Die ila und die Veränderungen der linken politischen Kultur
von Gert Eisenbürger
Anm. d. Red.: ein relevanter Beitrag auch zur lokalen Geschichtsschreibung in Bonn
Als die ein Jahr zuvor gegründete Informationsstelle Lateinamerika e.V., kurz ila, im Sommer 1976 entschied, neben ihren lokalen und überregionalen Aktivitäten eine Zeitschrift herauszugeben, hatten die damals bei uns aktiven Leute vor allem das Ziel, die Kommunikation zwischen den zu Lateinamerika arbeitenden Gruppen zu verbessern.
Solidaritätsarbeit bestand in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zuallererst in lokalen Aktivitäten. In nahezu jeder größeren und/oder Universitätsstadt gab es ein oder mehrere Solidaritätskomitees zu Chile, oft auch zu Argentinien, zu Bolivien, zu Kolumbien, allgemein zu Lateinamerika oder der Dritten Welt, manchmal gegen den Imperialismus und in Teilen der Linken auch gegen den Sozialimperialismus der sozialistischen Länder. Dazu kam eine wachsende Zahl von Dritte-Welt-Läden, die Produkte verkauften, für die die ProduzentInnen etwas bessere ErzeugerInnenpreise als im normalen Handel erhielten. Ihre Hauptaufgabe sahen die Läden aber darin, die KäuferInnen über die ungerechten Welthandelsstrukturen zu informieren und zu politisieren. Dann gab es noch die vielen kirchlichen, gesellschaftlichen, schulischen (und vergleichsweise wenigen) gewerkschaftlichen Dritte-Welt- oder Internationalismus-Gruppen. Auch größere Organisationen mit nationalen Büros wie amnesty international oder terre des hommes wurden vor allem durch die Aktivitäten ihrer örtlichen Gruppen wahrgenommen.
Die Arbeit all dieser Solidaritätskomitees, Läden, Dritte-Welt-Initiativen und Mitgliedsgruppen größerer Organisationen bestand in der Aufklärung und Mobilisierung ihrer jeweiligen Zielgruppen (Studierende, SchülerInnen, Gemeindemitglieder, KollegInnen, „die kritische Öffentlichkeit“) durch Abendveranstaltungen, Infostände, Flugblätter, Solidaritäts- und Benefizkonzerte, Feste, Mahnwachen (z.B. vor Botschaften, Konsulaten oder Firmensitzen) und Demonstrationen.
Es gab 1976 auch schon einige Zeitschriften, die über Dritte-Welt-Themen berichteten, wie die bis heute existierenden „blätter des iz3w“ (iz3w steht für Informationszentrum Dritte Welt) in Freiburg, die „Chile-Nachrichten“ (heute „Lateinamerika-Nachrichten“) im damaligen Westberlin und „Lateinamerika anders“ in Wien aus dem unabhängigen linken Spektrum sowie nicht mehr bestehende wie das linkssozialdemokratische „Dritte Welt Magazin“ in Bonn, die linksprotestantische „Entwicklungspolitische Korrespondenz“ in Hamburg und das DKP-nahe „Antiimperialistische Informationsbulletin“ (AIB, später „Dritte Welt“) in Marburg.
Während die genannten Zeitschriften ihren Schwerpunkt in einer alternativen Berichterstattung über die Vorgänge in der Dritten Welt sahen, wollten die InitiatorInnen des ila-info vor allem erreichen, dass die lokalen Gruppen aus dem unabhängigen Spektrum mehr übereinander erfuhren, Debatten über strittige Themen führen konnten, ihre Aktivitäten stärker aufeinander abstimmten, durch die Ideen und Projekte Anderer inspiriert wurden oder deren Veröffentlichungen in ihrer eigenen Informationsarbeit vertreiben und nutzen konnten – strebten also das an, was man viel später als Vernetzung bezeichnen würde.
Die erste Ausgabe des ila-info erschien Ende November 1976 und wurde kostenlos an die Lateinamerikagruppen verschickt mit der Bitte, die neue Zeitschrift zu abonnieren. Tatsächlich folgten knapp 200 Initiativen und Personen dem Aboaufruf, sodass das ila-info eine minimale finanzielle Basis hatte und ab der Nummer 2 im Februar 1977 ohne Unterbrechung bis heute zehnmal im Jahr erscheinen konnte.
So war das ila-info von Anfang an eine Bewegungszeitung, auch intern. Als ich 1980 dazukam, gab es noch keine Redaktion. Bei den wöchentlichen ila-Sitzungen wurden zuerst die nächste Veranstaltung und der nächste Infostand geplant. Dann gab es Diskussionen, wer zum nächsten Bundestreffen der Chile-, Argentinien-, Nicaragua- oder El Salvador-Solidarität fahren und dort dieses oder jenes im Namen der ila vertreten sollte. Es folgten Berichte über stattgefundene Treffen und Absprachen, wie wir uns auf der nächsten Sitzung des Koordinationsausschusses des BUKO (damals „Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen“, heute „Bundeskoordination Internationalismus“) zu diesem oder jenem Punkt verhalten sollten. Meistens als vorletzter Punkt stand dann „info“ auf der Tagesordnung, wo kurz besprochen wurde, was es für die nächste Ausgabe zu tun gab. Dann gab es nur noch den Punkt „Verschiedenes“, ehe sich die ganze Gruppe in die Kneipe bewegte.
1981 wurde für das ila-info eine eigene Redaktion gebildet, die sich neben dem ila-Plenum nun ebenfalls einmal die Woche traf. Fünf Jahre später wurden Redaktionssitzung und Plenum wieder zusammengelegt, weil die Herausgabe der Zeitschrift, inzwischen hieß sie nur noch ila, zwischenzeitlich zur wichtigsten Aktivität der Informationsstelle Lateinamerika geworden war und auf den Sitzungen vor allem über redaktionelle Themen gesprochen wurde. Genau anders-herum als früher wurden nun am Ende kurz noch andere Punkte behandelt.
Die ila wurde immer mehr zu einer Zeitschrift über Lateinamerika mit einem monatlich wechselnden Schwerpunktthema, auch wenn die Nachrichten, Diskussionen und Notizen aus der Solidaritätsbewegung weiterhin einen prominenten Platz im Heft hatten. Die Auflage, die Anfang der achtziger Jahren noch immer bei einigen Hundert gelegen hatte, stieg in den folgenden 20 Jahren langsam aber stetig an, ehe es ab dem Beginn der 2000er-Jahre ein stetiges Auf und Ab gab. Heute haben wir knapp 1200 AbonnentInnen und drucken je nach Thema zwischen 1400 und 1500 Exemplare.
Dass bei den ila-Sitzungen im Verlauf der 80er-Jahre zunehmend weniger über außerredaktionelle Aktivitäten der Solidaritätsbewegung geredet wurde, hatte zum einen damit zu tun, dass wir uns weniger als früher an solchen beteiligten, aber auch generell damit, dass ihre Zahl insgesamt zurückging. Zuerst lichtete sich die Zahl der Chile-Komitees, später ging die Zahl der El Salvador-, Guatemala- und Nicaragua-Komitees zunächst langsam, dann rasant zurück. Auch viele Bolivien-, Argentinien- oder Peru-Gruppen, deren Zahl ohnehin deutlich geringer war als die der Initiativen, die zu Chile oder Mittelamerika arbeiteten, lösten sich auf. Die Cuba-Solidarität war seit den siebziger Jahren von der DKP-nahen „Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba“ dominiert, mit der die unabhängigen Linken nur punktuell zusammenarbeiteten, weil die Kooperation sich wegen eines grundsätzlich anderen Politikverständnisses immer als schwierig erwies und meistens mit Enttäuschungen – durchaus auf beiden Seiten – endete.
Das langsame Schrumpfen der Solidaritätsbewegung hatte zunächst nur wenige Auswirkungen auf die Arbeit der ila. Das Interesse und die Mitarbeit an unserer Zeitschrift gingen nämlich keineswegs zurück, im Gegenteil. Gerade in der zweiten Hälfte der achtziger und ersten Hälfte der neunziger Jahre erlebten wir unsere größte Auflagensteigerung. Viel-leicht symptomatisch war in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein Brief des Lateinamerika-Komitees Göttingen, in dem uns die GenossInnen schrieben, dass sie sich auflösten. Deshalb würden sie das ila-Abo des Komitees kündigen, nannten uns dann aber acht Adressen von bisherigen Mitgliedern des Komitees, die von nun an die ila individuell abonnieren wollten. Das war natürlich nicht die Regel, nicht jede Auflösung eines Komitees hat uns neue Abos beschert. Aber es fiel doch auf, dass viele Leute, die in Solidaritätsgruppen aktiv gewesen waren und sich später zurückgezogen hatten, in der ila eine Möglichkeit sahen, sich weiter über die politischen und sozialen Prozesse in Lateinamerika zu informieren.
Es gab natürlich auch Solidaritätszusammenhänge, die weitermachten, teilweise bis heute. Je länger sie arbeiteten, desto mehr Kompetenz und Kontakte bildeten sie aus, so dass eine ganze Reihe ehemalige AktivistInnen immer mehr zu ExpertInnen wurden. Für uns hieß das, dass wir mit ihnen auf eine große Zahl kompetenter AutorInnen zurückgreifen konnten.
Ein weiterer Grund, warum wir den Rückgang der Zahl der Solidaritätsgruppen lange Zeit für unsere Arbeit als wenig problematisch betrachteten, lag daran, dass es in der Szene immer schon ein Auf und Ab gegeben hatte. Der größte Teil der Chile-Komitees, die 1973/74 entstanden waren, hatte sich bereits 1976/77 wieder aufgelöst. Dann entstanden ab 1978/79 zahlreiche Nicaraguagruppen, ab 1980 immer mehr El-Salvador-Komitees. Als deren Zahl zurückging, entstanden neue Solidaritätsgruppen mit dem zapatistischen Aufstand in Chiapas. Später entwickelten sich mit der globalisierungskritischen Bewegung und speziell ATTAC neue politische Zusammenhänge, in denen internationalistische Themen eine große Rolle spielten. In ihnen traf man sowohl alte Bekannte wieder als auch neue, jüngere AktivistInnen. Auch migrationspolitische Initiativen setzten Nord-Süd-Fragen von Neuem auf die Tagesordnung. Auch zeig(t)en die Grünen vor allem in ihrer Anfangszeit und später Die Linke weit mehr Interesse an internationalen Zusammenhängen als die in der BRD relevanten politischen Parteien der siebziger Jahre.
Dennoch wurde mit der Zeit klar, dass die Zahl der Aktiven in den internationalistischen Strukturen deutlich zurückging. Die klassische Solidaritätsbewegung mit ihren lokalen Gruppen und Komitees, ihrem Bezug auf revolutionär-emanzipatorische Bewegungen, ihrer antiautoritären Praxis und ihrer lebendigen Streitkultur ist weitgehend verschwunden. Dafür gibt es an verschiedenen Punkten neue spannende Entwicklungen. Die Postkolonialismusdiskussionen bieten einiges an Potential zur Belebung der politischen Theorie und Praxis. Aber das bewegt sich noch vorwiegend im akademisch-universitären Milieu und arbeitet sich allzu oft an Diskursen und oberflächlichen Phänomenen ab.
Es entstehen auch neue Formen politischer Aktion, vor allem im Internet und den öffentlichen Foren der Werbewirtschaft, ideologisch verbrämt auch „soziale Netzwerke“ genannt. Und es gibt neue Ansätze eines engagierten Aktivismus, der der Tatsache Rechnung trägt, dass immer weniger Leute Zeit und Muße haben, regelmäßige Treffen politischer Gruppen zu besuchen. Ein interessantes Beispiel für neue, innovative Formen der Solidaritätsarbeit ist etwa die Honduras-Delegation, die es seit dem De-facto-Putsch gegen die Regierung Zelaya geschafft hat, mit begrenzten Kapazitäten eine beeindruckende Solidaritätsarbeit mit den bedrängten sozialen Bewegungen und AktivistInnen in Honduras zu organisieren.
Auch gibt es zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die sich ihre Agenda nicht allein von den Programmen und Töpfen der EU und der Ministerien vorgeben lassen, sondern kontinuierlich und mit großem Sachverstand an Themen arbeiten und politische Bündnisse organisieren, um das ein oder andere durchzusetzen.
Wichtige neue Ansätze bieten auch die Klima- und das Thema weiterdenkend die Degrowth-Initiativen. Hier wird die Systemfrage neu gestellt, denn die kapitalistische Ökonomie bietet keine Perspektiven für ein längerfristiges Überleben der Menschheit.
Schließlich sind die zunehmenden Aktivitäten der in den letzten zwanzig Jahren gewachsenen lateinamerikanischen Diaspora ein interessantes neues Phänomen der Solidaritätsarbeit. Ob zu Mexiko, Kolumbien, den Konflikten um den Bergbau in Peru, den Mapuche oder besonders in den letzten Monaten die kontinuierlichen Aktivitäten gegen den Rechtsruck in Brasilien, viele der Solidaritätsaktionen, Mahnwachen und Demonstrationen werden heute vor allem von hier lebenden Menschen aus den jeweiligen Regionen und hiesigen UnterstützerInnen getragen.
All das sind ermutigende Signale, dennoch gibt es auch spürbare Defizite. Ich will hier gar nicht über die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung schreiben, das massive Erstarken der extremen Rechten, die in kürzester Zeit Formen des Rassismus und Sexismus wieder salonfähig gemacht haben, die viele längst überwunden glaubten. Oder das Weichspülen politischer Konflikte, etwa wenn so getan wird, als könne man Dinge verändern, wenn man Produkte mit bestimmten Aufklebern kauft und das dann „fairändern“ nennt, Oder das penetrante Beschwören einer sogenannten „Zivilgesellschaft“, zu der Konzernvorstände, GroßaktionärInnen, BankerInnen, RassistInnen, Homophobe oder klerikale Reaktionäre christlicher und islamischer Prägung ebenso gehören sollen wie diejenigen, die für soziale Gerechtigkeit, ein anderes Wirtschaften und den Respekt für unterschiedliche Kulturen und Lebensformen kämpfen. Auch möchte ich heute nicht von den Problemen schreiben, mit denen derzeit alle Printmedien konfrontiert sind und die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das Medium Zeitung/Zeitschrift in Zukunft nicht mehr existieren kann. Darauf reagieren wir mit der Ausweitung unseres digitalen Angebots, auch wenn dass einiges kostet, uns aber kaum Einnahmen bringt.
Das meine ich alles nicht. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass uns zumindest teilweise der theoretische Bezugsrahmen für die politische Arbeit fehlt oder abhanden gekommen ist. Sicher war manches von dem, was wir in den achtziger Jahren für richtig hielten, unzureichend oder illusionär. Aber vieles was wir über Themen wie Selbstverwaltung, Emanzipation, Bedeutung von Subsistenz und deren Verlust oder gesellschaftliche Konsequenzen immer arbeitsteiligerer Produk-tionsabläufe diskutiert haben, ist nach wie vor aktuell, vielleicht brennender denn je. Es war ja keineswegs so, wie gerne behauptet wird, dass der Zusammenbruch der realsozialistischen Politikmodelle um 1990 uns unsere ideologische Grundlage genommen hätte. Im Gegenteil, gerade in den Achtzigern wurde in der ila und der undogmatischen Linken allgemein äußerst lebendig über die ökologische und feministische Kritik am Marxismus und traditionell linker Politikansätze diskutiert, wurden autoritäre Politikmodelle kategorisch zurückgewiesen. Mit der alten Solidaritätsbewegung sind nicht nur viele anstrengende, oft nervige, sondern auch reiche und zukunftsweisende Debatten verschwunden. Es fehlt heute bei vielem Netz- und sonstigem Aktivismus der Wille, sich darüber auseinandersetzen, wo wir eigentlich hinwollen. Zwar wird sich in allen möglichen Foren permanent aufgeregt und ereifert, aber es wird wenig politisch diskutiert und zielführend schon gar nicht. Zu reflektierten und tragfähigen politischen Positionen kommt man nicht mit einem Klick, sondern das verlangt ernsthafte Lektüre, Zuhören, Reflexion der eigenen politischen Praxis und strukturierte politische Diskussionen. Und es erfordert, auch wenn dies vielleicht romantisch klingt, den Mut zu träumen.
Wir haben uns in der ila ziemlich schwer getan, mit unserem Jubiläum umzugehen. Irgendwie ist uns nicht so recht nach Feiern. Vielleicht fehlen auch einfach die Kapazitäten, denn es kostet verdammt viel Kraft, jeden Monat eine Zeitschrift herauszubringen; allein unsere Schwerpunkte haben immer den Textumfang eines Taschenbuches von 120 bis 150 Seiten.
Sicher freuen wir uns, dass wir seit 40 Jahren existieren, viele von uns sind schon seit Jahrzehnten dabei, und dass es weiterhin Leute gibt, die die ila lesen, sogar einige mehr als in den Hochzeiten der Solidaritätsbewegung zu Beginn der achtziger Jahre. Und irgendwie sind wir auch ein bisschen stolz auf das, was wir und alle, die uns dabei unterstützt haben, in den letzten vierzig Jahren geschrieben und veröffentlicht haben. Aber die Hoffnung, dass wir damit auch etwas bewirken und dass der Kampf für eine solidarische Gesellschaft eine echte Perspektive hat, muss immer wieder neu erkämpft werden. Und das wird keineswegs leichter. Aber wir werden weiter daran arbeiten!
aus: ila 400, November 2016, herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika
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