Mit Update
So geht professionelle Krisenkommunikation: entdecke skandalöse Fehlleistungen, bevor die Öffentlichkeit es tut. Erkenne die Gefahr und vermeide das Trauma der Stern-“Hitler-Tagebücher”, von denen der sich seit über 30 Jahren nicht mehr erholen konnte. Lass Dich als “Aufklärer” von niemandem übertreffen, so lange Du noch den Power-Apparat dafür hast. Und wer soll den haben, wenn nicht der Spiegel? Mit den “Lehren”, die Du vor aller Öffentlichkeit daraus ziehst, kannst Du (vielleicht) in einer krisendurchfurchten Branche hinterher gesünder aussehen als vorher.
Nach dieser Devise geht der Spiegel vor, und seine begleitenden Medien leisten Hilfestellung. Denn sie wissen genau: was der Spiegel da präsentiert, inkl. des Sündenbocks, haben sie alle auch in den eigenen Reihen. Kleiner, unspektakulärer, mit weniger Preisen behängt. Aber was der 33-jährige Kerl beim Spiegel gemacht hat, machen das nicht alle so?
Thomas Pany/telepolis und Stefan Niggemeier/uebermedien (letzterer verschwindet nach den ersten Absätzen in einer Paywall, die dort erst nach gut einer Woche entfernt wird) beschreiben und klassifizieren die Unternehmens- und Journalismus-Kultur in der dieser (und viele andere) Skandal heranwachsen konnte. Wie Pany habe auch ich selbst den Kerl nie gelesen. Ich vermute es liegt daran, dass er wie ich nur Online-Quellen liest. Dieser Herr wurde aber vom Spiegel in eine “Edelfedern”-Schublade gesteckt, vermutlich entsprechend bezahlt und gestreichelt – und nie kostenfrei online gestellt, weil, was nichts kostet, in den Augen von Verlagskaufleuten auch nichts wert sein kann. Der Kollege, der ihn entlarvt haben soll, Juan Moreno, ist ebenso von meinem Radar verschwunden. Als früheren SZ-Mitarbeiter haben ich ihn regelrecht verehrt für seine Schreibe und seinen politisierten Humor; gelegentlich moderierte er auch live beim Funkhaus Europa (heute: Cosmo). Unübertroffen erstklassig war (und ist?) aber seine Schreibe – nun der Online-Öffentlickeit entzogen. Beim Spiegel bekommen diese zunehmend zur politischen Irrelvanz verurteilten Printleute bis heute Adelsprivilegien gegenüber ihren Arbeitskolleg*inn*en von Online. Andere machen es genauso: haben Sie von Holger Gertz/SZ, ein entschieden seriöserer Fall als dieser Spiegel-Typ, schon mal was online gesehen (ausser seinen Tatort-Besprechungen)?
Der 33-jährige vom Spiegel, Beschreibungen zufolge noch nicht einmal ein Schnösel, muss sich gefühlt haben, wie ein 17-jähriger Fußballer mit seinem ersten Profivertrag. Er ist karrierestrategisch in ein Kirmeskarussell geraten, das immer weiter gedreht und angetrieben werden muss, damit er nicht ohnmächtig, zerstört und kotzend herunterfällt. Und das während die Mehrheit seiner gleichaltrigen Berufskolleg*inn*en an ihren Arbeitsplätzen, wenn sie überhaupt einen haben, wie unzurechnungsfähige Praktikant*inn*en behandelt werden. Er war auf einem anderen intrigendurchzogenen Planeten gelandet: der Spiegel-Redaktion, und verdiente mehr Geld als er ausgeben konnte. Mann hat ja in dieser Lebenslage gar keine Zeit mehr dazu (wie auch zum reflektierenden Denken).
Nicht alles daran ist neu. Schon als ich Ende der 70er Jahre Schülerpolitik bei den Jungdemokraten machte, lernte ich schnell, dass eine Spiegel-Story über uns ihren Gegenstand nur als Anlass für eigene politische Dichtung (heute sagen wir: “Spins”) benutzte. Das blieb so. In den 90ern setzte ein Düsseldorfer Büroleiter des Spiegel das Gerücht als Nachricht in die Welt, die “linken” NRW-Grünen hätten für den grünen Aussenminister Joseph Fischer ein “Auftrittsverbot” verhängt. Nichts stimmte daran: die NRW-Grünen waren nicht “links”, es war nicht gewollt, egal von wem, und wenn es das gewesen wäre, wäre es immer noch absolut unmöglich umzusetzen gewesen. Trotzdem haben es ausserhalb der NRW-Grünen alle (Medien) geglaubt, weil es so schön in vorgegebene Klischees passte. Nun hat der gute Mann, längst nicht mehr beim Spiegel sondern selbstständiger Medienberater, einen veritablen PR-Crash in Wuppertal gebaut. Wo er das bloss gelernt hat?
Der Kern des Problems sind nicht die Fehlleistungen Einzelner. Der Kern ist die Grundstruktur des Gewerbes. Die Verbreitung von Nachrichten und Meinungen, die Entfaltung von Diskursen und kulturellem Austausch verträgt sich nicht mit kapitalistischen Strategiekriterien. Verkäufer von Nachrichten und Meinungen sind nicht an deren Verbreitung interessiert, weil das zwar der Demokratie dienen würde, aber die Preise kaputt macht. Also verknappen sie sie. Und verkleiden sie als was Besonderes, also Teures. So wird die bestehende Klassengesellschaft reproduziert. Wer an mehr Demokratie und gleicher Teilhabe an ihr interessiert ist, muss dagegen für mehr Zugänglichkeit und Verbreitung von Information, Bildung und Meinungsbildung arbeiten. Für ein kapitalistisches Medienunternehmen ist das ein unlösbares Paradox. Der 33-jährige wird nicht der Letzte sein. Überlegt Euch gut, ob Ihr ernsthaft “was mit Medien” machen wollt! Und wenn: genau überlegen, wie uns was!
Augsteins Freitag kann auch unglamourös, skandalarm und politisch relevant
Und wo wir gerade bei Medien sind: bei Augsteins Freitag gibt es aktuell eine auffällige Ballung von Rückkehrern, die dem Niveau des Mediums alle extrem zuträglich sind:
Tom Strohschneider (zwischendurch ND-Chef, von dort geflohen und dann zum Oxiblog) ist mit einer Kolumne zum “guten Leben” zurück.
Mein Freund Ingo Arend, einst von Augstein gefeuert, weist auf eine Initiative aus der bürgerliche Mitte für ein Exilmuseum in Berlin hin (für mich als Nichtberliner eine politisch bemerkenswerte Neuigkeit).
Und sogar Ex-Chefredakteur Franz Sommerfeld (sein Leben lang Chef: beim MSB Spartakus, beim Kölner Stadt-Anzeiger, beim Verlag DuMont Schauberg) schreibt eine kluge Rezension über ein gutes Buch des erkrankten Franz Walter über die SPD.
Es geht also auch: unglamourös, schlecht bezahlt, aber politisch relevant.
Update 21.12.: Juan Moreno stellt den Spiegel-Skandal bei seiner ehemaligen Arbeitgeberin SZ aus seiner Sicht dar. Bemerkenswert: der Mitte-40-jährige wird immer noch so prekär beschäftigt wie ein “ewiges Talent” – in der Fußballsprache sind das begnadete Spieler, die lebenslang am beruflichen Durchbruch scheitern. Diese materielle Situation – sogar Moreno! sogar beim Spiegel! – die nicht Ausnahme sondern Regel ist, müssen wir uns klarmachen, wenn wir die Affäre verstehen wollen. Die von mir sowieso hochgeschätzten Anne Fromm und Rene Martens haben in der taz zusätzliche Belege gesammelt, wie der Spiegel bis heute seine Fehler wiederholt.
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