Mit 16 oder 17 war es, als ich ein einziges Werk Lenins wirklich im vollen Umfang gelesen habe: “Der linke Radikalismus – die Kinderkrankheit des Kommunismus”. Ich vermute es hat mich immun gemacht, aber auch sehr reizbar, wenn ich den Eindruck gewinne, dass Linke zu dumm sind. Lenin kannte sich im Deutschland seiner Zeit ja gut aus, es wurde damals lange für ein revolutionäres Zentrum gehalten, wegen seiner fortgeschrittenen Industrialisierung und seiner starken Arbeiterbewegung. Es kam alles anders, und so schlimm, wie es bis dahin niemand für möglich gehalten hatte. Heute ist Deutschland wieder eine ökonomische Großmacht, es bestimmt die Richtung in der EU und hat das Potenzial, kleinere Länder und ihre Wahlbevölkerung zu erpressen.
Das stellt Fragen an die deutsche Linke. Welche Fehler wurden gemacht, dass es so weit kommen konnte? Wie lange wollt Ihr noch so weitermachen?

Die SPD hat ihren Volksparteicharakter verloren, sie ist schon lange keine Interessenvertreterin der kleinen Leute mehr, sondern, wie die kleineren Parteien auch, ausschliesslich Interessenvertreterin der Schichten, die in ihrer aktiven Mitgliedschaft repräsentiert sind. Aus dieser Position der Schwäche versucht sie das Gemeinwesen regierend zu verwalten, mit weitgehender programmatischer Leere, und egal mit wem.
Letzteres gilt auch für die Mehrheit der Grünen. Frühere inhaltliche Strömungen, die nicht nur zu Personal- sondern auch zu Programmstreit imstande waren, haben sich in Seilschaften umgeformt. Diskutiert, gestritten wird nichtöffentlich, niemand soll was merken. Und damit es keiner merkt, tut man es auch möglichst wenig.
Die Linkspartei ist gespalten in die, die zumindest im Osten um jeden Preis regieren wollen, im Westen aber gibt es eine klare Mehrheit für auf-keinen-Fall-regieren. Wer nicht wirksam sein will, wer Lebensbedingungen jetzt und heute nicht verändern will und damit auch nicht kann, kann auch nicht mobilisieren und stirbt aus. Bei diesem traurigen Vorgang können wir gerade zusehen, bei der Partei mit dem größten Demografieproblem.
Und dann gibt es im außerparlamentarischen Bereich noch die vielen linken und linksradikalen Aktivisten, die die real existierenden Parteien verachten, und, wo sie können, diskriminieren, die sich zum Teil durchaus kreativ politische Geschäftsmodelle und Marken konstruieren, mit denen sie selbst gut leben können, hauptsache sie kommen nicht in die vermeintliche Nähe realer Machtausübung.

Kann man sich unter solchen Vorzeichen noch wundern, dass die gesellschaftliche Linke in Deutschland ein veritables Mobilisierungsproblem hat und eine rechtsradikale Minderheit ihre Chance wittert, mit Mut und Engagement gesellschaftlich zurückzuschlagen? Man muss sich, im europäischen Vergleich, eher wundern, warum das so lange gedauert hat.

Das gemeinsame Problem der diversen Linken ist ihre inhaltliche Entleerung. Es dominieren aktionistische Schnappatmung verbunden mit kontinuierlicher defensiver Selbstrechtfertigung/Entschuldigung und Schuldzuweisung auf irgendwelche Andere (fiese Konkurrenz, dumme Wähler, doofe Medien, faule Verwaltung etc.). Schwach, erbarmungswürdig, frei von jeglichem Selbstbewusstsein.
Analysen Fehlanzeige. Was läuft warum schlecht? Wieso fehlt Geld? Wo könnte es herkommen? Wie könnte es politisch erkämpft werden? Wer wird dafür als Bündnispartner benötigt? Und wie könnte er gewonnen werden? Durch Druck? Überzeugung? Eine Kombination von beidem? Solche Debatten werden immer weniger geführt. Sie existieren noch in den Köpfen einiger individueller Akteure, bleiben aber dort verborgen. Denn wenn sie transparent diskutiert werden, sind schon Konkurrenten, “politische Freunde” da, die offenes Diskutieren als Verrat brandmarken und sich selbst Vorteile in der Politmarktkonkurrenz sichern.

Diese Marktkonkurrenz hat sich längst verselbstständigt. Es gibt keine strategisch durchdachte gesellschaftliche Arbeitsteilung, in der verschiedene Parteien und Organisationen verschiedene gesellschaftliche Sektoren zu einem Bündnis im Sinne des Wortes “bündeln”, zusammenführen und damit erst zu einer starken durchsetzungsfähigen Kraft machen. (Eine positive Ausnahme aktuell: das Anti-TTIP/CETA-Bündnis) Die gesellschaftliche Verankerung der politischen Akteure ist längst weg, es bleibt ein Kampf jeder gegen jeden, der schlimmste Konkurrent ist der “Parteifreund”, und da viel stärker der vom eigenen “Flügel”/”Strömung”, als vom “gegnerischen” konkurrierenden, mit dem oft die “Marktanteile” z.B. auf KandidatInnenlisten (noch) ausgehandelt sind. Das machen heute keine Richtungsflügel mehr, sondern Regionalproporz-FürstInnen (Bezirks- oder Kreisverbände), im Feudalismus nannte man das “Kurfürsten”. Das ist der Megatrend, auch in der Ökonomie, in der Bildung, in betrieblichen und politischen Hierarchien: zurück zum Feudalismus, zu familiären Netzwerken, zu “vererbbarer” Macht (ein anderer Begriff für: Mafia). Es soll ja nichts nach Streit aussehen. Und wer jetzt glaubt, das sei nur in Parteien und Parlamentarismus so, den lache ich direkt aus. Parallelen gibt es nicht nur in Verbänden und Bürgerinitiativen, sondern, hallo neoliberale Gegner, in Konzern- und Verwaltungsbürokratien ist es mitunter nicht nur genauso, sondern oft und gern auch schlimmer.

Streit, wäre er inhaltlich, und würde um Fragen kreisen, die viele Menschen betreffen und interessieren, könnte eine Attraktion einer oder mehrerer Parteien sein. Ich erinnere mich noch an die von Begeisterung fast glasigen Augen des früheren WDR-Redakteurs Nikolaus Brender, als der von ihm mitinitiierte Sender Phönix mit der Liveübertragung des “Kosovo-Parteitages” der Grünen 1999 erstmals Rekordeinschaltquoten einfuhr. Ich habe seinerzeit zu den Unterlegenen gehört, viele sind nach der Entscheidung pro Kriegsbeteiligung aus den Grünen ausgetreten. Aber Respekt hat den Grünen verschafft, dass sie die Debatte und den Streit nicht klandestin in Hinterzimmern, sondern öffentlich geführt haben. Eine Frau wie die heutige Bundestagsabgeordnete Bärbel Höhn verschaffte sich einen Sprung in Selbstbewusstsein und Medienrelevanz, weil sie es gewagt hatte, Don Joschka Fischer in öffentlicher Redeschlacht zu widersprechen.
Heute sind die Parteien auch von Streit erfüllt. Er dreht sich aber nicht um Krieg-und-Frieden, überhaupt um Grundsätze von Außen- oder Innenpolitik, sondern fast ausschliesslich nur noch um Selbstreferentielles, um innere Angelegenheiten, vereinsinterne Regeln und Konkurrenzen, weitab von allem, was die Menschen “draußen” beschäftigt.
Es soll nicht öffentlich werden, ist besonders inhaltsentleert, in der Regel hinterhältig, verhindert politisch erforderliche Solidarität und menschlich erforderliche Freundschaften, und kultiviert stattdessen Feindschaften bis zum Existenzkampf. Das Erscheinungsbild der Politik mutiert so vom einstigen demokratischen Meinungskampf zur Schulhofrauferei. Wer es nicht lassen kann, besichtigt das heute auf Facebook, die Mehrheit hat sich aber schon lange angewidert abgewandt.
Das ist der – vorläufige – Sieg des Neoliberalismus, dass selbst die, die sich subjektiv für seine Gegner halten, in Wirklichkeit in ihrem eigenen Verhalten und Engagement seine gesetzestreuesten Umsetzer und Vollzieher sind. Sie werden ihn so nicht überwinden, auch wenn sie ihn verbal bekämpfen mögen. Tatsächlich verlängern sie ausserordentlich wirksam seine Existenz.

Was tun? (auch ein alter Lenin-Titel, den ich allerdings nie ganz gelesen habe)
Appelle an die Guten, in die Parteien einzutreten? Alles schon dagewesen.
Unsere neoliberale Ökonomieverfassung bekämpft langfristiges Engagement wirksam.
Die Leistungsfähigen, Starken sind beruflich und familiär beansprucht und über ihre Kräfte hinaus ausgelastet. Ganz wenige Clevere professionalisieren sich entweder in der Parteien- und Verbändepolitik, oder schaffen sich ein eigenes Geschäftsmodell im NGO-Bereich.
Nur Mittelmässige und Prekäre finden überhaupt einen Einstieg, den sie in ihren Alltag integrieren können.
Und die meisten Schwachen sind sowieso schon von allem abgehängt; um die kümmern sich höchstens noch bemitleidenswerte und gleichzeitig verehrungswürdige PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, PflegerInnen, alle schnell in Burnout-Nähe.

Parteien, Verbände, Initiativen, Projekte, ja auch Webseiten wie diese, gibt es schon genug. Es fehlt der Wille und Drang zur Kooperation und Bündelung, zur gesellschaftlichen Zuspitzung, bei Respektierung von Verschiedenheit, die Fähigkeit zu Toleranz und Entwicklung strategisch bewusster Arbeitsteilung in einer immer segmentierteren Gesellschaft, das Heraustreten aus Ecken des rechthabenden Beleidigtseins, der Mut zu Entscheidungen und zur Übernahme von gesellschaftlicher Macht und Verantwortung.
Vielleicht müssen es wieder andere Völker sein, die uns Deutschen das vormachen. Aber auch das ist schon wieder eine typisch deutsche larmoyante Fantasie.

PS: warum gewinnt der Fußball so viel gesellschaftliche Bedeutung und Faszination? Über ihn wird – noch – klassenübergreifend kommuniziert, gleichberechtigt zwischen arbeitslosen Alkoholikern und Professoren. In seiner Leistungsspitze macht er etwas vor, was immer seltener wird: sportlichen Erfolg gibts nur durch solidarische Teamarbeit, wenn alle, Stars und Techniker, Künstler und Handwerker, Trainer und ihre Mitarbeiter, Management und Fans, bereit sind, füreinander da zu sein. Wo entscheidendes davon fehlt, wird vielleicht viel Geld verdient, setzen sich vielleicht Arschlöcher-Individuen durch, aber eine Meisterschaft oder ein Turnier gewinnen kann man dann nicht. Darum glotzen alle so fasziniert: wie machen die das? Wie haben z.B. die deutschen Fußballfrauen Gold gewonnen. Das ist Studien wert.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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