Oder umgekehrt: Mahlzeit-Lektüre
Ara Gülers Istanbul

Der Reiseteil der ansonsten überwiegend rechts-reaktionären FAZ ist ein verstecktes Reservat von tollem – noch bezahltem – Journalismus. Er ist diese Woche voller Perlen. Auf Platz 1: Orhan Pamuk. Pamuks Texte sind immer ein Festmahl für Verstand und Gefühle. In der letzten Nacht bin ich im Traum mit einem Linienbus durch die Stadt meiner Schulzeit, Gladbeck im Ruhrgebiet, gefahren. Es ging bei mir um ähnliche Gefühle und Kindheitserinnerungen, wie sie Pamuk so kenntnisreich und gefühlsecht beschreibt.
Sein Anlass: ein Nachruf auf den hierzulande kaum bekannten Istanbuler Fotografen Ara Güler. Ich war nur einmal vor über 10 Jahren selbst in Istanbul. Vermutlich würde ich die damalige Stadt heute kaum wiedererkennen. Sie wird vom Immobilienkapital gefressen. Jedes verschwindende Gebäude, das für uns Gegenstand kindlicher Projektionen war, ebenso Parks, Teiche, Bachläufe, Wälder, werden zu einem stechenden Schmerz. Darum sind wir so süchtig nach diesen alten Bildern aus der vordigitalen Zeit. Bei meinen wöchentlichen Freitagsmittagessen, an denen der kundige Bonner Fotografensprössling Rolf Sachsse meistens teilnimmt, ist das ständiges Thema.

Georgien

Stefan Trinks schreibt über Georgien, als wenn es tatsächlich eine Orgie ist, dieses Land zu bereisen. Ich war noch nie dort, aber aus meinem Freundeskreis schon einige. Schön humorvoll, selbstironisch und selbstbewusst die Legende, wie Gott Georgien erschuf. Bezeichnend wie wichtig gutes Essen und Trinken ist. Bemerkenswert, dass die Landwirtschaft noch eine Arbeitsplatzmaschine ist (und nicht durchrationalisiert, wie in unserem Kapitalismus), was sich gut auf ökologische und geschmackliche Qualität auswirkt. Ich wäre geneigt, an den Gott, der Georgien geschaffen haben soll, den Wunsch zu richten, es gut vor uns und dem Sauerländer Friedrich Merz zu verstecken.

Washington – Maryland – Virginia

Das ist für Washington und die umgebenden Staaten Maryland und Virginia keine Option mehr. Doch siehe, auch dort blüht der Widerstand. Und er blüht wiederum rund um Produktion und Genuss von Essen und Trinken. Jakob Strobel Y Serra überbringt uns diese frohe Botschaft, auf dass wir uns von gelbhaarigen Ungeheuern nicht abhalten lassen, diese gelobten Städte und Landschaften zu besuchen. Doch, bei dieser Reportage bin ich selbst als Beueler noch neidisch geworden. Sicherlich gibt es auch schon Poster, mit denen ich mir Alexandria Ocasio-Cortez ins Zimmer hängen könnte. Frauke Steffens’/FAZ Porträt lässt darauf schliessen, dass die Dame den alten weissen Männern schon ordentlich Angst macht, mit ihrer abgebrüht-intelligenten PR-Cleverness.

Saatgutbank Spitzbergen

Im norwegischen Spitzbergen gibt es eine gemeinnützig betriebene Saatgutbank, die solange sie funktioniert, nicht weniger als das ökologische Erbe retten will, das von der kapitalistischen Industrialisierung und Standardisierung sowie den Saatgut-Monopol-Konzernen bedroht wird. Tirza Meyer/FAZ beschreibt ihre Konstruktion und ihre Gefährdung durch den Klimawandel.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net