Ein Bgirl berichtet aus Brasilien
Von Viola Luisé Barner

Hiphop spielt in Brasilien eine wichtige gesellschaftliche und politische Rolle. Ursprünglich aus den Vereinigten Staaten Amerikas kommend, zeichnet sich die Kultur des Hiphop durch ihren peripheren und interkulturellen Charakter aus. So auch in Brasilien, wo die Gesellschaft durch große soziale Unterschiede geprägt ist. Während die sogenannte westliche Welt den Hiphop und seine vier Ausdrucksformen teils integriert, aber vor allem kommerzialisiert, werden im größten Land Lateinamerikas weder Graffity noch Djing, Rap oder Breaking als Kunstform, geschweige denn Berufung anerkannt, stattdessen weitgehend marginalisiert. Dabei spielen zum einen alteingesessene Vorurteile eine Rolle, aber auch die aktuellen politischen Entwicklungen verhindern eine gesellschaftliche Eingliederung. Mit der erst kürzlich stattgefundenen Abschaffung des Kulturministeriums geht einher, dass zum Beispiel Aufführungen auf öffentlichen Plätzen verboten werden sollen. Das greift die Essenz jeglicher Straßenkultur an. Und damit auch den Straßentanz.

Die ersten Spuren des Hiphop werden in den 80er Jahren in São Paulo registriert. Die Metrostation „São Bento“ und die Straße „25 de Março“ sind dabei zwei Hauptschauplätze der urbanen Tanzentwicklungen; Nelson „Triunfo“ und die Gruppe „Funk Cia“ gehören zu den dortigen Pionieren des Urbanen Tanzes. Nelson Gonçalves Campos Filho („Triunfo“), ursprünglich aus dem nordöstlichen Staat Paraíba und heute international anerkannte Ikone des brasilianischen Hiphop, lernt Breaking 1983 als Breakdance (kommerzieller Name für Bboying/Breaking) in den Medien kennen und praktiziert erste Schritte des Tanzes in den Straßen der Hauptstadt. Dabei integriert er in seine musikalischen und tänzerischen Ausdrucksformen zusätzlich Folklore-Elemente (Embolada, Frevo, Maracatu, Forró, Baião) und Einflüsse von James Browns performativen Innovationen.
Die frühen 80er, das sind in Brasilien die letzten Jahre der Militärdiktatur. Hiphop wird von der Polizei als Akt der Subversion eingestuft und unterdrückt, birgt also von Anfang an einen eigenen widerständigen Charakter. Die Treffen im öffentlichen Raum erregen immer mehr Aufmerksamkeit und werden mit dem Regierungswechsel 1985 bald als legitime Finanzierungsmöglichkeit erkannt und genutzt. Tänzerische Einlagen vor Sammelboxen wie Plastiktüten, Mützen oder Caps am Eingang der Station „São Bento“ im Zentrum São Paulos breiten sich mit der Zeit auf Plätze vor Ampeln, Strandpromenaden und Züge der großen brasilianischen Städte aus. Im Idealfall ist die Stadt voller Tourist*innen, es gibt eine Musikbox und so werden fünfminütige, zum Teil choreografierte Shows von Gruppen bis zu zehn Personen vor Bars und Restaurants vorgeführt. Mit witzigen Ansagen und beeindruckenden akrobatischen Elementen wird um finanzielle Unterstützung der Straßen-Künstler*innen gebeten. Aber auch zwei Tänzer, die während der roten Ampelphase auf dem heißen Asphalt auf einer Hand hüpfen, oder kleinere Gruppen, die klatschend in fahrenden Zügen performen, schaffen sich so die Möglichkeit, mit ihrer Kunst Geld zu verdienen. Und dieser Verdienst gehört immer noch zum Haupteinkommen der Bboys und Bgirls (Tänzer*innen des Breaking), die versuchen von ihrer Kunst zu leben – das bedeutet oftmals mehr schlecht als recht die Eltern oder bereits die eigene Familie zu versorgen und gegebenenfalls auf nationale und internationale Battle-Events reisen zu können.

Asphalt-Performance

Und nicht nur das – aufgrund von fehlenden Räumlichkeiten fungieren die Straßenshows im städtischen Raum als regelmäßige Trainingspraxis. Das trägt unter anderem zur Entwicklung und zum Wiedererkennungswert eines brasilianischen Stils im Breaking bei: Anspruchsvolle Saltos und komplexe akrobatische Elemente erregen größere Aufmerksamkeit unter den Zuschauer*innen und sind damit lukrativer; Maurício Araújo de Souza, bekannt als Bboy „Kokada“, ist der aus diesem Kontext entsprungene, wahrscheinlich einflussreichste Powermover (der akrobatische Elemente im Breaking nutzt). Aber auch die Bodenbeschaffenheit spielt bei der Entwicklung der Bewegungen eine große Rolle. Öffentliche Plätze, die sich für derartige Aufführungen anbieten, sind meistens asphaltiert und behalten dadurch gezwungenermaßen Bewegungsmuster der ursprünglichsten Form des Breakings bei. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Footwork, Bewegungen in der Hocke/auf allen Vieren, die in Brasilien zum Beispiel weniger die Knie nutzen oder Slides (rutschende Bewegungen) entwickelt haben als in Europa, wo auch aus klimatischen Gründen eher drinnen, zum Beispiel auf Holzboden trainiert wird. Auch die sehr schmalen privaten Räumlichkeiten, balancierende Metro-Flure oder ländliche Wohnsituationen haben einen ästhetischen Einfluss auf die tänzerischen Formen. Aus dem Amazonas kommende Bboys und Bgirls tendieren zu sehr komplexen, akrobatischen Tanzelementen, während in São Paulo eine „Gangster”-Haltung üblich ist.
Der in nördlichen Teilen Brasiliens sehr übliche, frühe Kontakt mit Capoeira ist ein weiteres Stilelement. Die brasilianische Tanz-Spiel-Kampfform ist sowieso als eine der wichtigsten Einflüsse auf die Grundelemente des Breaking bekannt; die oft explosive Bewegungsqualität und viele zum Verwechseln ähnliche Moves schaffen eine große Affinität zwischen Bboys/Bgirls und Capoeiristas. Bestes Beispiel dafür ist der heute weltweit bekannte Bboy und Capoeirista Neguin.

Der deutsche Niels „Storm“ Robitzky schaffte ein didaktisches Standardwerk

Eine ernsthafte Professionalisierung im Breaking innerhalb Brasiliens ist trotzdem fast unmöglich. Einige staatliche Initiativen stellen junge Lehrkräfte ein, um Breaking in öffentlichen Institutionen zu unterrichten, selten zeigen sich auch private Schulen interessiert. Auch hier variiert der Markt von Region zu Region. Angesichts des vor kurzem stattgefundenen politischen Machtwechsels sind hier auch Kürzungen zu erwarten. In São Paulo gibt es weiterhin wesentlich mehr Battles, auch von privaten Initiativen und mit höherem Preisgeld als in irgendeiner anderen Stadt. Im Allgemeinen wird Hiphop hier besser vermarktet.
Durch den sehr eingeschränkten Zugang zu Informationen über Hiphop und Breaking sowie fehlende Materialien wie Turnschuhe und Ghettoblaster, kann sich die lebhafte Subkultur halten, die Hiphop nicht selten als Zuflucht versteht; ein Gegenentwurf auch zum katholisch-christlich doktrinierten Alltag, der sonst oft als einzige Alternative zur Kriminalität scheint. Trotzdem bieten auch die kirchlichen Einrichtungen Tanzkurse an und eröffnen damit vielen Kindern und Jugendlichen den ersten Kontakt zum Hiphop. Meistens wird die Form aber in einem sehr eingeschränkten Rahmen präsentiert und führt entweder dazu, dass junge Interessierte die lokale Szene aufsuchen, um sich weiterzuentwickeln, oder aber das Tanzen irgendwann wieder aufgeben.
Eine andere weitverbreitete Form, sich das Breaking anzueignen, ist die DVD von Niels „Storm“ Robitzky. Die deutsche Bboy-Legende veröffentlicht in den 2000ern eine Art Zusammenfassung von verschiedenen Footworks, die in Brasilien zu einem grundlegenden autodidaktischen Lehrmaterial geworden ist. Der Zugang dazu ist in den beschriebenen Lebenssituationen eine große Erleichterung und eröffnet viele Möglichkeiten.

Kämpferische Haltung

Die Konfrontation zwischen Tänzer*innen sowohl im Cypher (1) wie auch in Battle-Situationen integriert Gewaltprävention und Konfliktlösungsmöglichkeiten. Das bedeutet nicht, dass es sich hierbei nicht um höchst obszöne und aggressive Szenen dreht, in denen Tanz und Gestik zur Erniedrigung eines vermeintlichen Gegners eingesetzt werden; vielmehr stechen brasilianische Bboys und Bgirls in der internationalen Szene durch ihre authentische kämpferische Haltung hervor.

Dies zeigt, dass die integrierende Kraft des Hiphop und das Breaking als extreme physische Ausdrucksform einen Raum schaffen, in dem gewohnte, meist brutale Umgangsformen hinterfragt und geändert werden können. Die meisten Wettkampfveranstaltungen in Brasilien haben in ihrem Programm sowohl offene Gesprächsrunden mit übergeordneten soziopolitischen Themen sowie Workshops aller Art (Projektentwürfe, Prävention, Kreativität & Choreographie, Integration und vieles mehr). Außerdem kümmern sich die Organisator*innen und vor Ort lebende Tänzer*innen soweit wie möglich um Unterkünfte und Verpflegung für anreisende Teilnehmer*innen.
So trägt das Breaking zu einer demokratischen Ethik bei, schafft politisches Bewusstsein und moralische Grundprinzipien, wie zum Beispiel each one teach one (2). Dadurch integrieren auch viele soziale Projekte die Hiphop Kultur oder werden von Bboys/Bgirls oder Rappern gegründet, wie zum Beispiel „Diadema“ von Nelson Triunfo. Das fördert realitätsnahe Erziehungsmethoden und Umgangsformen mit der prekären Lebenssituation.

Eine für alle zugängliche Gemeinschaft – ist schon dadurch hochpolitisch

Allein anhand des hier kurz angerissenen Einblicks in die brasilianische Hiphop Kultur wird deutlich, wie lebensnotwendig diese freie und künstlerische Szene für viele junge Menschen der sozial benachteiligten Klassen sein kann. Eine für alle zugängliche Gemeinschaft, welche die Werte immer wieder aufs Neue ausdiskutiert, Bildung fördert und einen unvergleichlichen Zusammenhalt schafft. Trotz oder gerade durch die prägenden sozialen Umstände und die kulturelle Vielfalt erschaffen brasilianische Bboys und Bgirls einen unvergleichliche Bewegungssprache. Die Geschichte des brasilianischen Hiphop und vor allem der Breaking-Kultur ist bis heute erst wenig erfasst und das Material, das vorliegt, wird oftmals angefochten oder von Erfahrungsberichten der älteren Generation widerlegt. Es ist lohnenswert, weiter in die Thematik einzusteigen, um auf die verschiedenen Regionen und ihre spezifischen, bereichernden Einflüsse eingehen zu können, unentdeckte Talente zu würdigen und dem enormen Potential der künstlerischen Widerstandsbewegung gerade in der aktuellen politischen Situation die angemessene Aufmerksamkeit zu schenken.

Viola Luise Barner ist Bgirl bei „Gang Gangrena“ (Paraíba, Brasilien), außerdem BA in Tanz an der der staatlichen Universität von Bahia (Salvador, Brasilien)

1) Wortwörtlich bedeutet Cypher „Null“, „Ziffer“, „Chiffre“ oder „Monogramm“. Cypher meint auch eine Nachricht in Geheimschrift, mit der alltägliche Sprache in einen Code verwandelt wird. Der Kreis, in dem sich Hiphoper battlen, könnte Cypher genannt werden, weil sie hier ihre Fähigkeiten zu freestylen zur Schau stellen. Dabei verändern sie die Alltagssprache bzw. die Grundschritte und erschaffen Sinnzusammenhänge, die Außenstehenden wie ein Code erscheinen.
2) Leitsatz des Hiphop: „Jeder bringt einem anderen etwas bei“, geht vermutlich auf die Sklaverei zurück, wo den Sklav*innen formelle Bildung verwehrt wurde; Wissen und Fähigkeiten sollten weitervermittelt werden

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 422, hg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika. Der erste einleitende Absatz wurde von der ila verfasst, die Zwischenüberschriften nachträglich vom Extradienst eingefügt..

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