Michael Kellner hat die breite Öffentlichkeit wahrgenommen, als er während der Jamaika-Verhandlungen die Strafarbeit der Generalsekretäre mit verrichtete, sich vor die Presse zu stellen und nichts zu sagen. Entsprechend dürften ihn die meisten seitdem wieder vergessen haben, zu Unrecht. Denn im Inneren der Grünen ist er ein Machtmanager, in dieser Hinsicht vielleicht mit Andrea Nahles zu vergleichen. So unbeliebt wie Nahles in der breiten Öffentlichkeit ist, so unbekannt ist Kellner – und ähnlich sind sie sich im innerparteilichen Einfluss. In der Öffentlichkeit populäre Grünen-Politiker sollen sich bisweilen vor ihm gefürchtet haben.

Egal, wie wir es im einzelnen bewerten und beschreiben: er ist also ein wichtiger Mann. Darum ist es auch relevant, wenn er nun der taz ein verhältnismässig ausführliches Interview gibt. An 90% der dort gemachten Ausführungen habe ich nichts auszusetzen. Die übrigen 10% lassen jedoch tiefer blicken, als nur in das Individuum Kellner – es geht um das herrschende Denken der Grünen. Und Kellner, so darf hier schubladisiert werden, ist als gewählter “Politischer Geschäftsführer” ein legitimierter Sprecher dessen, was als Linke bei den Grünen noch übrig ist.

Predigen – einst katholisch, jetzt grün?

Über diesen Satz bin ich gestolpert: “Wir brauchen Solidarität zwischen Reichen und Armen, zwischen Stadt und Land, zwischen Mann und Frau.” Jetzt an Ostern fragte ich mich: wollen die Grünen also das Predigen der katholischen Kirche, die hierzulande immer weniger zu sagen hat, übernehmen? Wie stellen sich die Linken Grünen denn das Solidarisieren der Armen mit den Reichen vor? Auch bei Stadt und Land, Männern und Frauen abstrahiert die Predigerformel von gesellschaftlicher Wirklichkeit und real existierenden Interessengegensätzen. Streben die Grünen also als neue Mitte-Partei die Friedensrichterrolle an? Die linken Grünen jetzt auch?
Ich weiss, dass Kellner, im Gespräch darauf befragt, jetzt sicher die richtigen Antworten zu geben wüsste, er ist ja nicht doof (das am wenigsten). Dennoch lässt das öffentliche Artikulieren solcher Formeln auf strategische Denkfehler schliessen. Oder im günstigsten Falle auf defensives Notfallmanagement.

Außen- und Friedenspolitik – vergessen?

Nichts wird in dem Interview, Platz dafür wäre gewesen, zu Grüner Aussen- und Friedenspolitik erläutert. Kellners Köchin Baerbock, Koch Habeck hat es ihr gleichgetan, haben die Partei in der Skripal-Affäre in einer Weise positioniert, als regiere sie mit der CSU, und müsse statt den Frieden mit Russland, dem Koalitionsfrieden Vorrang geben. Ist aber garnicht so.
Dass das vielleicht im Denken auch linker Grüner aktuell nicht so eine Rolle spielt, ist ein weiterer schwerer Denkfehler. Darum dazu hier ein paar konkrete Hinweise, alls aus der gleichen taz.

Nachhilfe in Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde

Friedrich Küppersbusch ist in den Fächern Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde im Zuge der sozialdemokratischen Bildungspolitik der 70er Jahre mit besseren Pisa-Werten ausgestattet:
“Die russische Urheberschaft am Mordanschlag auf Familie Skripal ist so bewiesen wie Massenvernichtungswaffen im Irak. Darauf weist Ex-EU-Kommissar Verheugen hin. Merkel, Rühe, Verheugen, auch die grüne Grande Dame Vollmer – da steht ein Häuflein naiver Putinversteher gegen seriöse Charaktere wie Trump und Johnson. Eine Kernaufgabe der deutschen Außenpolitik ist: Ausgleich mit Russland. Das ist nach zwei Weltkriegen keine Folklore oder Zivildienst und zudem Ausweis gelegentlicher Teilnahme am Erdkundeunterricht: Wir bewohnen einen Kontinent und sind eher Russlands Westküste als die Ostküste der USA. Es gibt, in Schemen, den Nato-Russland-Rat, es gibt verschiedene Dialogformate wie den Petersburger, und es gibt hoffentlich bald eine eigenständige deutsche Außenpolitik.”
Hallo Grüne, wenigstens der linke Teil: das ist er, Euer Job!

Noch mehr Nachhilfe: BRD-Geschichte

Zur besseren Ausführung möchte ich Euch an folgenden Vorgang erinnern, den ich als 11-jähriger CDU-Anhänger schon bewusst wahrgenommen habe, und der mein Denken für die Folgejahre aufs Beste in Bewegung gesetzt hat: die Ohrfeige von Beate Klarsfeld für den Bundeskanzler Kiesinger war ein politisches und PR-Kunstwerk – inhaltlich und methodisch. Bleibende historische Verdienste. Wie viele heutiger Grüner haben davon überhaupt mal gehört?
Und zurück zur Gegenwart: was dabei herauskommt, wenn einem Ruhe an der “Flüchtlingsfront” wichtiger ist, als Entspannungspolitik mit Russland, das machen Euch und uns allen Putin und Erdogan grinsend ganz persönlich vor. Es genügt nicht, es ist sogar unpolitisch, sich darüber zu empören. Es müssen Interessen, das Denken der Gegner/Gegenüber analysiert werden. Darauf basierend sind Strategien zu entwickeln, müssen verschiedene Szenarien rational durchdacht werden. Palavern reduzieren, Handeln intensivieren.

Die Grünen haben ja jetzt Zeit, darüber mal gründlich nachzudenken. Schon in einem Jahr ist Europawahl.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net