Die SPD-Spitze hat gerade beschlossen, dass sie keine Diskussion über die Koalition führt. Nahles hat bekannt, dass sie nicht einmal über die Frage eines möglichen Endes der GroKo nachgedacht und schon gar nicht debattiert haben. Früher hätte man als Journalist gedacht, natürlich haben sie das, Nahles wills nur nicht sagen. Heute denken wir: Das ist eine politische Bankrotterklärung der SPD. Die SPD-Spitze kann meterlange Listen von “Sachthemen” vom “gute Kita-Gesetz” bis zur Migration verweisen, in denen ein Klein-Klein abgearbeitet wird, während sie wesentliche Probleme wie den Diesel-Skandal mit dem ungeheuerlichen Gesetz zur Uminterpretation von Stickoxid-Grenzwerten mit der CDU gemeinsam unter den Teppich kehren will. Die SPD-Spitze möchte einen “Fahrplan” verkaufen, aber sie merkt gar nicht, dass niemand weiss, wohin die Fahrt gehen soll.

Die SPD-Spitze läuft damit Gefahr, dass sie nicht nur ihre Basis vor den Kopf stößt, in der die Zweifel an der GroKo gewachsen sind: Sie hat auch wohl überhaupt nicht verstanden, dass die SPD ihre Erneuerung über eine programmatische Neupositionierung als Partei, nicht über das Klein-Klein einer GroKo gewinnen kann. Man stelle sich vor, Friedrich Merz würde als gewählter CDU-Vorsitzender die Machtfrage stellen – nicht nur in der CDU, sondern auch mit einem Beschluss, Merkel möge die SPD-Minister aus der Bundesregierung entlassen und den Weg für Neuwahlen frei machen. – Ein Desaster für die Sozialdemokraten, die damit stehend K.O. wären. CDU/CSU und Grüne, wahrscheinlich auch die FDP hätten gute Chancen. Für Sozis wäre es ein Trauerspiel: Die Generation Maas, Nahles, Scholz und Schulze aber scheint entschlossen, sich den Christdemokraten völlig auszuliefern. Wieviele Wochen oder Monate kann das gut gehen?

SPD-Attraktivität ist nicht Regierung, sondern Programm

Wir lernen aus der Geschichte für die Gegenwart, indem wir beide verstehen. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wurde groß, weil sie eine Programmpartei, keine Intressenvertreterpartei war. Sie hielt stand trotz Bismarcks Verfolgung durch die Sozialistengesetze. Sie scheiterte um ein Haar, als sie am Ende der Monarchie mit Kaiser Wilhelms Kanzler paktierte, als Gustav Noske auf Arbeiter schießen ließ. Sie blieb standhaft und stark in der Weimarer Republik, auch in schweren Zeiten 1930 -1933. Es waren die bürgerlichen Parteien, mit Ausnahme des katholischen “Zentrums”, die vor den Nationalsozialisten kapitulierten oder sich anpassten. Hugenberg, die DNVP, die DVP, Bauernpartei und die Hasardeure, die die linksliberale DDP zerstörten, indem sie mit dem autoritär-reaktionären Jungdeutschen Orden zur “Staatspartei” mutierten und dem Verbot der Kommunisten nicht entgegentraten. Sie taktierten die Demokratie zu Tode – nicht die SPD.

Nach dem 2.Weltkrieg gelang es der SPD in dem Moment, die Öffentlichkeit und letztlich auch die Macht zu gewinnen, als es ihr gelang, mit dem Godesberger Programm zur Reformpartei zu werden und mit Willy Brandt einen Kanzlerkandidaten und Vorsitzenden aufzustellen, dem sie jahrelang die Treue hielt, bis er 1969 Kanzler wurde. Und wieder erneuerte sich die SPD programmatisch in der Regierung während der sozialliberalen Koalition. Es war Herbert Ehrenberg, der bereits 1974 Weisheit bewies, als er eine “Maschinensteuer” forderte, um dafür zu sorgen, dass von den exorbitanten Rationalisierungserfolgen der Wirtschaft nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Arbeitnehmer profitieren sollten, damit Rentensystem und Sozialstaat langfristig zu sichern seien. In Zeiten der “Wirtschaft 4.0”, mit künstlicher Intelligenz und Robotik, eine hochaktuelle politische Forderung.

Willy Brandt erreichte die besten Ergebnisse für die SPD 1972, als es um die Ostverträge, also um Inhalte ging. Helmut Schmidt konnte den Niedergang bis zum Verrat der F.D.P. 1983 auch deshalb nicht aufhalten, weil er sich in Regierungs-Klein-klein, den unsäglichen NATO-Nachrüstungsbeschluß, das Festhalten an der Atomkraft und in Sozialabbau verstrickte. Ein Niedergang, von dem sich die SPD erst wieder erholte, als Kohl abgewirtschaftet und seine “Geistig-Moralische Erneuerung” sich in ein riesiges Groschengrab zur Finanzierung seiner Lüge verwandelt hatte, die Wiedervereinigung gäbe es ohne Steuererhöhungen, quasi zum Nulltarif.

Nicht SPD, aber Programm: Rot-Grüne Reformen

Es war die Perspektive von Rot-Grün, ein möglicher Atomausstieg, die Energiewende, die ökologische Wende, ökologische Landwirtschaft, Aussicht auf eine sozialere Politik, aber auch eine ehrlichere Politik, vor allem aber eine kulturelle Öffnung, die letztlich 1998 Rot-Grün möglich machte – aber es waren diesmal nicht wie 1972 die SPD-Reformvorstellungen – es sei denn die finanzpolitischen Ideen von Oskar Lafontaine – sondern das Grüne Programm, das den erneuten Frühling der SPD ermöglichte. Und wieder waren es die Verstrickungen in die “Pflichtaufgaben” der Regierung, die dieser Koalition zusetzten – wegen des Kosovo-Krieges aber mehr den Grünen, als der SPD. Die Probleme der SPD entstanden erst ab 2002 mit den Hartz IV-Reformen, die als Rettung des von Kohl durch die “kostenlose” Einheitslüge gefährdeten Sozialstaats gedacht waren – aber nicht als solche benannt wurden. Stattdessen versuchte die SPD, ihren Anhängern die sozialen Einschnitte als “tolle SPD-Idee” zu verkaufen. Natürlich waren sie notwendig, um stagnierende Wirtschaft und kriselnde Sozialsysteme funktionsfähig zu erhalten und Merkel, Schäuble und Scholz profitieren noch heute davon. Aber eben nicht mehr und nicht weniger – aber die SPD versuchte sie ihren Wählern und Anhängern als Zukunftsprogramm zu verkaufen – und das musste schiefgehen, führte zur 2. Abspaltung von der SPD.

Denn das, was Schröder und Rot-Grün damals gemacht haben, war nicht die Lösung der Probleme Renten, sozialer Sicherheit und der Spirale von wachsender ökonomischer Ungerechtigkeit – es war das Erkaufen von Zeit. Ein Verschieben der Probleme in die Zukunft, die Scheinlösung der Ungerechtigkeit durch Wachstum, die Verschleierung der Arbeitslosigkeit durch den Niedriglohnsektor, die Ermöglichung von ökonomischem Scheinwachstum und das Anlocken von Heuschrecken durch die Steuerfreiheit von Gewinnen aus Unternehmensverkäufen. Die großen Koalitionen und Schwarz-Gelb setzten diese Tendenz durch das Kaputtsparen des Staates bis zur Handlungsunfähigkeit fort. Von der Lebensmittelkontrolle bis zu Baugenehmigungen, über die Schulen und Hochschulen, über Umweltverwaltung, Privatisierung der Fördermittelvergabe bis zu Polizei bis zur Ausländer- und Asylverwaltung wurde zentralisiert, vereinfacht, und ein so “schlanker Staat” kreiert, dass bei Erkrankung einer Sachbearbeiterin im Bauamt inzwischen eine Baugenehmigung nicht unter einem Jahr Bearbeitungsfrist zu bekommen ist. Und der Staatshaushalt schreibt zwar scheinbar eine “schwarze Null”, aber die Milliardenschulden nebst Zinsen, die wir unseren Kindern hinterlassen, liegen in tausenden zerbröckelnden Straßenbrücken und Bauwerken, maroden Schulen, Hochschulen und öffentlichen Gebäuden, geschlossenen Schwimmbädern und einem personell unterversorgten Gesundheits- und Pflegesystem.

Die Krise des Neoliberalismus und des Staates

Wir stecken mitten drin in einer Krise, die von vielen Menschen als Staatsversagen wahrgenommen wird. Weil aber die Sozialdemokraten das nicht erkennen, laufen nicht wenige ihrer ehemaligen Wähler*innen inzwischen rechten Rattenfängern von der AfD nach, die auf die Ängste und Befürchtungen dieser Menschen rekurrieren, ohne die wirklichen Probleme und Verantwortlichen zu benennen und ohne jegliche Lösung anzubieten. Sie versprechen nur die “heile Welt” in Nationalismus und Haß auf Sündenböcke, auf Flüchtlinge, Einwanderer und Minderheiten – klassische Muster, die aus der Weimarer Zeit von den Nationalsozialisten bekannt sind – ja sie verbreiten, wie das von der AfD selbst beauftragte Gutachten noch verstärkt, rechtsextremistische Parolen und rassistische Kategorien.

Was aber an berechtigten Ängsten diesen Rattenfängern zugute kommt, ist staatlicher Kontrollverlust – z.B. gegenüber Internetkonzernen, die die Bürger bis in ihre Gewohnheiten und geheimsten Gedanken ausforschen, ohne dass sie ihr eigener Staat davor beschützt; Konzerne und eine Finanzindustrie (Blackrock, aber auch Facebook), die sich in Steueroasen tummeln und ihre Milliardengewinne machen, ohne dass Europa also das Gemeinwesen, an dem sie verdienen, auch nur einen Cent Steuern einnimmt; dass Autokonzerne lügen, betrügen und dafür keinen Schadensersatz leisten müssen, sondern mit Absatz-Förderprogrammen zulasten der Dieselbesitzer gepampert werden. Das ist der wirkliche Kontrollverlust des Staates, den viele Menschen empfinden und der in der Flüchtlingskrise nur die falschen Gesichter bekommen hat. Nicht die Flüchtlinge, Zuckerberg, und ja, Friedrich Merz gehören eigentlich auf die Liste der Übeltäter, sie zu benennen klassische Aufgabe der Sozialdemokratie wäre.

Programmfragen, die Sozialdemokratische Antworten erfordern

1. Handlung in der Dieselkrise und Energiewende;
2. Wiederherstellung eines gerechten Rentensystems;
3. Verbesserung der sozialen Sicherung und des sozialen Wohnens;
4. Rückkehr von Manchesterkapitalismus zur Sozialen Marktwirtschaft;
5. Gerechte Besteuerung – vor allem von Internetkonzernen wie Google und co;
6. Gute Bildung für alle;
7. Integration und Regelung der Einwanderung;
8. Friedenspolitik vor allem in Europa für Gesamteuropa;
9. Neue nachhaltige Arbeit z.B. in den überkommenen Braunkohlerevieren
10. Sicherheit: – Sicherheit vor ausbeuterischen Methoden im E-Commerce
– Sicherheit vor Datenkraken wie Google, Facebook und Amazon,
– Sicherheit im umfassenden Sinne, nicht nur durch Polizei
– Sicherheit vor der Zerstörung der Demokratie durch Clans, antidemokratische Strukturen und asoziale Netzwerke.

In all diesen Fragen hat die SPD bisher keine Antworten, nicht einmal mittelfristige Fragen. Dabei bleiben Kernprobleme der Zukunft, wie der sich rapide beschleunigende Klimawandel, die ökonomischen Strategien der USA und Chinas, die vom kurzfristigen Wirtschaftskriegen Trumps bis zu langfristigen Strategien Chinas und seiner perfiden Überwachungs- und Herrschaftstechniken reichen, völlig außer Betracht. Die SPD, die für Entspannungspolitik und Versöhnung mit Russland stand, fährt zudem unter Außenminister Maas einen undurchsichtigen Kurs des Putin-Bashing, der aber keine Hinweise auf eine Strategie zeigt, auf Macrons Frage nach Europa keine Antwort gibt, und auch gegenüber den reaktionären Visegrad-Staaten keine Initiative erkennen lässt. Wo früher Erhard Eppler die Entwicklungspolitik prägte, herrscht heute Stille, wenn Frau Merkel nach Afrika fährt.

Beispielsweise die Lösung des Rentenproblems wird nicht, wie es einst Ehrenberg entwarf, politisch gesucht, sondern in technokratische “Kommissionen” verschoben. Das Rentenproblem ist aber ein gesellschaftliches Verteilungsproblem und ein Ordnungsproblem zwischen staatlicher Rentenversicherung und profitorientierter Versicherungswirtschaft. Die SPD bleibt die Antwort schuldig, wieso in Österreich ein Rentenniveau von 80% möglich ist, während hier über 56% gesprochen wird, von denen Rentner*innen nicht leben und nicht sterben können, und man das schon als SPD-Fortschritt verkauft.

Die SPD braucht keinen Fahrplan, sie braucht ein Programm!

Während die CDU derzeit im Bahnhof haltmacht und vor der Weiche steht, ob es nach Kramp-Karrenbauerland oder Merzhausen geht – wobei letztere Strecke schnell in Neuwahlen enden wird … Während offen ist, ob der gemeinsame GroKo-Zug überhaupt noch einmal anrollen wird, da wollen die kleinen Lokführer Scholz, Nahles, Klingbeil und Schulze immer weiter und schneller fahren, ohne zu wissen, wohin und mit welcher Lok!

Potenzielle SPD-Wähler sind doch nicht dumm! Sie wissen, dass ihre Partei in Koalitionen Kompromisse machen muss, sie wissen, dass die SPD, solange sie in der GroKo ist, Kröten schlucken muss – sie wissen aber nicht mehr, warum sie das alles aushalten sollen und was danach kommt. 1968 war klar, dass die SPD den Notstandsgesetzen zustimmt, aber die Hoffnung bestand, dass Willy Brandt und die Reformer die Republik regieren würden. 1994 war schlimm, dass die SPD das Asylrecht geschleift hat, Sozialhilfekürzungen im Bundesrat mitgetragen hat, aber es bestand Hoffnung, dass mit Rot-Grün alles anders würde! Welche Hoffnung können Nahles, Maas und co. heute den potenziellen SPD-Wähler*innen bieten?
Die Sorge, dass sie nicht mal merken, wenn die GroKo zuende ist, und sich auch noch von Merkel oder Merz oder “AKK” aus dem Kabinett entlassen lassen, weil sie nicht mehr gebraucht werden!

So ist die Lage, liebe Sozialdemokraten und im übrigen bin ich der Ansicht, dass Innenminister Seehofer sofort zurücktreten muss!

Dieser Beitrag erscheint auch bei rheinische-allgemeine.de

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net