von Rainer Faus und Simon Storks / Otto-Brenner-Stiftung
Studie zur ersten Nachwendegeneration

Die Bundesrepublik feiert dieses Jahr das dreißigjährige Jubiläum des Mauerfalls. Dies war für uns Anlass, den Stand der deutschen Einheit erneut auf den Prüfstand zu stellen: Geeint oder noch immer gespalten? Wo stehen wir heute? Anders als vorherige Studien haben wir dazu speziell die Nachwendegeneration unter die Lupe genommen, denn es sind die jungen Bürger*innen dieser Generation, die als erste gemeinsam im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen sind. Sie kennen die alte BRD und DDR nur noch aus Erzählungen und Geschichtsbüchern.

Unterschiede: It’s The Economy

Wie zahlreiche Studien zeigen, weisen vorherige Generationen zum Teil noch deutliche Einstellungsunterschiede zwischen West und Ost auf. Uns hat die Frage angetrieben, ob sich derartige Unterschiede auch in der Nachwendegeneration finden lassen und wie sie gegebenenfalls zu erklären sind. Unterscheiden sich auch die jungen Bürger*innen zwischen West und Ost? Oder ist mittlerweile eine Generation der Einheit herangewachsen? Die Ergebnisse unserer Studie zeigen: Die vielzitierte „Mauer in den Köpfen“ gibt es auch in dieser Generation noch. Aber sie ist – sinnbildlich gesprochen – nicht mehr so hoch und fest zementiert wie in vorherigen Generationen. Neben Unterschieden gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen jungen West- und Ostdeutschen. Und die Unterschiede haben vorwiegend Ursachen, denen mittels politischer Maßnahmen entgegengewirkt werden kann.
Die jungen Bürger*innen in West- und Ostdeutschland unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der ökonomischen Situation in ihren jeweiligen Heimatregionen. Nicht nur wird in Ostdeutschland die wirtschaftliche Lage seltener als gut empfunden, junge Ostdeutsche klagen auch häufiger über die schwierige Lage auf dem regionalen Arbeitsmarkt. Aber, und das ist die gute Nachricht, es trübt ihren Blick in die Zukunft nicht. Die Nachwendegeneration in West wie Ost blickt insgesamt zuversichtlich nach vorne.

Wessis fühlen sich nicht als Wessi

Neben der Situation zeigen sich zwischen jungen West- und Ostdeutschen auch Unterschiede in der Sozialisation, obwohl sie gemeinsam im geeinten Deutschland aufgewachsen sind. Vor allem die narrative Weitergabe der Transformationserfahrungen ihrer Elterngeneration zeigt einen Effekt. Je nachdem, ob und wie sich die Wiedervereinigung auf das Leben der eigenen Eltern ausgewirkt hat und wie diese darüber erzählt haben, haben Bürger*innen der Nachwendegeneration einen durchaus unterschiedlichen Blick auf Politik und Gesellschaft.
Was auffällt und dafür spricht, dass auch die Nachwendegeneration noch nicht gänzlich geeintist, ist ihr Selbstverständnis und ihre Identität. Während junge Ostdeutsche sich durchaus als ostdeutsch identifizieren, zum Teil sogar ähnlich stark wie als deutsch, trifft dies auf gleichaltrige Westdeutsche nicht zu. In der Wahrnehmung junger Westdeutscher gibt es keine verbindende westdeutsche Identität in Abgrenzung zu Ostdeutschland. Ostdeutschland wird auch von der Nachwendegeneration eher als einheitlicher Block wahrgenommen, während sich der Blick auf Westdeutschland als differenzierter erweist.

Ahnungslosigkeit zum Geschehen der “Wende” haben West und Ost gemeinsam

Ebenso unterscheiden sich die jungen Bürger*innen in West und Ost in Bezug auf ihre Bewertung der Wiedervereinigung. Sie haben eine unterschiedliche Sicht auf die Vergangenheit. Die Mehrheit sieht die Wiedervereinigung zwar als gelungen an und würde sie nicht rückgängig machen wollen. Auch sehen die meisten Bürger*innen der Nachwendegeneration keinen Bezug der Wiedervereinigung zu ihrem eigenen Leben heute. Aber bei vielen Fragen zeigen sich doch unterschiedliche Wahrnehmungen: Wurden Ostdeutsche nach der Wiedervereinigung häufig unfair behandelt? War die Wiedervereinigung zu teuer? Gab es in der DDR Dinge, die besser waren als in der alten BRD? Macht es heute noch einen Unterschied, ob jemand aus West- oder Ostdeutschland kommt? Die jeweiligen Antworten offenbaren, dass es auch in der Nachwendegeneration keine geeinte Sicht auf die Vergangenheit gibt. Durch unterschiedliche Präsenz von und Konfrontation mit den Folgen der Wiedervereinigung, unterschiedliche Berührungspunkte und unterschiedliche Wendenarrative, zeigt sich an dieser Stelle in der Nachwendegeneration noch eine „Mauer in den Köpfen“. Um dieser entgegenzuwirken, empfiehlt es sich, politische und geschichtliche Bildung zum Thema Wiedervereinigung zu stärken. Denn der Wissensstand dazu ist in der Nachwendegeneration zum Teil sehr gering, was unter anderem die Grundlage für die verschiedenen Blickwinkel bildet. Vielen jungen Bürger*innen fehlt ein Bezug zum Thema Wiedervereinigung und Verständnis für die Erfahrungen und Situationen der Bürger*in-nen im jeweils anderen Teil Deutschlands. Transformationserfahrungen müssen erzählt und Transformationsleistungen anerkannt werden.

Mangel an Vertrauen und Selbstvertrauen

Anders sieht es bei der Wahrnehmung zum gegenwärtigen Deutschland aus. Wie ist es um die Einstellungen der Nachwendegeneration gegenüber politischer Partizipation und Demokratie bestellt? Zwar zeigen sich diesbezüglich Unterschiede zwischen jungen west- und ostdeutschen Bürger*innen, aber diese erweisen sich häufig als überraschend gering. Die Nachwendegeneration insgesamt ist politisch interessiert, aber ihr politisches Selbstvertrauen ist zugleich gering – unter Ostdeutschen nochmals geringer als unter Westdeutschen. Viele trauen sich nicht zu, an politischen Gesprächen teilzunehmen oder meiden diese, um Konflikte zu vermeiden. In West wie Ost ist das Gefühl, auf politische Entscheidungen keinen Einfluss nehmen zu können, verbreitet. Und das Verhältnis der jungen Bürger*innen zu Bundesregierung sowie Parteien ist durch einen Mangel an Vertrauen gekennzeichnet.

Demokratie ist gut – die reale Demokratie funktioniert aber nicht gut genug

Was heißt das für die demokratischen Überzeugungen der Nachwendegeneration? Die Demokratieunterstützung erweist sich trotz der eben genannten Befunde unter den jungen Bürger*innen als hoch. Die überwiegende Mehrheit sieht Demokratie als beste Staatsform – junge Westdeutsche wiederum etwas häufiger als junge Ostdeutsche. Außer Acht gelassen werden darf aber nicht, dass etwa jede*r Fünfte in West- und Ostdeutschland zugleich der Forderung nach einem autoritären, antidemokratischen Staat etwas abgewinnen kann. Und darüber hinaus geht die hohe Demokratieunterstützung nicht immer mit Begeisterung für und Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen demokratischen System in Deutschland einher. Viele junge westdeutsche und vor allem junge ostdeutsche Bürger*innen haben nicht das Gefühl, dass das demokratische System gut funktioniert. Wie lässt sich dies erklären? Und warum zeigen sich die jungen Ostdeutschen von den Leistungen der Demokratie häufiger enttäuscht als die gleichaltrigen Westdeutschen? Regressionsanalysen zeigen, dass sich, nicht nur, aber vor allem die wirtschaftliche Lage der Bürger*innen und die ihrer Region auf die Demokratiezufriedenheit auswirkt. Da diese von jungen Ostdeutschen seltener als gut empfunden wird, ist die Unzufriedenheit dort größer.
Wie blicken die jungen West- und Ostdeutschen auf die Gesellschaft? Teilen sie dieselbe Sichtweise oder macht es für den jeweiligen Blickwinkel immer noch einen Unterschied, ob man aus West- oder Ostdeutschland kommt? Zumindest die Frage, welche Eigenschaften ihnen selbst für ihr eigenes Leben wichtig sind und was die jungen Bürger*innen glauben, wie wichtig diese anderen sind, erweist sich primär nicht als Frage von West und Ost. Hier sind Unterschiede zwischen Frauen und Männern deutlich größer. Ebenso zeigt sich bei der Einschätzung, inwiefern die Gleichstellung von Frauen und Männern mittlerweile realisiert ist, dass es in den Einschätzungen zwar West-Ost-Unterschiede gibt, aber sich die Wahrnehmung von Frauen und Männer wesentlich stärker unterscheiden. Zum Teil sind die jungen Bürger*innen in West und Ost sich auch erstaunlich einig, beispielsweise hinsichtlich der Frage, dass die Bekämpfung des Klimawandels eine hohe Priorität verdient. Auch entlang der gegenwärtig stark im Fokus stehenden gesellschaftlichen Konfliktlinie „Weltoffenheit vs. Tradition“ positioniert sich in West und Ost eine klare Mehrheit Richtung „Weltoffenheit“, wenn auch in Westdeutschland etwas deutlicher.

Es geht nicht gerecht zu

Dennoch zeigen sich bei gesellschaftlichen Fragen West-Ost-Unterschiede, insbesondere in Bezug auf soziale Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt. Junge Ostdeutsche glauben seltener an das Leistungsversprechen, dass wer hart arbeitet, auch etwas erreichen kann. Eine Mehrheit in der Nachwendegeneration in West und Ost hält steuerliche Umverteilung für wichtig, um sozialer Spaltung entgegenzuwirken, aber junge Bürger*innen im Osten deutlich häufiger als junge Bürger*innen im Westen. In Anbetracht dessen verwundert es nicht, dass die jungen Ostdeutschen häufiger als die gleichaltrigen Westdeutschen das Gefühl haben, in Deutschland gehe es nicht gerecht zu. Die zentrale Frage ist erneut, wie sich diese bestehenden West-Ost-Differenzen beim Gerechtigkeitsempfinden erklären? Wiederum ergaben Regressionsanalysen, dass die Situation und Lebenswirklichkeit der jungen Bürger*innen als Hauptfaktor auszumachen sind. Wenn die eigene wirtschaftliche Lage, aber vor allem, wenn die wirtschaftliche Lage der Region und die regionalen Jobperspektiven als schlecht eingeschätzt werden, belastet dies das Gerechtigkeitsempfinden. Dass junge Ostdeutsche häufiger als junge Westdeutsche das Gefühl haben, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht, hat also, wie schon bei der Demokratiezufriedenheit, viel mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten zu tun.

Einheit in Unzufriedenheit – politisches Handels ist möglich

Wie steht es nun also um die Einheit in der Nachwendegeneration? Die schlechte Nachricht: Nach wie vor bestehen Unterschiede zwischen jungen West- und Ostdeutschen. West und Ost sind zwar selten bewusste Unterscheidungskategorien, aber unterbewusst spielen sie in vielen Fragen noch eine Rolle und prägen das Bild der jeweils anderen. Die – im Grunde – gute Nachricht: Bei zentralen Einstellungsunterschieden zur gegenwärtigen Gesellschaft, wie Demokratiezufriedenheit und Gerechtigkeitsempfinden, bestehen politische Handlungsmöglichkeiten um dem entgegen zu wirken. Denn die Unterschiede haben viel mit nicht gleichwertigen Lebenslagen und regionalen Perspektiven zu tun. Zudem ist Unzufriedenheit mit Demokratie und Gerechtigkeit kein genuin ostdeutsches Phänomen, sondern findet sich auch in Westdeutschland in Regionen, in denen die wirtschaftliche Lage nicht besonders gut ist. Davon, gute Lebensverhältnisse und Chancen in allen Regionen zu schaffen, in West und Ost, in der Stadt genauso wie auf dem Land, profitieren am Ende junge West- und Ostdeutsche gleichermaßen und ebenso die deutsche Gesellschaft als Ganzes.

Dieser Beitrag ist das Kapitel “Schlussfolgerungen” der im Titel genannten Studie und mit freundlicher Genehmigung der Otto-Brenner-Stiftung. Den vollen Wortlaut, Statistiken und Schaubilder der Studie finden Sie hier. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Gastautor:innen (*):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.