Die SPD hat in Nordrhein-Westfalen das größte Wahldesaster ihrer Parteigeschichte erlebt. Das ist bitter. Hannelore Kraft hat die Verantwortung übernommen und ist zurückgetreten. Die NRW-SPD ist gut beraten, sich nun in einem längeren Prozess neu aufzustellen. Erste Erklärungen aus dem derzeit kopflosen Landesvorstand lassen vermuten und hoffen, dass die SPD nicht den Fehler machen wird, nun auch noch in NRW als Juniorpartner in eine Große Koalition zu gehen. Denn diese GroKo ist das eigentliche Problem der SPD. Und das Problem des Kandidaten Schulz. In einem “Brennpunkt”-Interview nach dem Wahldesaster wurde deutlich, in welchem Dilemma der Parteivorsitzende, Kanzlerkandidat und Wahlkämpfer Schulz steckt. Er will soziale Gerechtigkeit thematisieren, aber die gibt es nicht ohne Eingriffe ins Steuersystem und Sozialabgaben. Er müsste als SPD-Vorsitzender eine alternative Programmatik zur Politik der Kanzlerin entwickeln, aber die eigene GroKo hängt ihm dabei wie ein Klotz am Bein. Denn er kann nicht einmal sagen, dass Lieblingsgesetze der CDU, wie die Verschärfung des Einbruchsstrafrechts Blödsinn sind, weil seine Regierungsmitglieder Maas und alle anderen dem im Kabinett zugestimmt, bzw. sie sogar zu verantworten haben. Alles, was sich Schulz an 100% Sozialdemokratie ausdenkt, wird bis zum Wahltag von seinen Genossen in Regierungsämtern mit CDU-Kompromissen konterkariert.
Wie soll er da sozialdemokratische “klare Kante” zeigen können? Die SPD hat ein katastrophales Dilemma: Stellt sie ihre Regierungspolitik in der GroKo in den Mittelpunkt ihrer Leistungsbilanz, werden sich Parteimitglieder und Vorfeld- und Bündnisorganisationen, möglicherweise sogar Gewerkschaften von ihr distanzieren. Meinten es die SPD und ihr Spitzenkandidat ernst, müssten sie eigentlich, wie 1982 die FDP, die Koaltition verlassen. So ein Bruch ist nicht leicht herbei zu führen. 1981/82 brauchten Otto Graf Lambsdorff, Genscher und Walter Scheel zwei Jahre und zwei Haushaltsberatungen im Bundestag, um die “Wende” zu inszenieren und einen Bruch der Koalition begründen. Das gelang damals mit Ach und Krach und hatte eine Spaltung der FDP zur Folge. Die Spaltung der Sozialdemokratie hat mit der “WASG”, heute Linken, vor Jahren stattgefunden – es wäre an Schulz, die divergierten Kräfte zusammen zu führen, die “Linke” programmatisch zu stellen. Doch davon ist er ebenso weit entfernt, wie von der eigenständigen Begründung einer neuen sozialdemokratischen Programmatik, die über den Tag hinaus reicht.
Unsere Gesellschaft steht an der Schwelle einer vierten industriellen Revolution. Die Fragen der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse, Leiharbeit, 1-Euro-Jobs und Renten- und Krankenversicherungsansprüchen von Scheinselbständigen und Billglöhnern sind noch längst nicht gelöst, da kündigt sich eine neue, viel gigantischere Welle der Veränderung auf dem Arbeitsmarkt an: Wirtschaft 4.0 bedeutet ungeschützte, sich wandelnde Arbeitsformen der Selbständigkeit wie Crowd Work. Bedeutet, dass die IT-Technik das Schicksal kleiner und mittelständischer Unternehmen beeinflusst und bestimmt – mit unabsehbaren Folgen für den Wirtschaftszweig, der die meisten Arbeitsplätze in Deutschland schafft. Mit unabsehbaren Folgen für die Bürger- und Freiheitsrechte von BürgerInnen und Beschäftigten in einer digitalisierten Welt. Dem Staat, den Institutionen, die etwa die informationelle Selbstbestimmung von Menschen wahren und Sicherheit garantieren sollen, kommt eine neue Rolle zu, entscheidet über soziale Chancen und Freiheitsrechte. Diese Problematik wird von der SPD nicht nur nicht erkannt, sie dulden es, dass etwa im SPD-geführten Wirtschaftsministerium neoliberale Beamte mit mindestens Politik- wenn nicht IQ-Defiziten dem “Datenreichtum” und der Auflösung von “Zweckbindung und Datensparsamkeit”, also bürgerlichen Grundrechten zu Gunsten der Gier von US-amerikanischen Datenkraken das Wort reden. Wie will die SPD “Anwalt der kleinen Leute” sein, wenn sie essenzielle Bürgerrechte kritiklos den Verwertungsinteressen von Konzernen preisgibt und nicht einmal erkennt, was sie da tut?
Der Mittelstand ist auf eine “Industrie 4.0” in keiner Weise vorbereitet. Weder die Vorbildung von kleinen und mittelständischen Unternehmern, noch die ihrer Mitarbeiter und die der hunderttausenden Handwerksbetriebe ist im Mindesten auf die Herausforderungen von IT-Kompetenz, Datenschutz und Datensicherheit vorbereitet, die eine Wirtschaft 4.0 verlangt. In der Mobilitätsdiskussion stehen wir ebenfalls an einer innovativen Schwelle: Wollen wir wirklich durch “autonomes Fahren” mit dem Google-Auto ohne Fahrer uns in die Hände von anonymen Systemen begeben, die gegebenenfalls entscheiden müssen, ob sie, um einem Geisterfahrer auszuweichen, links eine Familie in die Leitplanke schießen oder rechts ein Liebespaar in den Abgrund fahren? Und wollen wir, dass durch dasselbe Auto etwa zwei Millionen Taxifahrer in Deutschland arbeitslos werden? Und wenn die von Regierung und Opposition geforderte Elektromobilität wirklich umgesetzt würde, ist der SPD klar, dass das einen Verlust von weiteren etwa einer Mio. Arbeitsplätzen bei BMW, Daimler, VW und bei den Zulieferbetrieben bedeuten würde? Müsste nicht dann das bedingungslose Grundeinkommen unter ganz anderen Bedingungen diskutiert werden? Nicht zuletzt der Irrsinn einer aggressiven NATO-Doktrin, dass jeder Mitgliedesstaat bis zu 2% des Bruttosazialprodukts an die NATO für Aufrüstung zu zahlen habe – hier überall hat die SPD programmatisches zu leisten, was sie klar von der GroKo wegführt. Diese wenigen Beispiele zeigen aber, dass keine Partei in der Lage wäre, auf diese Fragen mal schell vier Monate vor der Bundestagswahl eine nur einigermaßen verlässliche Antwort zu formulieren.
So müsste die SPD, wollte sie wirklich eine andere Politik, nicht nur diese Probleme programmatisch analysieren, sondern in einem soliden Prozess der Erneuerung in der Opposition tragfähige, gesellschaftlich diskutierte Lösungen finden. Weil die aber nicht in weiteren neoliberalen Rezepten wie schlankem Staat und Kürzungen der Löhne, Flexibilisierung der Arbeit und Schonung der Reichen bestehen könnten, müsste die SPD, um glaubwürdig zu sein, dann die GroKo verlassen. Aber genau da wird die SPD unglaubwürdig und mit ihr Martin Schulz. Raus aus der Groko in Berlin verhieße für ihn und die SPD Straßenwahlkampf pur. Merkel trifft Macron zum Staatsbesuch – und Schulz erklärt der Journalisten, er habe ihn auch schon mal in Straßburg kennen gelernt. Das ist schon jetzt keine Kandidatur auf Augenhöhe. Deshalb ist Schulz’ Anspruch “ich will Kanzler werden” ein frommer Wunsch, mit dem er sich und seine Partei überfordert, weil er es gar nicht schaffen kann. Was er erreichen kann, ist ein achtbares Ergebnis mit einer 3 vorne dran – wenn er sich bescheidet und seine Ziele vorsichtig zurück nimmt. Diese Bundestagswahl ist für die SPD bereits verloren, weil sie ihr Profil in der GroKo verloren hat. Würde Schulz zeigen, dass er das erkannt hat, würde die SPD auch wieder attraktiv und gewählt. So ist zu befürchten dass alles so weiter geht und ab Oktober eine noch kleinere SPD in der GroKo fortgeführt wird. Vielleicht sogar dann von Sigmar Gabriel. Österreich lässt grüßen.
Dieser Beitrag erscheint auch bei rheinische-allgemeine.de
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