Nach der furchtbaren Tat in Berlin sind nach wie vor weder der Täter, noch die Tatmotive bekannt. Die Bundesanwaltschaft hat auf ihren Terrorverdacht ausschließlich aus Indizien geschlossen. Ein festgenommener Verdächtiger musste wieder auf freien Fuß gesetzt werden, weil sich der Verdacht nicht erhärtete. Dass sich der IS zu dieser Art von Anschlägen bekennt, ist bekannt und war zu erwarten. Darüber, ob er wirklich dahinter steckt. sagt dies gar nichts aus. Denn sein System besteht darin, einerseits über das Internet potenzielle Täter anzustiften und sich andererseits zu allen Anschlägen zu bekennen, die die Illusion einer weltumspannenden Terror-Organisation aufrecht erhalten. Wir wissen in Wirklichkeit so gut wie nichts. Warum lässt man nicht die Polizei in dieser Situation einfach ihre Arbeit machen?

In einem Kommentar für den “Beueler Extradienst” habe ich gestern darüber spekuliert, wann Horst Seehofer sich melden und erneut die Obergrenze für Flüchtlinge fordern würde. Er hat es tatsächlich wenige Stunden später getan. Die Hälfte der Toten ist noch nicht einmal identifiziert, keines der Opfer beigesetzt, einige Verletzte schweben in den Krankenhäusern noch in Lebensgefahr. In einer Stunde, in der Trauer und Mitgefühl für die Opfer im Mittelpunkt stehen sollten, hat sich Seehofer tatsächlich nicht entblödet, “eine Neujustierung der Flüchtlingspolitik” zu fordern. Die AfD setzte in gewohnt widerwärtiger Weise noch einen drauf. Von Neonazis wie der AfD erwartet man nichts anderes. als braunen Dreck. Von Horst Seehofer schon. Seine Äußerungen waren unappetitlich, anmassend, vorurteilsbehaftet und eine ekelhafte Vorverurteilung. Er hat sich damit aktiv in die Reihe derer gestellt, für die offensichtlich jeder Anlass Gelegenheit ist, eine humane Flüchtlingpolitik zu diskreditieren und den Hass der meist anonymen Netzgemeinde noch zu befeuern. Schon bei der Asyldebatte 1992/93, als am Ende Flüchtlingsheime brannten, Geflüchtete und Migranten in Rostock, Hünxe und Solingen verletzt wurden und zu Tode kamen, hatten die Parolen aus der feinen “bürgerlichen Mitte” die rechtsextremistischen Straftäter inspiriert.

Was damals ein begrenzt deutsches Phänomen war, ist heute internationalisiert. Die tschechische Regierung der dortigen Rechtsextremisten und Nationalisten erdreistete sich gestern, die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel mit der Bluttat von Berlin in Zusammenhang zu bringen. Und Donald Trump hat mit seinen von Vorurteilen und Hetze gegen den Islam geprägten Äußerungen einen Vorgeschmack davon gegeben, was seine Auffassung von Recht und Gesetz ist. Auch er braucht offensichtlich nur seinen eigenen bescheidenen Horizont, um wie auf Knopfdruck das Urteil auszuspucken. Und einer der Knöpfe, die dieser Kretin demnächst drücken kann, ist der Rote Knopf des Atomwaffeneinsatzes. “RecTa” Erdogan hat nach der Ermordung des russischen Botschafters die Familie des Attentäters in Sippenhaft genommen. Sie sollen angeblich der “Gülen”-Bewegung angehören. Von ihm erwartet man inzwischen nichts anderes. Seehofers Schlussfolgerungen aus der Tat in Berlin aber, seine auf Vorurteile, Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit abzielenden Vorverurteilungen sprechen Bände über abdriftende Rechtstaatlichkeit und eine Verirrung der Demokraten.

Dass ausgerechnet der SPD-Vorsitzende darauf besteht, das Kindergeld für Ausländer zu kürzen, dass die CSU eine Ausländer-Maut gefordert hat – all dies sind Elemente der Politik einer großen Koalition des Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus. Es ist bedauerlich, dass sich keine liberale Stimme in dieser dumpfen Stimmung geistiger Lynchjustiz erhebt. Sprücheklopfer Lindner schweigt zu diesen Ausfällen und die Grünen können sich wohl grad nicht einigen, wer von den potenziellen Spitzenkandidaten etwas dazu sagen darf.

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Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net