Die Städte(r) wollen grün regiert werden
Wie derangiert das deutsche Bürgertum ist, offenbart es am neuen Demoskopie-Hoch der Grünen. Die Bayernwahl hat bereits gezeigt: es ist nicht nur die Demoskopie, es sind auch echte Wahlergebnisse. Heute wird noch eins dazukommen. Spektakulärer als dieser Oberflächenwind erscheint mir, was das rechtssozialdemokratisch geführte Forsa regelmässig bei städtischen Umfragen in Berlin zutagefördert (zur Kommunalwahl und zur Bundestagswahl): trotz des dortigen Ossi-Faktors liegen dort, und das bedeutet es vermutlich für die meisten urbanen Ballungsräume – mit Ausnahme des Ruhrgebietes- – die Grünen jetzt scheinbar klar in Führung. Die Städter*innen wollen grün regiert werden.
Die Grünen wissen selbst nicht, wie es so weit kommen konnte. Der warme, trockene Sommer allein kann es nicht gewesen sein. Leitartikler und Feuilletonisten in ihrem selbstreferentiellen Hauptstadtberliner Glashaus wissen nicht mehr, was sie schreiben sollen. Beispielhaft wie so oft taz und FAZ. “Kretschmann-Stalker” (Urheberrechtsinhaber: Jürgen Trittin) Peter Unfried meint, die Wähler*innen wählen grün, weil sie wollen, das alles so bleibt wie es ist. Der gewöhnlich intelligente Claudius Seidl/FAS deliriert spaltenlang, um zu dem Schluss zu kommen, dass nur die Grünen noch Fortschritt versprechen. Alle andern haben das aufgegeben, und werden darum von immer mehr Wähler*innen aufgegeben. Diese schlichte Einsicht hätte Seidl auch kürzer fassen können, und hätte dazu noch nicht einmal ein Habeck-Buch lesen müssen. Ich sehe die FAS-Feuilleton-Redaktionssitzung vor meinem geistigen Auge: der Chef sagt “wir müssen dazu was bringen, unsere ratlosen Leser erwarten das”, alle gucken sich unverwandt an, zucken die Schultern, weil ihnen nichts einfällt, bis der Chef endlich sagt: “Na gut, ich mach’ es selbst.”
Zum Kernproblem dringen die beiden nicht vor, und die Grünen selbst bisher auch nicht. Unsere real existierende Demokratie sieht vor, dass wir unser politisches Engagement bei einer Parlamentswahl an eine Partei unseres Vertrauens delegieren. Da diese sich nicht nur in den Grenzen unserer politischen Verfassung (Grundgesetz, beachten Sie die Art. 14 und 15), sondern in der Regel auch in den Grenzen der real existierenden ökonomischen Verfassung bewegen wird, folgt die Enttäuschung spätestens nach kurzer Regierungszeit (s. Rot-Grün 1998-05) auf dem Fusse. Und dann?
Wohnungsnot – gerechten Kapitalismus gibt es nicht
Das aktuell zugespitzteste soziale Problem hierzulande ist die Wohnungsnot. Gebaut wird nur noch Luxus für Kapitalanleger*innen; wer eine Wohnung braucht, kann sie nicht mehr bezahlen. Die politischen Reaktionszeiten in diesem Feld unserer Ökonomie sind, ähnlich wie bei der Klimapolitik, mehrere Jahre lang. Wer also jetzt eine grundlegende Reform politisch durchzusetzen vermag, würde erst in 5-10 Jahren die praktischen, gebauten und sozialen Folgen sehen. Die Verelendung wachsender sozialer Schichten ist schon da und wird ganz sicher auf Jahre schlimmer werden.
Was sind nun die Antworten? Kommunalpolitisch versuchen es die klügeren Teile deutscher Kommunalpolitik mit Sozialwohnungsquoten für Investor*innen, mit dem Ankauf von Belegungsrechten angesichts dahinschmilzender (aus der Sozialbindungsfrist fallender) Sozialwohnungsbestände, mit der Stärkung kommunaler Wohnungsbaugesellschaften, sofern die nicht schon privatisiert worden sind. Flickschusterei, viel mehr haben Kommunen nicht in der Hand.
Beispielhaft, wie es auf Bundesebene zugeht, ist der Streit um die vom Bundesverfassungsgericht erzwungene Reform der Grundsteuer. Die Großgrundbesitzer wollen Steuern vermeiden. Die Verwaltungen und die von ihr am Nasenring gezogene Politik wollen möglichst wenig Arbeit damit haben. Der Gipfel der Fortschrittlichkeit wäre, wenn die Umlegung der Grundsteuer auf die Miete begrenzt würde.
Eine Partei, die den nicht produzierbaren Faktor Grund und Boden dem real existierenden Kapitalismus und seiner wachsenden Finanzialisierung entziehen will (und kann!), ist mir nicht bekannt. Wir werden also in den nächsten Jahren eine wachsende Obdachlosigkeit und soziale Verelendung erleben, wie wir sie bisher nicht kennen.
Gestern gab das DLF-Wochenendjournal “Kampfzone Immobilienmarkt – Hohe Mieten, wenig Wohnraum, astronomische Kaufpreise” eine Ahnung davon. Wenn sie diese Ahnung gewinnen wollen, investieren Sie die Zeit und hören sich das an. Journalistisch besonders lobenswert: gegen Ende werden Initiativen benannt, mit denen wir selbst tätig werden können, statt nur auf die lahmarschige Politik zu warten. Der Immobilienkapitalismus wird damit nicht entmachtet – das Leben ist leider zu kurz um darauf zu warten.
Das gilt übrigens auch für alle anderen Politikbereiche, in denen Sie mglw. Hoffnungen auf die Grünen setzen …
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