von Menschenrechtlern geforderte und längst überfällige Resolution zu den Massakern der Türkei in Armenien beschlossen. Die Bundesregierung hat sich gestern mehr oder weniger von dieser Resolution distanziert. Natürlich gewährt das Grundgesetz den Verfassungsorganen eine Art Spielraum oder Arbeitsteilung. Das hat die Regierung Brandt/Scheel zum Beispiel bei den “Ostverträgen” 1972 genutzt und es trifft zu, dass Resolutionen des Bundestages die Bundesregierung rechtlich nicht binden. Aber das heißt nicht, dass die Regierung “hü” sagen kann, wenn das Parlament “hott” beschlossen hat.
Denn diese Regierung kann zwar Parlamentsbeschüsse in ihrer Lesart vermitteln und interpretieren – gerade gegenüber problematischen Staaten. Was aber undenkbar ist, ist die Distanzierung von einem einstimmigen Bundestagsbeschluss durch eine Bundesregierung, die sich auf dieses Parlament und seine Mehrheit stützt. Eine Regierung, die das unternimmt, hat keine Mehrheit mehr im Parlament und muss zurücktreten. Denn es handelt sich bei der “Armenien”-Resolution nicht um eine drittklassige Entschließung zu einem Alltagsthema, sondern um einen jahrelang, ja jahrzehntelang diskutierten diplomatischen Akt von Eindeutigkeit. Recep Tayyip Erdogan dagegen möchte, dass die Bundesregierung beschließt, dass die Erde eine Scheibe ist. Worum geht es?
Türken und Kurden hatten seit Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Wellen Massaker an Armeniern angerichtet. So wurden zwischen 1894 und 1896 nach Schätzungen zwischen 80.000 und 300.000 Armenier getötet. Kurz nach Ausbruch des 1. Weltkrieges, in dem das Osmanische Reich mit dem Deutschen Kaiserreich verbündet war, unterstützte ein Teil der Armenier die russische Armee in der Hoffnung, sich so ihre Eigenständigkeit erkämpfen zu können. Die Mehrheit der Armenier allerdings blieb loyal zur damaligen Regierung der “Jungtürken”, die sich 1908 an die Macht geputscht und den Sultan abgesetzt hatten. Diese Junta verfolgte pantürkische Vorstellungen, vor allem aber den Wunsch, die Gebiete zurückzuerobern, die das Osmanische Reich in früheren Kriegen an Russland verloren hatte. Nach vernichtenden Niederlagen gegen Russland wurden 1915 umfangreiche Deportationen und der systematische Völkermord an zwischen 800.000 und 2,1 Mio. Armeniern durchgeführt. Laut “Wikipedia” notierte der spätere deutsche Außenminister Gustav Stresemann 1916 nach einem Gespräch mit Enver Pascha in seinem Balkan-Tagebuch: „Armenier-Verminderung 1–1½ Millionen“. 1980 lebten nach US-amerikanischen Quellen noch 25.000 Armenier in der Türkei.
Die Beteiligung Deutschlands – auch an der Vertuschung der Massaker ist ein wichtiges historisches Faktum, das man kennen muss. Schon 1915 wurde der Vorschlag des deutschen Sonderbotschafters, Paul Graf Wolff Metternich, das Massaker öffentlich zu machen, von Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg missbilligt:
“Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.”
Ein Schelm, der zu dieser Haltung der Beteiligten aktuelle Parallelen zieht.
Schon während früherer Massaker im März 1909 war es zu schweren Übergriffen auf Armenier im kilikischen Adana und in den umliegenden Gebieten gekommen. Zwischen 15.000 und 20.000 Armenier fanden innerhalb weniger Wochen den Tod. Vor der Küste kreuzten zwar Kriegsschiffe Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Österreichs, Russlands und der USA, deren Besatzungen schritten jedoch nicht ein, obwohl sie die Massaker möglicherweise hätten beenden können.
Ein Film des verstorbenen Bürgerrechtlers und Schriftstellers Ralph Giordano “Die armenische Frage existiert nicht mehr – Tragödie eines Volkes.” löste auch 1986 in Deutschland eine Welle türkischer Proteste aus. Giordano selbst wurde massiv bedroht und beschimpft. Nach der Erstausstrahlung 1986 blieb der Film bis 2005 beim WDR unter striktem Verschluss, der zeitweilig sogar die Existenz des Filmes bestritt. Seit 1965 haben etliche Staaten die durch den osmanischen Staat begangenen Deportationen und Massaker der Jahre 1915 bis 1917 offiziell als Genozid entsprechend der UN-Völkermordkonvention von 1948 anerkannt wie Argentinien, Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Kanada, Libanon, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Russland, Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Uruguay und Zypern.
Das Europäische Parlament hat mit den Beschlüssen vom 18. Juni 1987 und 15. November 2001 die Anerkennung des Völkermordes durch den heutigen türkischen Staat zu einer Voraussetzung des EU-Beitritts der Türkei erklärt und am 28. Februar 2002 in einem weiteren Beschluss die Türkei zur Einhaltung dieser Vorgabe gemahnt. Die Armenien-Resolution des Bundestages wurde im Juni 2016 beschlossen. Die Entschließung des Bundestages hat nicht zuletzt so lange Zeit erfordert, als die Türkei wegen der besonderen historischen Nähe lange mit diplomatischen Samthandschuhen angefasst wurde. Das gilt auch für den sensiblen Umgang mit der PKK und anderen kurdischen Organisationen, die von Ankara als “Terroristen” verfolgt werden.
Vorgestern hat die Bundesregierung sich vor der Bundespressekonferenz versucht, aus einem konkreten Dilemma mit Formalia heraus zu mogeln: Regierungssprecher Seibert zitierte das Grundgesetz und seiberte, dass Entschließungen des Bundestages nicht in jedem Fall Regierungshandeln binden würden, also auch abweichende Meinungen formulieren könnten. Das trifft zwar zu, aber er hat dabei verschwiegen, dass die Armenien-Resolution kein “Entschließungsantrag”, sondern ein eigenständiger “Antrag” der Fraktionen Union, SPD und Grüne war und neun konkrete Forderungen des Parlaments an die Bundesregierung enthält, von denen sieben auf ein konkretes Tätigwerden der Bundesregierung in der Türkei und gegenüber der türkischen Regierung zielen. Diesem Antrag, so hat der Abgeordnete Ströbele gestern festgestellt, hat die Kanzlerin auch zugestimmt, zwar nicht im Plenum aber in der CDU/CSU-Fraktionssitzung. Ströbele wird nun eine kleine Anfrage an die Bundesregierung stellen, ob mit ihrer Haltung den Antrag, die Forderungen nun auch als obsolet und unverbindlich betrachtet.
Der Eiertanz, um Erdogan zu besänftigen, könnte sich mit der Antwort zur handfesten Regierungskrise auswachsen. Denn die Kanzlerin und der Außenminister können sich bei aller notwendigen Diplomatie nicht gegenüber einem zweifelhaften Despoten wie “RecTa” Erdogan einlassen, der Völkermord an den Armeniern sei nun doch kein Völkermord gewesen – und die Erde sei eine Scheibe. Denn schließlich brauchen Kanzlerin und Außenminister jederzeit eine Mehrheit im Parlament. Eine Regierungschefin, die das vergisst, muss zurücktreten.
In der Sache kommt die Leugnung der Massaker an den Armeniern durch die Regierung Erdogan der Leugnung des Holocaust durch Neonazis gleich. Nach dem Putsch besuchte der deutsche Staatssekretär Eder im Auswärtigen Amt die Türkei, um der Regierung die Solidarität gegen Putschisten zu versichern. Das war möglicherweise ein kapitaler Fehler des derzeitigen Bundesaußenministers. Nicht nur, es bei der Türkei als Geringschätzung ankam, dass man ihr zunächst nur die dritte Reihe der Politik, den beamteten Staatssekretär schickte. Ein Staatssekretär ist weniger in der Lage, politische Zumutungen im Keim zu erwidern und zu ersticken, als der Außenminister! Es hätte dessen Autorität bedurft, um in dieser schwierigen Situation adäquat zu reagieren. So wähnte sich Präsident “RecTa” Erdogan in der Machtposition eines Beherrschers der Situation, der Kanzlerin Merkel seine Bedingungen für die Einhaltung des Flüchtlingsabkommens diktiert und überbringen lässt. Das macht ihn so unberechenbar und die Situation für Europa so gefährlich. Erdogan hat abermals gezeigt, dass er skrupellos und unter Leugnung der Realität bereit ist, dieses Kapitel türkischer Geschichte zu vertuschen. Die Bundesregierung kann da nicht mitmachen, nur, um zu deeskalieren. Denn die Erde ist keine Scheibe.
Dieser Beitrag erschien gestern zuerst bei der “Rheinischen Allgemeinen” und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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