Mexikos neuer Präsident setzt seine Wahlversprechen um
von Gerold Schmidt

Der Mensch meint es ernst. Offiziell kaum zwei Monate im Amt, scheint es so, als wolle Mexikos neuer Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) sein angekündigtes 100-Punkte-Programm in sechs Monaten statt in sechs Jahren seiner Regierungsperiode umsetzen. Fast mutet es an, er sei sich nicht sicher, wie lange ihm Zeit gelassen wird. AMLO wandelt mit seiner anvisierten „Vierten Transformation“ Mexikos, kurz die 4T genannt, auf schmalen Grat. Ein tiefer Absturz und ein grandioses Scheitern des derzeit hochpopulären Präsidenten ist mindestens genauso vorstellbar wie eine Regierung, die Mexiko nach 36 Jahren neoliberaler Dominanz grundlegend zum Positiven verändert und eine neue Hoffnung für ganz Lateinamerika bedeuten könnte.

Gegen (selbst-)mörderischen Treibstoffklau

López Obrador hat schon ganz zu Anfang sehr viel auf eine Karte gesetzt. Ende Dezember begann er seine Initiative gegen die Korruption im staatlichen Ölkonzern Pemex und den enormen Treibstoffklau durch „verlorene“, illegal operierende und ausgeraubte Tankwagen sowie tausende „Zapfstellen“ am Netz von Pipelines im Land. Die Bekämpfung des Huachicoleo, den massiven Treibstoffklau und -handel durch die organisierte Kriminalität, ist derzeit das alles beherrschende Thema in Mexiko. Versorgungsengpässe an den Tankstellen, Warteschlangen, der Einsatz des Militärs als Wächter der wichtigsten und am meisten angezapften Pipelines und als Pemex-Kontrolleure, haben in der breiten Bevölkerung der Beliebtheit des Präsidenten nicht geschadet. Nach der Tragödie von Tlahuelilpan im Bundesstaat Hidalgo, bei der am 19. Januar und den Folgetagen mindestens 93 Menschen durch die Explosion einer angezapften Ölpipeline und das in Brand geratene auslaufende Benzin umkamen, ist die Unterstützung für AMLOs Kampagne gegen den Huachicoleo auf knapp über 80 Prozent gestiegen. Doch ein Ende des Kräftemessens mit den mafiösen Strukturen in dieser “alternativen” Ölindustrie ist nicht in Sicht. Fortgeführte Sabotageakte, ein mangelhaft organisiertes alternatives Verteilungssystem, das das beabsichtigte zeitweise und längere Trockenlegen von Leitungsabschnitten kompensieren soll, sowie eine nicht immer transparente Informationspolitik sind Schwachstellen.

Drogenkartelle durch Sozial- und Ausbildungsprogramme unterminieren

AMLO setzt auf die schnelle Umsetzung relativ umfangreicher Sozial- und Ausbildungsprogramme, um dem organisierten Verbrechen und speziell den Drogenkartellen ihr riesiges Reservoir an Zuläufer*innen zu entziehen. Immer wieder betont er in seinen (werk)täglichen Pressekonferenzen um 7 Uhr morgens, anders als unter den Vorgängerregierungen habe es die Bevölkerung nicht mehr nötig, zu rauben. Durchschnittlich anderthalb Stunden stellt er sich im Nationalpalast den Fragen der Journalist*innen. Er lässt Tabellen und Statistiken auf die Leinwand werfen, hält aber auch viele Monologe, oft stark moralisierend. Im Bestreben, möglichst viele seiner Wahlversprechen schnell umzusetzen, hat López Obrador in zwei Monaten enorm viele Baustellen eröffnet. Neben viel Unterstützung sichert er sich viele Feinde.

Teure Megaprojekte storniert

Gestützt auf eine „Bevölkerungsbefragung“, die wegen geringer Beteiligung und Art der Durchführung wenig mit einer ernsthaften Volksbefragung zu tun hatte, cancelte der Präsident das umstrittene Megaprojekt eines neuen Internationalen Flughafens. Anders als erwartet, erreichte die neue Regierungen innerhalb weniger Wochen Vereinbarungen mit den Finanziers und beteiligten Bauunternehmen. Möglich war dies wohl wegen zugesagter Entschädigungszahlungen und der Angst vieler Firmen, genauere Vertragsprüfungen könnten einen Korruptionsfall nach dem anderen ans Licht bringen. Die Einigung war einer von mehreren wichtigen Faktoren für einen erstaunlich stabilen mexikanischen Peso gegenüber dem US-Dollar. Die Pläne für den alternativen Ausbau des ebenfalls hauptstadtnahen Militärflughafens Santa Lucía und die Verteilung des Fluggastaufkommens auf mehrere bestehende Flughäfen sind noch nicht ausgereift. Dies gilt ebenso für AMLOs eigene Großprojekte: den über eine Strecke von 1525 Kilometern geplanten „Maya-Zug“ im mexikanischen Südosten sowie den Ausbau der Bahnstrecke über den Isthmus von Tehuantepec. Der Umgang mit der Opposition anliegender Gemeinden wird einer von vielen Prüfsteinen der Menschenrechtspolitik der Regierung sein.

Verschwundene werden ge- und untersucht, erste politische Gefangene freigelassen

Seit Mitte Januar hat die Wahrheitskommission zum Verschwindenlassen der 43 Studenten von Ayotzinapa offiziell ihre Arbeit aufgenommen. Sie will eng mit internationalen Menschenrechtseinrichtungen zusammenarbeiten. Die Familienangehörigen sind in der Kommission vertreten. Doch gleichzeitig kritisieren Menschenrechtler*innen, wie wenig sich die Regierung bisher zu den anderen der etwa 36 000 Verschwundenen in Mexiko geäußert hat. Eine positive Initiative: Wie versprochen überprüft die neue Regierung eine Liste von fast 400 „politischen Gefangenen“. In der Mehrheit handelt es sich um Umweltschützer*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, kommunale Führungsfiguren und politische Aktivist*innen. Eine erste Gruppe kam im Dezember frei.

Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst – beim Präsidenten angefangen, aber nicht aufgehört

Die Bildungsreform seines Vorgängers Peña Nieto mit ihren (die Lehrer*innen) bestrafenden und privatisierenden Elementen ist durch eine von AMLO an das Parlament weitergeleitete Initiative so gut wie widerrufen. Doch auch die angestrebte neue Reform soll in Zusammenarbeit mit der OECD entwickelt werden, die schon das Vorprojekt maßgebend bestimmte.
Die angekündigten Lohnkürzungen für Spitzenfunktionäre sind vielfach schon durchgesetzt worden. Niemand im öffentlichen Dienst soll mehr verdienen dürfen als der Präsident, der sich sein Gehalt auf umgerechnet netto etwa 5000 Euro stutzte. Die von AMLO verordnete „republikanische Genügsamkeit“ kommt nicht überall gut an. Gerade im Justizwesen und in Behörden wie dem Bundeswahlinstitut bedeutet sie für eine ganze Reihe hoher Funktionsträger*innen einen radikalen Einkommensschnitt, gegen den sie sich vor Gerichten wehren. Sie stehen allerdings unter einem extrem hohen sozialen Druck, da viele ihre zum Teil absurden Privilegien und Zusatzleistungen nun verstärkt öffentlich diskutiert werden. Dagegen liegt die bereits umgesetzte Mindestlohnerhöhung mit 16,2 Prozent um mehr als das Dreifache über der Inflation. Die unteren Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor sollen schrittweise angehoben werden.

Konfliktfall Nationalgarde

Um eines seiner umstrittensten Projekte ringt AMLO derzeit noch. Bei der Schaffung und Ausbildung einer Nationalgarde, die in erster Linie gegen die Drogenkartelle eingesetzt werden soll, will er zumindest anfangs vollständig auf das Militär setzen. Nur widerwillig gab er nationalen und internationalen Protesten und Einwänden nach. Er ließ sich darauf ein, dass die Nationalgarde formal dem zivilen Minister für Öffentliche Sicherheit (Alfonso Durazo) und nicht dem Verteidigungsminister (General Luis Crescencio Sandoval) unterstellt ist. Der Präsident wird nicht müde zu erklären, das Militär sei „Volk in Uniform“. Er werde nicht zulassen, dass es jemals wieder die Bevölkerung unterdrücke. Allein, vielen fehlt der Glaube. Für das auch von AMLO benannte Dilemma, dass mit der aktuellen korrumpierten lokalen und Bundespolizei kein Staat zu machen ist, hat andererseits niemand eine überzeugende Lösung. Für die Gründung der Nationalgarde ist eine Verfassungsänderung mit qualifizierter Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Senat notwendig. Im Abgeordnetenhaus erreichte der Präsident diese Zwei-Drittel-Mehrheit unerwartet locker. Denn dort kann er inzwischen regelmäßig auch auf die Stimmen der opportunistischen Partei der mexikanischen Grünen (die in den letzten Jahren ihr Fähnlein immer nach dem Wind gedreht haben), sowie mehrerer PRI- und PRD-Abgeordneter zählen. Im Senat liefen noch Ende Januar zähe Verhandlungen über die Verfassungsänderung.

Opposition ist desolat und keine Bedrohung

Das Abstimmungsverhalten im Abgeordnetenhaus zeigt, wie wenig Widerstand der neue Präsident im Moment auf politischer Ebene zu fürchten hat. Die zuvor regierende Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) und die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) haben sich von ihrer desaströsen Wahlniederlage immer noch nicht erholt. Einfache Gesetze kann AMLO problemlos durch die Legislative bringen. Ebenso wichtige Personalentscheidungen, bei denen Abgeordnete und Senator*innen zustimmen müssen. Formal hat der mexikanische Kongress in der Regel aus Dreiervorschlägen auszuwählen. In der Praxis kommen die AMLO-Kandidat*innen durch.
Richtig, in der Regierung gibt es auch noch Minister*innen. Doch trotz einiger interessanter Personalien wie der erst 31-jährigen Arbeitsministerin Luisa María Alcalde oder des Außenministers und früheren Hauptstadtbürgermeisters Marcelo Ebrard, wird das Kabinett bisher weitgehend von AMLO an die Wand gespielt. Diese Dominanz, die auf der anderen Seite von der Fixierung großer Bevölkerungsteile auf ihren Hoffnungsträger López Obrador gespiegelt wird, ist mittel- und langfristig sicher eine ganz erhebliche Schwäche der 4T. Sie steht und fällt mit AMLO, wenn sie keinen haltbaren strukturellen Unterbau bekommt. Neben AMLO erhält vielleicht noch die anerkannte Umweltwissenschaftlerin und Politikerin Claudia Sheinbaum als neue Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt einige Aufmerksamkeit. Erstmals seit 1997 werden damit Hauptstadt und Bund von derselben Partei, AMLOs Nationaler Erneuerungsbewegung MORENA, regiert.

Durchdachte Aussenpolitik

Außenpolitisch kehrt die Regierung zur Politik der Nicht-Einmischung (die Estrada-Doktrin) zurück, für die Mexiko jahrzehntelang unter den PRI-Regierungen bekannt war. Konkret hieß dies beispielsweise zuletzt, nicht in den plumpen Mehrheitstenor der Lima-Gruppe und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gegen Nicaragua und Venezuela einzufallen. Gleichzeitig bemüht sich sich AMLO aber, nicht als aktiver Unterstützer der diskreditierten Regime Ortegas und Maduros dazustehen.
Der Platz reicht nicht aus, um über viele weitere wichtige Initiativen und Probleme der neuen Regierung zu schreiben (Wirtschaftssonderzone an der Nordgrenze, Migrationspakt mit den USA, die Umwandlung der Präsidentenresidenz Los Pinos in eine Art offenes Kulturzentrum, Ausschreibungsstop für die Ausbeutung neuer Erdölfelder, anhaltend hohe Mordrate, Gesundheitspolitik, Landwirtschaftsprogramme, Dezentralisierung der Ministerium, anhaltende Entfremdung mit der EZLN, usw., usw.). Es verdichten sich die Anzeichen, dass AMLO seine zum Amtsantritt am 1. Dezember vor über 150 000 Menschen auf dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt vorgelesenen 100 Programmpunkte tatsächlich einen nach dem anderen umsetzen will (sie können auf Spanisch nachgelesen werden). Völlig zu recht ist wiederholt gesagt worden, AMLO sei kein wirklicher Linker. Er steht jedoch eindeutig für eine sozialer ausgerichtete Politik und den Glauben, dass eine Regierung sehr wohl in der Lage sein kann, sich gegen starke wirtschaftliche Interessen und die Diktatur des Marktes durchzusetzen statt sich zu deren Erfüllungsgehilfen zu machen. Mexiko steht vor spannenden Monaten.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 422, hg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika.

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