Ich kenne kaum jemand, der in Ulrich Tukur nicht einen erstklassigen Schauspieler sieht. Hier eine Besprechung der gestrigen Tatort-Folge, in der er wieder die Hauptrolle spielte. Im TV ist der Tatort neben Fußball das letzte Ereignis, das in den Augen der öffentlich-rechtlichen und privaten Einschaltquotenjäger*innen noch “funktioniert”. Ich gestehe: als Zuschauer gehöre ich dazu, neben der Tagesschau das einzige Programmelement, das ich zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung anschaue.
Dieses Sendeformat ist also das Letzte, mit dem das TV massenhaft aufnahmebereite Hirne erreicht. In der Regel immer mit einem Mord, mindestens einem. Um 22 h folgt im ZDF ein weiterer, oft erstklassiger, oft besserer, spannender und interessanter erzählter Krimi, oft aus skandinavischer oder britischer Produktion.
Die Frage ist nur: wo kommen die ganzen Morde überhaupt her? In deutsche TV-Programmen sind schon am Samstag davor mindestens 50 Personen umgebracht worden. Ich habe sie gezählt, konservativ. Pro Krimi nur eine*n Tote*n. Wiederholungen am gleichen Tag nicht doppelt gezählt, und Soap-Formate (“Auf Streife”, “Blaulicht-Report”, “Verdachtsfölle”, “Kommissare im Einsatz” u.v.m.), die angeblich “Wirklichkeit” nachstellen, überhaupt nicht mitgezählt. Auch habe ich darauf verzichtet zu untersuchen, wie oft es in den einzelnen Krimis um “Serienkiller” ging (Hypothese: nicht selten!). Wer sozial und körperlich wenig mobil ist und sich viel im TV-Sessel aufhält, kann es da schon mit der Angst bekommen. Davon lebt eine große “Sicherheits”branche, die viele öffentliche und private Arbeitsplätze dadurch sichern kann, dass so viele Menschen Angst haben, auf die Straße zu gehen, oder sogar abends in einen dunklen Park.

Und nun der Ausflug in die Wirklichkeit. Nach Auskunft ebendieser Sicherheitsbehörden sind Mord (und Totschlag) im vorigen Jahr um 2,9% zurückgegangen, in absoluten Zahlen knapp unter 1.200 in ganz Deutschland. Die UN-Behörde für bzw. gegen Drogen und Kriminalität zählte in Deutschland 2011 eine Mordrate pro 100.000 Einwohner von 0,8. In Schweden, wo die vielen brutalen Krimis in TV und Literatur herkommen, weil man damit als Schriftsteller*in und Drehbuchautor*in so gut leben kann, sinds 0,7. Und in den USA, unserem Verbündeten, mit dem die Bundeskanzlerin erst gestern wieder die “gemeinsamen Werte” beschworen hat, sinds 4,7.
Das liebe Bonner*innen sind die tatsächlichen Gründe, warum die UN hier so gerne Kongresse veranstalten. Weil die Teilnehmer*innen hier so schön ungezwungen auf die Straße gehen können, die gucken kein TV, sondern trinken sich beim “Come together” einen oder zwei, draußen am dunklen Rheinufer, während wir uns in der eigenen Wohnung, dem für Mordopfer statistisch tatsächlich gefährlichsten Ort beim Krimigucken ängstigen. Vergleichen sie noch mal die “Mordraten” in anderen Ländern und Städten.

Und weil wir schon dabei sind: hatten Sie nicht auch Angst nach Sylvester in Köln? Muss schlimm gewesen sein. Wir waren zwar mehrheitlich nicht dabei, aber wir wissen doch ziemlich genau, was dort alles passiert ist. Schliesslich wurde es uns, scheinbar widerwillig, weil Sylvester so viele Journalist*inn*en Urlaub gemacht haben, dann doch alles haarklein berichtet. Und die Politiker*innen waren sich auch alle einig, wie schlimm das war. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat dazu eine österreichische Medienwissenschaftlerin Ricarda Drüeke allein die angeblich ja besonders seriöse Berichterstattung von ARD und ZDF untersuchen lassen. Ein Auszug ihrer Bewertung: “Eine Kontextualisierung sexualisierter Gewalt fehlt weitgehend. Diese Art der Berichterstattung legt nahe, dass sexualisierte Gewalt mit einem bestimmten Kulturkreis und einer bestimmten Gruppe in Verbindung gebracht werden kann. Damit erscheint diese Gewaltform als eine, die von «außen» die deutsche Gesellschaft bedroht. Unterstützt wird diese Annahme durch ein Zitat von Angela Merkel, die von «unserer Kultur» spricht und damit sexualisierte Gewalt außerhalb derselben verortet.”
Hier ist die Studie komplett nachzulesen.
In “unserer Kultur” allein in Bonn werden im Jahr zwischen 30 und 40 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht, Dunkelziffer nicht mitgezählt.
Hinweis: in einer ersten Version vor drei Stunden nannte ich die Zahlen “zwischen 60 und 70”; die hatte ich mit meiner alten Heimat Essen, die an Einwohnern knapp doppelt so groß ist, verwechselt. Grundsätzlich bildet die Kriminalitätsstatistik hier nur grobe Anhaltspunkte ab; das Anzeigeverhalten hat sich z.B. in diesem Jahr nach Sylvester sehr verändert und verstärkt – gut so.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net