Über die neokonservativen Verflechtungen von Gender, Religion und Politik – nicht nur in Kolumbien – von Diana Granados Soler und Marcela Ospina Amador (mit einer Einleitung/erster Absatz von Gert Eisenbürger)
Die jüngste Ausgabe der Bonner Lateinamerikazeitschrift „ila“ (Nr. 929, Oktober 2018) widmet sich dem schwierigen Friedensprozess in Kolumbien. Vor gut zwei Jahren hatten die kolumbianische Regierung und die Guerillagruppe FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) ein Friedensabkommen vereinbart, das den jahrzehntelangen Bürgerkrieg in dem Land beenden sollte. Fast wäre dieses Abkommen gescheitert, weil bei einer Volksabstimmung am 2. Oktober 2016 eine knappe Mehrheit von 50,2% den Friedensvertrag ablehnte (eine vom Parlament im November 2016 verabschiedete abgespeckte Version des Abkommens trat dann doch in Kraft). Eine zentrale Kritik der extremen Rechten, konservativ-klerikaler Gruppen und Teilen der Armee, die gegen den Frieden mobilisierten, bezog sich auf die in dem Abkommen festgeschriebenen Rechte von Frauen und die Anerkennung unterschiedlicher Lebensmodelle und sexueller Orientierungen. Die Friedensvereinbarungen seien von der „Gender-Ideologie“ durchsetzt. Dieser Bezeichnung wird mittlerweile nahezu alles zugeordnet, was traditionellen Familien- und Lebensmodellen widerspricht und damit angeblich „natürliche“ oder „von Gott bestimmte“ Ordnungen durcheinander bringt. In Deutschland ist der Widerstand gegen die „Gender-Ideologie“ nach der Migration das zweite Thema, mit dem die AFD mobilisiert, in den USA sieht Trump darin eine Bedrohung von Amerikas Stärke und in Kolumbien – so die dortige Rechte – gefährde sie die Zukunft der Jugend und der Familien. Angesichts der Tatsache, dass die Rechte weltweit Stimmung gegen Frauenrechte, Sexualerziehung und die Anerkennung der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Lebensmodelle macht, ist der Beitrag der kolumbianischen Feministinnen Diana Granados Soler und Marcela Ospina Amador auch für die hiesige politische Debatte von Bedeutung.
In den letzten Jahren haben sich in Kolumbien wie in anderen Ländern Lateinamerikas die Verbindungen zwischen Gender, Religion und Politik erneuert. Als wirksames Instrument diente dafür das, was der Vatikan und konservative Sektoren seit Beginn der 1990er Jahre auf internationaler Ebene als „Gender-Ideologie“ bezeichnen. Mit diesem Ausdruck wird allgemein versucht, Fortschritte bei den Kämpfen für die Rechte von Frauen und die der LGBTIQ-Community zu abzuwerten. (LGBTIQ steht für Lesbisch Schwul Bisexuell Trans* Inter* Queer.) Mit dem Kampf gegen die angebliche „Gender-Ideologie“ wird auch die Absicht verfolgt, die brüchig gewordene Hegemonie bezüglich der Kontrolle der Sexualität zu kitten.
Es ist klar, dass konservative Kräfte, die angeben, die Werte der „traditionellen“ – also der heterosexuellen – Familie und der christlichen Moral zu verteidigen, auf dem Vormarsch sind. Diese Tendenz präsentiert sich auf dem ganzen Kontinent und zeigt, dass es von den Vereinigten Staaten bis nach Argentinien eine gemeinsame neokonservative Agenda gibt, stark beeinflusst von Bewegungen in Spanien, Frankreich und anderen europäischen Ländern.
2016 gab es in Kolumbien zwei Momente, die den wieder stärkeren Einfluss der Religion auf die Politik deutlich machten und bei denen das Gender-Thema zum Kristallisationspunkt wurde. Im ersten Fall handelt es sich um die Protestmärsche, die in mehreren Städten gegen das Dokument „Schulische Milieus ohne Diskriminierung. Sexuelle Orientierungen und nicht-hegemonische Geschlechtsidentitäten in der Schule“ organisiert wurden. Diese Broschüre war vom kolumbianischen Erziehungsministerium, von UNICEF, dem UN-Bevölkerungsfonds sowie dem UN-Entwicklungsprogramm erarbeitet worden, als Antwort auf eine Anordnung des kolumbianischen Verfassungsgerichts. Dieses Gericht hatte 2015 ein Urteil im Zusammenhang mit dem Selbstmord des Gymnasiasten Sergio Urrego gefällt. Er war wegen seiner sexuellen Orientierung Opfer von Diskriminierung und Gewalt durch die Schulleitung sowie die Familie seines Partners geworden. Das Verfassungsgericht verpflichtete die Kultusbehörde zu Maßnahmen, um die Achtung der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität sowie die Ausübung der Menschenrechte der Schüler*innen zu fördern. Die (in diesem Sinne) erarbeitete Handreichung für die Schulen erregte bei konservativen Kreisen so viel Kritik, dass diese auch auf die Straße getragen wurde.
Drei Feindbilder: Gender-Ideologie, Kommunismus, Castro-Chavismus
Beim zweiten Moment in 2016, bei dem Gender eine Schlüsselrolle bekam, ging es um die Kampagne, beim „Friedens-Plebiszit“ am 2. Oktober mit Nein zu stimmen und damit den zwischen der Regierung und der Guerillagruppe FARC ausgehandelten Friedensvertrag abzulehnen. Von den Gegner*innen wurde der Text kritisiert, da er angeblich gegen die Familie verstoße, „Gender-Ideologie“ und Abtreibung fördere und zur „Homosexualisierung“ von Jungen und Mädchen anstifte. Der Staatsrat, das oberste kolumbianische Verwaltungsgericht, hat die Inhalte der Nein-Kampagne für den Volksentscheid im Nachhinein eine „verallgemeinerte Täuschung“ genannt. Die Personen, die vornehmlich moralische Gründe für die Zurückweisung des Friedensvertrags anführten oder diese als Vehikel nahmen, kamen aus den Reihen der katholischen Kirche, von evangelikalen christlichen Bewegungen und sonstigen politischen Zirkeln mit sehr konservativem Gedankengut.
Die Art und Weise, wie sich diese zwei Vorgänge in dem spezifischen politischen Kontext von 2016 entwickelten, hat die Beteiligung religiöser Akteur*innen bei den kolumbianischen Parlamentswahlen im März 2018 beflügelt. Dabei traten vermehrt Pastoren und Pastorinnen von Pfingstkirchen und anderen evangelikalen Strömungen an sowie Politiker*innen, die sich durch ihre konservativen bis hin zu erzkonservativen Ideen auszeichnen. Sie verteidigen die heterosexuelle als „die einzig natürliche“ Familie und sind in der Folge gegen die – in Kolumbien rechtlich möglichen – Homo-Ehen oder Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare. Eine bedeutende Gruppe, die diese und ähnliche Prinzipien vertritt, hatte schon gegen den Friedensvertrag opponiert. In diesem Zusammenhang wurde ein neues Feindbild geschaffen, das aus drei Facetten besteht: „Gender-Ideologie“, Kommunismus und „Castro-Chavismus“ (also eine Kombination aus den „Teufeln“ Fidel Castro und Hugo Chávez).
Reaktionäre Pastor*inn*en ins Parlament – aber einige schafften es nicht
Die Beteiligung dieser sehr konservativen Strömungen an den März-Wahlen wird die Arbeit des neuen Parlaments sicherlich beeinflussen. Jedoch konnten führende Persönlichkeiten, die beim Plebiszit 2016 einen „Christlichen Pakt für den Frieden“ gebildet hatten, für die Wahlen kein gemeinsames politisches Szenarium konsolidieren. Einige von ihnen traten für die Partei Colombia Justa Libres an, die sich als „demokratische und christliche Bürgerbewegung“ vorstellt, während andere auf den Listen der rechten Parteien Cambio Radical und Centro Democrático auftauchten. (Letztere ist die Partei von Ex-Präsident Alvaro Uribe und des gewählten Präsidenten Iván Duque.)
Die Partei Colombia Justa Libres hat mit Carlos Eduardo Acosta einen Sitz in der Abgeordnetenkammer erzielt. Drei Sitze im Senat gehen nach einer umstrittenen Entscheidung der Wahlbehörde an Jhon Milton Rodríguez, Pastor der evangelikalen Bewegung Misión Paz a las Naciones und herausragende Figur des „Christlichen Pakts für den Frieden“, sowie an Eduardo Emilio Pacheco Cuello und Edgar Enrique Palacio Mizrahi, die ebenfalls evangelische Pastoren sind.
Im neuen Parlament ist auch Claudia Rodríguez de Castellanos, Pastorin von Misión Carismática Internacional, vertreten. Sie hat die Zelte von Ex-Präsident Alvaro Uribe verlassen und die Präsidentschaftskandidatur von Germán Vargas Lleras der Partei Cambio Radical unterstützt. Als Nummer Zwei auf der Parteiliste wurde sie mit rund 66 000 Stimmen in den Senat gewählt. Auch Angélica Patricia Sánchez Leal, von derselben christlichen Bewegung und Partei, hat es mit 31 321 Stimmen in die Abgeordnetenkammer geschafft. (Misión Carismatica Internacional ist eine der größten christlichen Organisationen in Kolumbien und hat landesweit ca. 300 000 Mitglieder.)
Beide Politikerinnen berufen sich in ihrem Programm darauf, mehr Chancen für Frauen, die Flexibilisierung der Arbeit sowie Teilhabe an „öffentlichen und privaten Szenarien unter gleichen Bedingungen“ anzuregen. Aber gleichzeitig fordert Rodríguez in ihrem Programm die heterosexuelle Ehe ein und regt ein „Ministerium für Familie und Frau“ an, wofür in der neuen Legislaturperiode bestimmt Druck gemacht werden wird.
Wegen ihres Erfolgs beim Friedensplebiszit hatten die christlich-konservativen Sektoren mit einer noch stärkeren Vertretung im nationalen Parlament gerechnet. Aber einige ihrer Leitfiguren, die Kampagne für die traditionelle Familie und gegen die Diversität gemacht hatten, schafften den Sprung in den Senat oder die Abgeordnetenkammer nicht. Dazu gehören Jefferson Vega von der Konservativen Partei, der für den Senat aufgestellt war, sowie Alberto Esteban Ramírez, Kandidat der Partei Opción Ciudadana für die Abgeordnetenkammer. Auch Jimmy Chamorro, Vertreter der U-Partei (Partido de la U) und der youtuber Ferri Ortíz, der von Centro Democrático aufgestellt war, schafften die Hürde in den Senat nicht. Die Juristin Karla Enríquez, prominentes Mitglied des „Nationalen Tischs für Bildung und Autonomie“, die 2016 die erwähnten Protestmärsche gegen die Aufklärungsbroschüre angeführt hatte, erhielt als Kandidatin für die Abgeordnetenkammer auch nicht genug Stimmen. Sie war für die Partei Somos angetreten.
“Bibelzentrum” im Weissen Haus
Nachsatz: Im Frühjahr hat die BBC einen Bericht über einen biblischen Zirkel im Weißen Haus veröffentlicht. Der Zirkel wird von Pastor Ralph Drollinger geleitet, der zusammen mit seiner Frau Danielle 1996 Capitol Ministries gegründet hat. Dies ist eine Institution, die durch religiöse Bildung christliches Handeln in den Regierungsbehörden stärken will. In mehreren US-Staaten, einschließlich in Washington, gibt es Bibelzentren, an denen hochrangige Politiker*innen wie etwa die Bildungsministerin Betsy Devos und Vizepräsident Mike Pence beteiligt sind. Laut BBC-Bericht treffen sich die Politiker*innen wöchentlich. Zwar ist Präsident Trump nicht direkt dabei, er soll aber fast wöchentlich die achtseitigen Ergüsse von Pastor Drollinger bekommen. Das Bibelzentrum im Weißen Haus ist ein weiteres Zeichen, dass die Neuordnung von Politik und Religion und konservative Konzepte, was die Gleichheit von Frauen, die sexuellen und reproduktiven Rechte sowie die Rechte der LGBTIQ-Bevölkerung angeht, im Aufschwung sind.
Diana Granados Soler und Marcela Ospina Amador sind Feministinnen und Mitglieder der kolumbianischen NRO Corporación Ensayos para la Promoción de la Cultura Política.
Der Originalbeitrag erschien am 15. April 2018 in der Edition 127 des Internetportals http://palabrasalmargen.com. – Übersetzt und aktualisiert von Bettina Reis.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 929, herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
Letzte Kommentare