Die hauptstädtische Aufregung über den aktuellen “Datenskandal” ist so schlecht inszeniert, dass ich mich frage, wie lange das mit diesem System und seinen demokratischen Potenzialen noch gutgehen soll.
19-jährige Nerds machen sich wichtig und lustig darüber, wie sie in Berlin ahnungslos übereinander herfallen – irgendjemand muss ja schuld sein, und wie einfach es war, das mit individuellem Aufwand, ein bisschen Fleiss und guter Sachkenntnis loszutreten.
Dass der scheinbar verbrecherische Datendiebstahl schon vor mehr als vier Wochen begangen wurde, und die klassische Sau-durchs-Dorf-jagende Aufregung erst so spät startete, verrät zweierlei. Die technikkompetenten jugendlichen Würstchen, die das angestellt habe, sind umso inkompetenter in der Kenntnis politischer Prozesse, wie sie in der Welt da draussen zu starten und zu steuern sind, und vor allem: wohin?
Die technikinkompetenten Schausteller*innen in Berlin – Politiker*innen, “Sicherheitsbehörden” ebenso wie was-mit-Medien-Leute – können sich ihre Empörung irgendwohin stecken, wo es zur Fäkalsprache werden könnte, wenn ihnen ihre Kenntnis- und Tatenlosigkeit über die Jahresendfeiern wichtiger war, als das, was sie jetzt als Skandal aufblasen. Die Täter*innen wird es unendlich unterhalten, belustigen und zum weitermachen animieren – wegen des grossen Erfolges.
Gestern las ich in der Printausgabe der SZ ein Interview mit einem chinesischen Science Fiction-Autor. Er erklärte, warum die allermeisten Chines*inn*en das heraufdämmernde Social-Scoring-System, mit dem die Staatsführung alle Bürger*innen erfassen und kontrollieren will, nicht fürchten sondern freudig erwarten. Sie erwarten mehr Transparenz und weniger Willkür, mehr Gerechtigkeit und Verlässlichkeit; ihr Vertrauen in ihre politische Führung würde damit eher wachsen als abnehmen. Die Völkerverständigungsbereitschaft der SZ ging leider nicht so weit, das Interview offen online zu stellen (ihre schwäbischen Verlegermilliardäre haben andere, wichtigere Sorgen, als zu öffentlichen Diskursen beizutragen); darum fehlt hier eine Verlinkung. Und weil ich mein Printexemplar gestern in der Bahn habe liegenlassen, bin ich nicht in der Lage hier saubere Quellenangaben zu liefern.
Wenn ich mir den Zirkus anschaue, den sie in Berlin derzeit veranstalten, entwickle ich erstmals Verständnis für die Mehrheit der Chines*inn*en. Es ist ernsthaft dramatisch. Die Reaktion auf die Tat erzeugt mehr Furcht, als die Tat selbst. Das Muster der Flüchtlingspolitik wiederholt sich. Das “Problem” wäre lösbar, aber wir haben keine Behörden, Verwaltungen und keine Leute gewählt, die es können.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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