Bereits vor 25 Jahren, als nach 75 Jahren die letzten Reste des “realen Sozialismus” von der Landkarte verschwanden und sich folgerichtig der “Warschauer Pakt” auflöste, hatte die NATO keinen Sinn mehr. Ihre gemeinsame Funktion war die kollektive Gegenwehr gegen einen potenziellen Angriff des “Warschauer Paktes” gegen den Westen. Begründet war das Bedrohungsszenario im Westen aufgrund der Ideologie des Marxismus-Leninismus, der schließlich das Ziel der “Weltrevolution” verfolgte, um den Kapitalismus durch eine “Diktatur des Proletariats” abzulösen.
Gestützt wurde die Strategie der NATO durch Argumente wie die sogenannte “Domino-Theorie”, nach der nach dem Fall des ultrarechten Militärregime in Vietnam die Nachbarländer Laos, Kambodscha, und weitere zum Teil von korrupten Diktaturen beherrschte Länder auf die Seite des “Sozialismus” wechseln würden. Aber nicht alles war reine Ideologie. Es ging dem Westen in der Tat auch um die “Verteidigung der Freiheit” – der Werte der US-Verfassung, der angelsächsischen Demokratie, der französischen Republik und des Grundgesetzes. Schließlich hatten die Alliierten dafür gegen die Barbarei des Nazi-Regimes im zweiten Weltkrieg gekämpft und dafür gesorgt, dass in der Bundesrepublik eine der besten Verfassungen der Geschichte geschrieben und nach und nach auch Verfassungswirklichkeit wurde. Diese Zeiten sind auf beiden Seiten vorbei. In Russland herrscht der Kapitalismus in weit unsozialerer Form, als in Westeuropa, von Oligarchen gelenkt, denen Putin einigermaßen berechenbar Zügel angelegt hat. In China gibt es einen staatlich gelenkten Kapitalismus, in vielen ehemaligen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen von Oligarchen und Diktatoren beherrschten Kapitalismus mit korrupten Staatsapparaten – von der Ukraine bis nach Weißrussland, von Aserbaidschan bis Usbekistan.
Und auch im “Westen” zerstören zunehmend Populisten die Werte der Verfassungen, am krassesten in der Türkei, wo die westlich und säkular orientierte Verfassung Kemal Atatürks nun vom Diktator Erdogan und seinen islamistischen Anhängern beseitigt worden ist. In den inzwischen populistisch regierten Staaten der EU wie Polen, Tschechien, Ungarn, jetzt auch in Italien oder UKIP in Großbritannien, wo die traditionellen konservativen oder sozialdemokratischen Parteien mit dem Rücken zur Wand stehen. Auch die USA haben mit Trump erstmals einen Präsidenten, der die Verfassungsgrundsätze und Freiheiten, das bald 250 Jahre alte System des “Checks and Balances” der Vereinigten Staaten in Frage stellt. Freiheitsrechte, Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, unabhängige Justiz, soziale Gerechtigkeit und Bekämpfung der Korruption, vor allem aber Presse- und Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Medien sind akut bedroht. Es geht um Einflusssphären, wirtschaftliche Interessen und Geschäfte. Nicht mehr um die Freiheit – schon gar nicht die der Ärmeren und Schwächeren.
Die USA mißachten in Guantanamo die Menschenrechte von mutmaßlichen Terroristen, die keine fairen Prozesse bekommen. Trump verachtet die Migranten an der mexikanischen Grenze und lässt dort menschenrechtswidrig mit ihnen verfahren, trennt Eltern von ihren Kindern oder inhaftiert sie alle zusammen. Die EU macht das Mittelmeer helferfrei und unterstützt kriminelle Banden, die sich “Libysche Küstenwache” nennen, mit Geld, Booten und Waffen, damit sie Fluchtrouten schließen und die Menschen von der Migration nach Europa abhalten.
Welche und wessen Freiheit also soll die NATO verteidigen? Sie hat eine andere Rolle bekommen. Sie wurde schon vor Trump nur benutzt, wo es den USA passte. George W. Bush führte Krieg im Irak, um die Ölvorräte unter den Einfluss der US-Ölindustrie zu bekommen. Dafür hatte sein Vater schon Kuweit “befreit”. Europa führte Krieg unter Täuschung der Russen gegen Ghaddafi in Libyen mit dem Ergebnis, dass es dort keine funktionierende Macht mehr gibt, die die Stammesgesellschaften einigen kann und statt Demokratie zeitweise Terroristen, der IS und heute vor allem regionale Warlords herrschen. Beim Kampf gegen den IS spielte die NATO eine jämmerliche Rolle. Nachdem die Strategie der EU und der USA gescheitert war, Assad durch die militärische und finanzielle Unterstützung islamistischer Banden, welche sich ideologisch erst zu ISIS, dann zum IS formten, musste man die Geister, die man selbst gerufen hatte, nun mit russischer Hilfe in die Flaschen zurückbomben.
Der Schulterschluss von Trump mit dem neuen Diktator Saudi-Arabiens und die Aufkündigung des Iran-Atomabkommens bedeuten eine US-Politik, die gegen jede transatlantische Strategie und die Sicherheitsinteressen Europas verstößt. Dabei interessiert Trump ebenso wenig, ob er den Nahen Osten durch die Aufrüstung der Saudis mit Waffen im Wert von 110 Milliarden US-Dollar in ein Vorkriegsszenario stürzt, wie er daran interessiert ist, dass es nicht zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands kommt. Im Gegenteil: Es dient ökonomischen US-Interessen, wenn Europa uneins und der Konflikt mit Russland möglichst lebendig bleibt. Hinter der Polemik gegen die Northstream-Pipeline 2 stehen natürlich Interessen der Ölindustrie, dass Europa statt russischem Erdgas – ökologisch völlig unsinnig – US-Fracking-Gas kaufen soll.
Die Europäische Union und die NATO haben sich in einem bei den Vier-plus-zwei-Mächte Gesprächen zur deutschen Einheit niemals vorstellbaren Weise bis direkt an die russische Grenze vorgeschoben. Darüber hinaus haben sich die EU-Außenminister 2013 in einer Art in die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Ukraine eingemischt, die von Russland als die Wahrnehmung einer existenziellen Bedrohung seiner strategischen Sicherheitsinteressen verstanden wurde. Für Russland ging es bei der Ukraine-Krise um nicht mehr und nicht weniger, als den Stützpunkt seiner Mittelmeerflotte und damit einen eminent wichtigen Standort seiner militärischen Handlungsmöglichkeit – quasi ein “Pearl Harbour” Russlands.
Allen, die diese Perspektive als “Putin-Verständnis” diffamieren und damit die gestiegenen Bedrohungsängste der baltischen Staaten, Polens und Ungarns vergleichen, bedenken nicht, dass der “Einmarsch” bzw. die Unterstützung der aufständischen Russen in der Ostukraine wegen der eminenten strategischen Bedeutung des Flottenstützpunktes eben nicht mit einer potenziellen Bedrohung dieser Länder durch Russland vergleichbar ist. Denn dort gibt es keine vergleichbaren strategischen Interessen Russlands. Allerdings in einigen baltischen Staaten durchaus einen demokratisch zweifelhaften Umgang mit russischen Mindernheiten, denen demokratische Rechte verweigert werden. Da mag manche Bedrohungsangst auf schlechtem Gewissen im Umgang mit Minderheiten beruhen. Gleichwohl soll und darf eine Europäische Verteidigungspolitik diese Ängste nicht ignorieren, muss sie aber richtig einordnen.
Wenn also die NATO morgen dabei bleibt, ihre exorbitanten Forderungen nach steigenden Rüstungsanstrengungen auch mit der Situation in Russland zu begründen, handelt es sich dabei um eine falsche Strategie, die auf die Vertiefung der politische Gräben in Europa gerichtet ist. Es ist völlig absurd, angesichts der Tatsache, dass es die Bundesrepublik Deutschland seit jahrzehnten nicht schafft, ihre Ausgaben für Entwicklungsländer und Fluchtursachenbekämpfung signifikant zu erhöhen, nun 2 % des Bruttoinlandsproduktes für Rüstung ausgeben soll. Die Dreistigkeit, mit der US-Präsident Trump erneut versucht, angebliche “Schulden” des Westens und vor allem Deutschlands zu erfinden, macht deutlich, dass die transatlantische Solidarität, aus der heraus die NATO gegründet wurde, längst reinen Wirtschaftsinteressen der USA gewichen ist. Vielleicht wird er morgen, um davon abzulenken, wieder irgendeinen Eklat provozieren, wie beim G 7-Treffen. Europa sollte das gelassen ignorieren.
Deshalb wäre es ehrlicher und realistischer zu erkennen, dass eine Europäische Verteidigungspolitik zu der ja offensichtlich die Mehrheit der EU-Staaten ihre Bereitschaft erklärt hat, angesichts einer multipolaren Welt mehr Sinn macht, als sich nach den immer stärker nationalen US-Interessen und denen des dortigen militärisch-industriellen Komplexes, den schon Präsident Eisenhower in seiner Abschiedsrede als gefährlich für die Demokratie erkannt hat, zu richten. Damit wäre aber auch der teure NATO-Wasserkopf in Brüssel überflüssig, den es in eine schlanke, den Erfordernissen angepasste und vor allem dem Primat einer Europäischen Friedensordnung unterzuordnende Behörde umzuwandeln gälte. Das könnte auch heissen, in bestimmten Situationen z.B. im Nahen Osten in beschränktem Umfang interventionsfähig zu sein. Vor allem aber wäre es wichtig, sich von der Illusion zu verabschieden, es gäbe gemeinsame Sicherheitsinteressen mit einer Großmacht, die gerade einen Wirtschaftskrieg gegen Europa begonnen hat.
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