Wann hat Martin Schulz zuletzt Aufsehen erregt? Als er der Bundeskanzlerin vorwarf, dass von ihrer Strategie der “asymmetrischen Demobilisierung” eine “Gefahr für die Demokratie” ausgehe. Das gilt natürlich auch für alle, die sich dieser Strategie fügen – und damit zu dieser Gefahr beitragen. Demokratieforscher haben bereits darauf hingewiesen, dass die Gefahr von Rechts dadurch genährt wird, dass die anderen Parteien so viele Fehler machen. Am Beispiel der Grünen: schlimmer als der Übertritt einer Landtagsabgeordneten zur CDU ist, was das Fachmagazin “Wired” zur Digitalstrategie der Partei diagnostiziert: grenzenlose Selbstreferentialität.

Wie kann es so weit kommen? Es ist nur ein Symptom. Das Problem selbst ist die Konfliktangst und die daraus wachsende inhaltliche und strategische Leere.
Der Fall der Niedersächsin ist bereits hinreichend interpretiert. SPD und Grüne haben dazu das Nötige gesagt. Eine Neuwahl wäre die richtige Konsequenz. Die Grünen können sich allerdings ergänzend zusätzlich selbst befragen, warum ihre Integrationskraft gegenüber den eigenen Leuten so nachlässt. Denn wie soll Integration von neuen Leuten, eine gesellschaftliche Verbreiterung gelingen, wenn es keine Bindungskraft mehr gibt? Wenn der innere Konkurrenzkampf so rücksichtslos ist, dass sich alle Beteiligten davor fürchten? Wenn es keine Solidarität und keinen Schutz für diejenigen gibt, die sich auf Bühnen und in politische Ämter trauen? Wenn sich damit einhergehender Hass so verselbstständigt, bis Konkurrent*inn*en in Krankheiten und Existenzvernichtung getrieben sind?
Sicher, es gibt umgekehrt eine Vielzahl von Funktionär*inn*en und Mandatsträger*inne*n, die den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören nicht finden wollen. In ihrer Frühzeit hatten sich die Grünen dafür die Amtszeitbegrenzung und Rotation ausgedacht. Doch statt hier nach dem richtigen Mass zu suchen, haben sie sie nach öffentlichem Gegenwind lieber wieder ganz abgeschafft. Und während in CDU, SPD und gesellschaftlichen Großorganisationen dann materiell seriöse Weglobangebote, die mann nicht ablehnen kann, gemacht werden, wird bei den Grünen intrigiert, selten mit – und dann zweifelhaftem – “Erfolg”.
Das ist das Innenleben, das aber nach aussen strahlt.

Aussen sieht es noch kritischer aus.
Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt. Und es sieht aus, als wenn die Grünen sich lieber im Mauseloch verkriechen, statt den Ball zu verwandeln.
Die Autoindustrie hat nun wirklich alles dafür getan, dass die Grünen gestärkt in den nächsten Bundestag kommen. Sie, die angebliche Schlüsselindustrie, ist offensichtlich gewillt, die gesamte deutsche Volkswirtschaft, die derzeit noch vor Kraft kaum laufen kann, in ihrer damit einhergehenden Bewusstlosigkeit gegen die Wand zu fahren.
Die Millionen Deutschen, die das Auto so lieben, werden als Stammkund*inn*en nach Strich und Faden verarscht. Es gibt schon unter normalen Bedingungen kein anderes Konsumgut, das so schnell an Wert verliert, wie das tonnenschwere Blech mit vier Gummirädern. Das es nicht nur als Waffe im täglichen Verkehr Menschen killt, sondern noch mehr dadurch, dass es lebensbedrohliches Gift gleichmässig übers Land verteilt, spricht sich politisch umso mehr rum, je mehr die Hersteller es zu verbergen versuchen (Achtung: Dialektik!). Die (Revanche-)Kosten sollen die Kund*inn*en bitte alleine übernehmen.
Denn die Konzerne brauchen ihre Milliarden selbst. Damit die Familien Piech, Porsche, Quandt, Katar keine schlechte Laune kriegen. Immerhin spenden sie ordentlich an die Parteien, die dafür sorgen, die sie sich weiter bereichern können. Die hunderttausenden (oder gar Millionen?) Beschäftigten der Autoindustrie, die berühmte Facharbeiterelite? Nunja, wenn die Gewerkschaften – noch – kampffähig sind, kriegen die Älteren noch eine Abfindung und im Anschluss eine akzeptable Rente. Die Jüngeren? Ja lesen die denn keine Zeitung mehr? Hätten die nicht wissen können, dass es mit dem Verbrennungsmotor zuende geht? Hat es ihnen keiner gesagt? Sie sogar angeschwindelt? Sollen die jetzt AfD wählen?
Die Mehrheit in den Städten merkt derzeit: hier brauche ich kein Auto. Und wenn, kann ich mir eins leihen. Aber es ist laut. Die Luft ist schlecht. Besonders schlecht ist das für meine Kinder. Die sechs Bonner E-Busse, schweineteuer, machen keinen Dreck (wenn sie keinen Braunkohlestrom geladen haben), sind leise und haben einen fantastische Beschleunigung. Die wenigen E-Smarts, die frei rumfahren, sind so leise, vor denen muss ich mich fürchten wie vor den Rüpel-Radlern.

Die derzeitige Bundesregierung und die deutsche Schlüsselindustrie wehren sich derzeit mit Händen und Füssen, von alldem irgendwas zur Kenntnis zu nehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Autisten werden beleidigt, wenn sie mit denen verglichen würden. Ein klassischer Fall für die Grünen. Ein industrie- und verbraucherpolitischer “Fukushima-Moment”, mit globaler Bedeutung für die Weltwirtschaft und zukünftige Geschäftsmodelle für Mobilität. Soll das alles in Kalifornien entwickelt werden?

In guten Zeiten betätigten sich die Grünen als Motor in sozialen gesellschaftlichen Bewegungen, weil die Gewerkschaften alt waren, wurde gerne die Bezeichnung “neue” hinzugefügt. Das ist jetzt auch schon über 30 Jahre her. Sozial wäre hier aber vom Alten zu lernen. Verbraucher*innen-Verbände, Gewerkschaften und Umweltbewegung müssen jetzt zu Bündnissen verknüpft werden, weil sie alle gleichermassen verarscht werden.

Und weil sie es immer noch nicht gemerkt haben, haben Staat, seine Behörden und Großindustrie gleich noch Millionen vergiftete Eier nachgeliefert. Wieviel Versagen soll denn noch kommen? Es gab mal einen Bundeskanzler Schröder, der wegen einiger amoklaufender Kühe seinen Agrarlobbyminister aus dem Verkehr zog, Renate Künast zur Ministerin ernannte, und eine “Agrarwende” persönlich verkündete. Ich habe keine Sympathien für den Mann, dem ein moralischer Kompass fehlt. Aber Antennen für die Gesellschaft, ihre Bewegungen und Tiefenströmungen fehlten ihm nicht. Und wenn er sie erkannte, setzte er sich sicherheitshalber gleich selbst an ihre Spitze. Das heisst: politische Führung. Die Grünen machen den Eindruck: das soll die Merkel machen.

Update 8.8.: Oliver Domzalski hat in der taz endlich die Verschwörung aufgedeckt, warum allen alles egal ist. 😉
Update 9.8.: zwei weitere sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen zum Bundestagswahlkampf von Heribert Prantl/SZ und Margarete Stokowski/Sp-on.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net