von Annette Standop
Vom Vorteil, eine streitfreudige Partei zu sein

Manchmal frage ich mich schon, wie es eine Partei wie Bündnis 90/Die Grünen geschafft hat, nicht nur ihre ersten turbulenten Jahre zu überstehen, sondern bis heute eine gestaltende Kraft in der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Wer an die Grünen denkt, denkt beinahe automatisch an Flügelkrach, ausufernde Parteitage und unablässige Auseinandersetzungen zwischen grundsätzlich gesellschaftskritischem und pragmatischem Politikstil. Einem Politikstil wohlgemerkt, der sich weniger an der inhaltlichen Seite festmacht als vielmehr an der Frage, wie und vor allem in Partnerschaft mit wem die eigenen Inhalte umgesetzt werden sollen.

In diese Szenerie bin ich im Jahr 2009 eingetaucht, als ich den Grünen in Bonn beigetreten war. Heute, acht Jahre und einige Wahlen später, kann ich sagen: Manche inhaltliche Vorbehalte, die ich zuvor den Grünen gegenüber hatte, haben sich bestätigt, aber einige haben sich bei näherer Betrachtung als Glücksfall und große Stärke dieser Partei herausgestellt. Die Stimmenvielfalt, die Diversität in dieser Partei und vor allem die Art und Weise, wie in sämtlichen Gliederungen und Gremien vom Ortsverband bis hin zur Bundespartei, von den Kommunalparlamenten bis hin zum Bundestag mit dieser Vielfalt umgegangen wird, ist ein großes Pfund, mit dem sie wuchern kann, und macht sie grundsätzlich zu einer Vorlage für das, was jetzt möglicherweise Realität wird: der Bildung und Umsetzung einer Jamaika-Koalition auf Bundesebene.

Grüne Vielfalt als Muster für Koalitionsverhandlungen

Gestern hat der Länderrat von Bündnis 90/Die Grünen mehrheitlich die Aufnahme von Sondierungsgesprächen für eine mögliche Koalitionsbildung beschlossen. Spätestens ab jetzt stehen wir als grüne Partei vor ernsthaften Verhandlungen über eine schwarz/schwarz-gelb-grüne Koalition im Bund. Etwas Vergleichbares – mit einem „schwarz“ weniger – erleben wir seit drei Jahren in Bonn mit unserer Spielart der Jamaika-Koalition, in der die Grünen die zweitstärkste der drei Parteien sind. Jamaika in Bonn funktioniert mal mehr, mal weniger gut, je nachdem, wie gut die drei Partner dafür sorgen, dass alle Beteiligten ihre Kernthemen umsetzen und sich in den Ergebnissen der gemeinsamen politischen Arbeit wiederfinden können. Und dann ist da noch die Sache mit der Chemie zwischen den handelnden Personen, auch Politiker*innen sind Menschen.

Gestern wurden also Sondierungsgespräche beschlossen und zugleich eine 14-köpfige Gruppe eingesetzt, die diese Gespräche vorbereiten soll. Und hier wird es interessant, denn diese 14 Personen bilden die ganze Bandbreite grüner Identität ab: Jung und Alt, Linke und „Realos“, Grüne aus Bund, Ländern, Kommunen und Europa, Altgediente ebenso wie Menschen, die erst seit wenigen Jahren auf der Bundesebene aktiv sind.

Mit dieser Konstellation soll eines bewirkt werden: Alle Parteimitglieder sollen sich wiederfinden können, alle Strömungen innerhalb der grünen Partei sollen abgebildet werden, damit das künftige Ergebnis der Verhandlungen grundsätzlich von allen mitgetragen werden kann und niemand sich abgehängt fühlt.

Die Gefahr des Selbstgesprächs wirksam vermeiden: Grün als Vorlage

Doch weder die Gespräche auf grün-interner Ebene noch jegliche Art von Koalitionsverhandlungen sind ein Selbstzweck. Es geht um ein anderes Ziel, das grünes Wohlbefinden sowie das Wohlbefinden von Koalitionspartnern weit übersteigt, nämlich die Verständigung auf wirksames Regierungshandeln, das unsere Gesellschaft voranbringt und zukunftsfähig macht. Ich behaupte: Damit das gelingen kann, müssen wir die Vielfalt der Verhandlungspartner ernst nehmen und – eine Zumutung! – nicht als notwendiges Übel, sondern als begrüßenswerten Vorteil sehen.

In der grünen Partei befinden sich die unterschiedlichsten Strömungen dieser Gesellschaft miteinander in ständigem Diskurs. Grüne Identität speist sich aus sehr widersprüchlichen Wurzeln zwischen der aufkommende Ökologiebewegung, basiskirchlichen, häufig sozialpolitisch aktiven Organisationen der katholischen und evangelischen Kirche, der Friedensbewegung der Siebziger- und Achtzigerjahre, dem Widerstand gegen die Atomkraft, enttäuschten Anhänger*innen einer sozial-liberalen Politik sowie Versprengten aus dem radikalen linken Spektrum. Diese Vielfalt der Wurzeln erklärt die Vielfalt der Stimmen der heutigen grünen Partei. Dass diese Stimmen überhaupt miteinander im Gespräch bleiben ist der Tatsache zu verdanken, dass sie sich alle auf das gemeinsame Ziel verständigen konnten: für eine ökologisch nachhaltige, sozial gerechte und weltoffene grüne Politik einzutreten und diese Gesellschaft damit verändern zu wollen.

Diskurs als Prinzip

Wenn also eine Partei wie die grüne sich positiv und selbstbewusst zu ihrer Vielfalt bekennt, müssen Mechanismen gefunden werden, wie die Vielfalt der Stimmen miteinander in Kontakt bleiben kann. Normalerweise geschieht dies durch (Führungs-)Gremien, die diese Vielfalt abbilden. Dort, wo Führung in Vielfalt nicht mehr gegeben ist, besteht die Gefahr der Spaltung sowie der inneren und äußeren Emigration. Wer sich nicht vertreten fühlt, wandert aus oder geht in die innere Opposition, was der Funktionsfähigkeit der Gruppe und ihrem Ansehen nach außen schadet. Grüne haben über die Jahrzehnte gelernt, dass in den Gremien auch jene vertreten sein müssen, die nicht der eigenen Strömung und auch nicht der Mehrheit angehören. So bleibt grüne Vielfalt produktiv und stellt für die ganze Partei eine vitale Ressource dar, die sie nicht zuletzt in die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen hinein anschlussfähig macht.

Konsequenzen für denkbare Koalitionen – auf welcher Ebene auch immer

Daraus ergeben sich für mich folgende Rückschlüsse im Blick auf eine künftige Koalition unter grüner Beteiligung:

1. Der Diskurs muss auf Augenhöhe stattfinden und dazu führen, dass alle Strömungen personell und inhaltlich vertreten sind. Dies verlangt von den Partnern ein hohes Maß an Toleranz und Respekt vor der anderen Seite und den ständigen Willen zum Kompromiss.
2. Doch auch das vermeintliche Gegenteil gilt: Es geht nicht ohne inhaltlich begründete Auseinandersetzung und politischen Streit. Ein zu hohes Maß an Harmonie kann zu wachsenden Fliehkräften und einer Politik des Stillstands führen.
3. Das jeweils Eigene der Koalitionspartner darf nicht unter die Räder kommen, denn erst dadurch werden unterschiedliche gesellschaftliche Interessen und Gruppierungen für die Politik erreichbar und anschlussfähig.
4. Ein solcher Prozess bedarf einer starken Führung, die ebenfalls die Vielfalt der Partner ausdrückt. Bei einer Jamaika-Koalition wird wohl ein neues Gremium erfunden werden müssen, das alte Schema Kanzler*in-Vizekanzler*in ist bei mehr als zwei Partnern nicht mehr ausreichend.
5. Bei allen Verhandlungen und Auseinandersetzungen muss eine solche Koalition in der Lage sein, sich auf ein gemeinsames Leitbild und eine von allen geteilte politische Agenda zu verständigen. Die Interessen der einzelnen Partner werden darin niemals vollständig aufgehen können. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn eine Koalition durch Auflösung oder Neuwahl dem Ende zugeht. In der Großen Koalition der letzten Wahlperiode sehen wir, was passiert, wenn die Koalitionspartner ihre eigenständigen Profile vernachlässigen: Kräfte an den Rändern des politischen Spektrums werden gestärkt, die ehemaligen Partner werden in ihrer eigenen Identität nicht mehr wahrgenommen und verlieren massiv an Zuspruch. Auch deshalb ist es notwendig, den politischen Diskurs im Innenraum der jeweiligen Koalitionspartner nicht zu vernachlässigen.

Die Autorin ist Stadtverordnete für Bündnis 90/Die Grünen in Bonn
standop.gruene@bonn.de

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