von Franz Kafka
Eine Zeit meines Lebens – es ist nun schon viele Jahre her – hatte ich eine Anstellung bei einer kleinen Bahn im Inneren Russlands. So verlassen wie dort bin ich niemals gewesen. Aus verschiedenen Gründen, die nicht hierher gehören, suchte ich damals einen solchen Ort, je mehr Einsamkeit mir um die Ohren schlug, desto lieber war es mir, und ich will also auch jetzt nicht darüber klagen. Nur Beschäftigung fehlte mir in der ersten Zeit.
Die kleine Bahn war ursprünglich vielleicht aus irgendwelchen wirtschaftlichen Absichten angelegt worden, das Kapital hatte aber nicht ausgereicht, der Bau kam ins Stocken und statt nach Kalda, dem nächsten, von uns fünf Tagreisen mit dem Wagen entfernten größeren Ort, zu führen, machte die Bahn bei einer kleinen Ansiedlung geradezu in einer Einöde halt, von wo noch eine ganze Tagereise nach Kalda nötig war. Nun hätte die Bahn, selbst wenn sie bis Kalda ausgedehnt worden wäre, noch für unabsehbare Zeiten unrentabel bleiben müssen, denn ihr ganzer Plan war verfehlt, das Land brauchte Straßen, aber keine Eisenbahnen, in dem Zustand jedoch, in dem sich die Bahn jetzt befand, konnte sie überhaupt nicht bestehen, die zwei Züge, die täglich verkehrten, führten Lasten mit sich, die ein leichter Wagen hätte transportieren können, und Passagiere waren nur ein paar Feldarbeiter im Sommer. Aber man wollte die Bahn doch nicht gänzlich eingehen lassen, denn man hoffte immer noch dadurch, dass man sie im Betrieb erhielt, für den weiteren Ausbau Kapital anzulocken. Auch diese Hoffnung war meiner Meinung nach nicht so sehr Hoffnung als vielmehr Verzweiflung und Faulheit. Man ließ die Bahn laufen, solange noch Material und Kohle vorhanden waren, man zahlte den paar Arbeitern die Löhne unregelmäßig und verkürzt, als wären es Gnadengeschenke, und wartete im übrigen auf den Zusammenbruch des Ganzen.
Bei dieser Bahn war ich angestellt und bewohnte einen Holzverschlag, der noch seit dem Bau der Bahn dort zurückgeblieben war und gleichzeitig als Stationsgebäude diente. Er hatte nur einen Raum, in dem eine Pritsche für mich aufgestellt war – und ein Pult für mögliche Schreibarbeiten. Über ihm war der telegraphische Apparat angebracht. Als ich im Frühjahr hinkam, passierte der eine Zug die Station sehr früh – später wurde es geändert -, und es geschah manchmal, dass irgendein Passagier zur Station kam, während ich noch schlief. Er blieb dann natürlich – die Nächte waren dort bis in die Mitte des Sommers hinein sehr kühl – nicht im Freien, sondern klopfte an, ich riegelte auf und wir verbrachten dann oft ganze Stunden mit Plaudern. Ich lag auf meiner Pritsche, mein Gast hockte auf dem Boden oder kochte nach meiner Anweisung Tee, den wir dann beide in gutem Einverständnis tranken. Alle diese Dorfleute zeichnet große Verträglichkeit aus. Ich merkte übrigens, dass ich nicht sehr dazu angetan war, vollständige Einsamkeit zu ertragen, wenn ich mir auch sagen musste, dass diese Einsamkeit, die ich mir auferlegt hatte, schon nach kurzer Zeit die vergangenen Sorgen zu zerstreuen begann. Ich habe überhaupt gefunden, dass es eine große Kraftprobe für ein Unglück ist, einen Menschen in der Einsamkeit dauernd zu beherrschen. Die Einsamkeit ist mächtiger als alles und treibt einen wieder den Menschen zu. Natürlich versucht man dann andere, scheinbar weniger schmerzliche, in Wirklichkeit bloß noch unbekannte Wege zu finden.
Ich schloss mich den Leuten dort mehr an, als ich gedacht hatte. Ein regelmäßiger Verkehr war es natürlich nicht. Von den fünf Dörfern, die für mich in Betracht kamen, war jedes einige Stunden sowohl von der Station als auch von den andern Dörfern entfernt. Allzu weit mich von der Station zu entfernen durfte ich nicht wagen, wenn ich nicht meinen Posten verlieren wollte. Und das wollte ich wenigstens in der ersten Zeit durchaus nicht. In die Dörfer selbst konnte ich also nicht gehen und blieb auf die Passagiere angewiesen oder auf die Leute, welche den weiten Weg nicht scheuten, um mir einen Besuch zu machen. Schon im ersten Monat fanden sich solche Leute ein, aber wie freundlich sie auch waren, es war leicht zu erkennen, dass sie nur kamen, um vielleicht ein Geschäft mit mir zu machen, sie verbargen übrigens auch ihre Absicht gar nicht. Sie brachten verschiedene Waren, und ich kaufte zuerst, solange ich Geld hatte, gewöhnlich fast unbesehen alles ein, so willkommen waren mir die Leute, besonders einzelne. Später schränkte ich die Einkäufe allerdings ein, unter anderem auch deshalb, weil ich zu bemerken glaubte, dass meine Art, einzukaufen, ihnen verächtlich erschien. Außerdem bekam ich auch Lebensmittel mit der Bahn, die waren allerdings ganz schlecht und noch viel teurer als das, was die Bauern brachten.
Ursprünglich hatte ich ja beabsichtigt, einen kleinen Gemüsegarten anzulegen, eine Kuh zu kaufen und mich auf diese Weise möglichst unabhängig zu machen. Ich hatte auch Gartengeräte und Aussaat mitgebracht, Boden war überreichlich da, unbebaut dehnte er sich in einer einzigen Fläche um meine Hütte, ohne die geringste Erhöhung, soweit das Augen reichte. Aber ich war zu schwach, um diesen Boden zu bezwingen. Ein widerspenstiger Boden, der bis ins Frühjahr festgeforen war und selbst meiner neuen scharfen Hacke widerstand. Was man an Aussaat in ihn versenkte, war verloren. Ich bekam Verzweiflungsanfälle bei dieser Arbeit. Ich lag tagelang auf meiner Pritsche und kam nicht einmal bei Ankunft der Züge hinaus. Ich steckte dann nur den Kopf aus der Luke, die gerade über der Pritsche angebracht war, und machte die Meldung, dass ich krank sei. Dann kam das Zugpersonal, das aus drei Männern bestand, zu mir herein, um sich zu wärmen, aber sie fanden nicht viel Wärme, denn ich vermied es womöglich, den alten, leicht explodierenden Eisenofen zu benützen. Ich lag lieber in einen alten warmen Mantel eingepackt und mit verschiedenen Fellen zugedeckt, die ich den Bauern nach und nach abgekauft hatte. “Du bist oft krank”, sagten sie mir. “Du bist ein kränklicher Mensch. Du wirst nicht mehr von hier fortkommen.” Sie sagten es nicht etwa, um mich traurig zu machen, sondern sie hatten das Bestreben, wenn es nur möglich war, die Wahrheit rund herauszusagen. Sie taten das meistens unter einem eigentümlichen Glotzen der Augen.
Einmal im Monat, aber immer zu verschiedenen Zeiten, kam ein Inspektor, um mein Vormerkbuch zu überprüfen, das eingenommene Geld mir abzunehmen und – dies aber nicht immer – den Lohn mir auszuzahlen. Seine Ankunft wurde immer einen Tag vorher von den Leuten angezeigt, die ihn in der letzten Station angezeigt, die ihn in der letzten Station abgesetzt hatten. Diese Anzeige hielten sie für die größte Wohltat, die sie mir erweisen konnten, trotzdem ich natürlich jeden Tag alles in Ordnung hatte. Es war auch nicht die geringste Mühe nötig. Aber auch der Inspektor betrat immer die Station mit einer Miene, als müsse er diesmal meine Misswirtschaft unbedingt aufdecken. Die Tür der Hütte öffnete er immer mit einem Kniestoß und sah mich dabei an. Kaum hatte er mein Buch aufgeschlagen, fand er einen Fehler. Er brauchte lange Zeit, ehe ich durch nochmalige Rechnung vor seinen Augen im nachwies, dass nicht ich, sondern er einen Fehler begangen hatte. Immer war mit meiner Einnahme unzufrieden, dann schlug er klatschend auf das Buch und sah mich scharf an. “Wir werden die Bahn einstellen müssen”, sagte er jedesmal. “Es wird dazu kommen”, antwortete ich gewöhnlich.
Nach beendeter Revision änderte sich unser Verhältnis. Ich hatte immer Schnaps und womöglich irgendeine Delikatesse vorbereitet. Wir tranken einander zu, er sang mit einer erträglichen Stimme, aber immer nur zwei Lieder, eines war traurig und begann: “Wohin gehst du, kleines Kind, im Walde?”, das zweite war lustig und fing so an: “Fröhliche Gesellen, ich gehöre zu euch!” – Je nach der Laune, in die ich ihn zu versetzen imstande war, bekam ich meinen Lohn in Teilen ausgezahlt. Aber nur am Anfang solcher Unterhaltungen beobachtete ich ihn mit irgendeiner Absicht, später wurden wir ganz einig, beschimpften schamlos die Verwaltung, ich bekam geheime Versprechungen ins Ohr geflüstert über die Karriere, die er für mich erwirken wollte, und schließlich fielen wir gemeinsam auf die Pritsche nieder in einer Umarmung, die wir oft zehn Stunden nicht lösten. Am nächsten Morgen reiste er wieder als mein Vorgesetzter weg. Ich stand vor dem Zug und salutierte, er drehte sich während des Einsteigens gewöhnlich noch nach mir um und sagte: “Also Freundchen, in einem Monat sehn wir uns wieder. Du weißt, was für dich auf dem Spiel steht.” Ich sehe noch sein mir mit Mühe zugewendetes verquollenes Gesicht, alles drängte in diesem Gesicht vor, die Wangen, die Nase, die Lippen.
Das war die einmalige große Abwechslung im Monat, bei der ich mich gehen ließ; war irrtümlich etwas Schnaps zurückgeblieben, dann soff ich es gleich nach der Abfahrt des Inspektors aus, meistens hörte ich noch das Abfahrtsignal des Zuges, während es schon in mich hineingurgelte. Der Durst nach einer solchen Nacht war fürchterlich; es war, als ob in mir ein zweiter Mensch wäre, der aus meinem Mund seinen Kopf und Hals streckte und nach etwas Trinkbarem schrie. Der Inspektor war versorgt, der führte in seinem Zug immer großen Trinkvorrat mit sich, ich aber war auf die Reste angewiesen.
Dann aber trank ich den ganzen Monat lang nichts, ich rauche auch nicht, ich machte meine Arbeit und wolle nichts anderes. Es war, wie gesagt, nicht viel Arbeit, aber ich machte sie gründlich. Ich hatte zum Beispiel die Verpflichtung, die Geleise einen Kilometer weit rechts und links von der Station täglich zu reinigen und zu untersuchen. Ich hielt mich aber nicht an die Bestimmung und ging oft viel weiter, so weit, dass ich gerade noch die Station sehen konnte. Bei klarem Wetter war das noch bei etwa fünf Kilometer Entfernung möglich, das Land war ja ganz flach. War ich dann so weit, dass die Hütte in der Ferne mir schon vor den Augen fast nur flimmerte, sah ich manchmal infolge der Augentäuschung viele schwarze Punkte sich zur Hütte hin bewegen. Es waren ganze Gesellschaften, ganze Trupps,. Manchmal aber kam wirklich jeamnd, dann lief ich, die Hacke schwingend, die ganze lange Strecke zurück.
Gegen Abend war ich mit meiner Arbeit fertig und zog mich endgültig in die Hütte zurück. Gewöhnlich kam um diese Zeit auch kein Besuch, denn der Rückweg in die Dörfer war bei Nacht nicht ganz sicher. Es trieb sich verschiedenes Gesindel in der Gegend herum, aber es waren nicht Eingeborene, sie wechselten auch, sie kamen allerdings auch wieder zurück. Ich bekam die meisten zu sehen, die einsame Station lockte sie an, sie waren nicht eigentlich gefährlich, aber man musste streng mit ihnen umgehen.
Sie waren die einzigen, die mich um die Zeit der langen Dämmerung störten. Sonst lag ich auf der Pritsche, dachte nicht an die Vergangenheit, dachte nicht an die Bahn, der nächste Zug fuhr erst zwischen zehn und elf Uhr abends durch, kurz, ich dachte an gar nichts. Hie und da las ich eine alte Zeitung, die man mir vom Zug aus zugeworfen hatte, sie enthielt Skandalgeschichten aus Kalda, die mich interessiert hätten, die ich aber aus der einzelnen Nummer allein nicht verstehen konnte. Außerdem stand in der Nummer die Fortsetzung eines Romans, der hieß: “Die Rache des Kommandeurs”. Von diesem Kommandeur, der immer einen Dolch an der Seite trug, bei einer besonderen Gelegenheit hielt er ihn sogar zwischen den Zähnen, träumte ich einmal. Übrigens konnte ich nicht viel lesen, da es bald dunkel wurde und Petroleum oder ein Talglicht unerschwinglich teuer waren. Von der Bahn bekam ich für den Monat nur einen halben Liter Petroleum geliefert, das ich lange vor Ablauf des Monats verbraucht hatte, um bloß abends während einer halben Stunde das Signallicht für den Zug zu erhalten. Aber dieses Licht war auch gar nicht nötig und ich zündete es später wenigstens in Mondnächten gar nicht mehr an. Ich sah ganz richtig voraus, dass ich nach Ablauf des Sommers das Petroleum sehr dringend brauchen würde. Ich grub daher in einer Ecke der Hütte eine Grube aus, stellte dort ein altes ausgepichtes Bierfässchen auf und schüttete jeden Monat das erspARTE Petroleum ein. Das Ganze war mit Stroh zugedeckt und niemand merkte etwas. Je mehr es in der Hütte nach Petroleum stank, desto zufriedener war ich; der Gestank wurde deshalb so groß, weil es ein Fass aus altem brüchigen Holz war, das sich voll Petroleum tränkte. Später grub ich das Fass aus Vorsicht außerhalb der Hütte ein, denn der Inspektor protzte einmal mir gegenüber mit einer Schachtel Wachszündhölzchen und warf sie, als ich sie haben wollte, eines nach dem andern brennend in die Luft. Wir beide und besonders das Petroleum waren in wirklicher Gefahr ich rettete alles, indem ich ihn so lange würgte, bis er alle Zundhölzchen fallen ließ.
In meinen freien Stunden dachte ich öfters darüber nach, wie ich mich für den Winter versorgen könnte. Wenn ich schon jetzt in der warmen Jahreszeit fror – und es war, wie man sagte, wärmer als seit vielen Jahren -, würde es mir im Winter sehr schlecht gehn. Dass ich Petroleum anhäufte, war nur eine Laune, ich hätte vernünftigerweise vielerlei für den Winter sammeln müssen; dass sich die Gesellschaft meiner nicht besonders annehmen würde, darüber war ja kein Zweifel, aber ich war zu leichtsinnig oder, besser gesagt , ich war nicht leichtsinnig, aber es lag mir zuwenig an mir selbst, als dass ich mich in dieser Hinsicht hätte sehr bemühen wollen. Jetzt in der warmen Jahreszeit ging es mir leidlich, ich beließ es dabei und unternahm ncihts weiter.
Eine der Verlockungen, die mich in diese Station gebracht hatten, war die Aussicht auf Jagd gewesen. Man hatte mir gesagt, es sei eine außerordentlich wildreiche Gegend, und ich hatte mir schon ein Gewehr gesichert, das ich mir, wenn ich einiges Geld gespart haben würde, dass von jagdbarem Wild hier keine Spur war, nur Wölfe und Bären sollten hier vorkommen, in den ersten Monaten sah ich keine, und außerdem waren eigentümliche große Ratten hier, die ich gleich beobachten konnte, wie sie in Mengen, wie vom Wind geweht, über die Steppe liefen. Aber das Wild, auf das ich mich gefreut hatte, gab es nicht. Die Leute hatten mich nicht falsch unterrichtet, die wildreiche Gegend bestand, nur war sie drei Tagereisen entfernt – ich hatte nicht bedacht, dass die Ortsangaben in diesen über hunderte Kilometer hin unbewohnten Ländern notwendiger unsicher sein müssen. Jedenfalls brauchte ich vorläufig das Gewehr nicht und konnte das Geld für anderes verwenden, für den Winter musste ich mir allerdings ein Gewehr anschaffen, und ich legte dafür regelmäßig Geld beiseite. Für die Ratten, die manchmal meine Nahrungsmittel angriffen, genügte mein langes Messer.
In der ersten Zeit, als ich noch alles neugierig auffasste, spießte ich einmal eine solche Ratte auf und hielt sie vor mir in Augenhöhe an die Wand. Man sieht kleinere Tiere erst dann genau, wenn man sie vor sich in Augenhöhe hat; wenn man sich zu ihnen zur Erde beugt und sie dort ansieht, bekommt man eine falsche, unvollständige Vorstellung von ihnen. Das Auffallendste an diesen Ratten war die Krallen, groß, ein wenig gehöhlt und am Ende doch zugespitzt, sie waren sehr zum Graben geeignet. Im letzten Krampf, in dem die Ratte vor mir an der Wand hing, spannte sie dann die Krallen scheinbar gegen ihrer lebendige Natur straff aus, sie waren einem Händchen ähnlich, das sich einem entgegenstreckt.
Im allgemeinen belästigten mich diese Tiere wenig, wenn sie im Lauf auf dem harten Boden klappernd an der Hütte vorbeieilten. Setzte ich mich dann aufrecht und zündete etwas ein Wachslichtchen an, so konnte ich irgendwo in einer Lücke unter den Bretterpfosten die von außen hereingesteckten Krallen einer Ratte fieberhaft arbeiten sehn. Es war ganz nutzlose Arbeit, denn um für sich ein genügend großes Loch, hätte sie tagelang arbeiten müssen und sie entfloh doch schon, sobald der Tag nur ein wenig sich aufhellte, trotzdem arbeitete sie wie ein Arbeiter, der sein Ziel kennt. Und sie leistete gute Arbeit, es waren zwar unmerkliche Teilchen, die unter ihrem Graben aufflogen, aber ohne Ergebnis wurde die Kralle wohl niemals angesetzt. Ich sah in der Nacht oft lange zu, bis mich die Regelmäßigkeit und Ruhe dieses Anblicks einschläferte. Dann hatte ich nicht mehr die Kraft, das Wachslichtchen zu löschen, und es leuchtete noch ein Weilchen der Ratte bei ihrer Arbeit.
Einmal in einer warmen Nacht ging ich, als ich wieder diese Krallen arbeiten hörte, vorsichtig, ohne ein Licht anzuzünden, hinaus, um das Tier selbst zu sehn. Es hatte den Kopf mit der spitzen Schnauze tief gesenkt, fast zwischen die Vorderbeine eingeschoben, um nur möglichst eng an das Holz heranzukommen und möglichst tief die Krallen unter das Holz zu schieben. Man hätte glauben können, jemand halte in der Hütte die Krallen fest und wolle das ganze Tier hineinziehn, so sehr war alles angespannt. Und doch war auch alles mit einem Tritt beendet, durch den ich das Tier totschlug. Ich durfte bei völligem Wachsein nicht dulden, dass meine Hütte, die mein einziger Besitz war, angegriffen wurde. Um die Hütte gegen diese Ratten zu sichern, stopfte ich alle Lücken mit Stroh und Werg zu und untersucht jeden Morgen den Boden ringsherum. Ich beabsichtigte auch, den Boden der Hütte, der bisher nur festgestampfte Erde war, mit Brettern zu belegen, was auch für den Winter nützlich sein konnte. Ein Bauer aus dem nächsten Dorf, namens Jekoz, hatte mir längst versprochen, zu diesem Zweck schöne trockene Bretter zu bringen, ich hatte ihn auch schon für dieses Versprechen öfters bewirtet, er blieb auch niemals längere Zeit aus, sondern kam alle vierzehn Tage, hatte auch manchmal Versendungen mit der Bahn auszuführen, aber die Bretter brachte er nicht. Er hatte verschiedene Ausreden dafür, meistens die, dass er selbst zu alt sei, um eine solche Last zu schleppen, und dass sein Sohn, der die Bretter bringen würde gerade mit Feldarbeiten beschäftigt sei. Nun war Jekoz nach seiner Angabe, und es schien auch richtig zu sein, weit über siebzig Jahre alt, aber ein großer, noch sehr starker Mann. Außerdem änderte er auch seine Ausreden und sprach ein anderes Mal von den Schwierigkeiten der Beschaffung so langer Bretter, wie ich sie brauchte. Ich drängte nicht, ich brauchte die Bretter nicht notwendig, erst Jekoz selbst hatte mich überhaupt auf den Gedanken gebracht, den Boden zu belegen, vielleicht war ein solcher Belag gar nicht vorteilhaft, kurz, ich konnte ruhige die Lügen des Alten anhören. Mein ständiger Gruß war: “Die Bretter, Jekoz!” Sofort begannen in einer halb gelallten Sprache die Entschuldigungen, ich hieß Inspektor oder Hauptmann oder auch nur Telegraphist, er versprach mir nicht nur, die Bretter nächstens zu bringen, sondern mit Hilfe seines Sohnes und einiger Nachbarn meine ganze Hütte abzutragen und ein festes Haus statt ihrer aufzubauen. Ich hörte so lange zu, bis es mich müde machte und ich ihn hinausschob. Aber noch in der Tür hob er, um Verzeihung zu erlangen, die angeblich so schwachen Arme, mit denen er in Wirklichkeit einen erwachsenen Mann hätte erdrücken können. Ich wusste, warum er die Breter nicht brachte, der dachte, wenn der Winter näher käme, würde ich die Bretter dringender brauchen und besser bezahlen, außerdem hätte er selbst, solange die Bretter nicht geliefert seien, einen größeren Wert für mich. Nun war er natürlich nicht dumm und wusste, dass ich seine Hintergedanken kannte, aber darin, daß ich diese Kenntnis nicht ausnutzte, sah er seinen Vorteil und den wahrte er.
Alle Vorbereitungen aber, die ich machte, um die Hütte gegen die Tiere zu sichern und mich für den Winter zu verwahren, mussten eingestellt werden, als – das erste Vierteljahr meines Dienstes näherte sich seinem Ende – ernstlich krank wurde. Ich war bis dahin jahrelang von jeder Krankheit, selbst vom leichtesten Unwohlsein verschont geblieben, diesmal wurde ich krank. Es begann mit einem starken Husten. Etwa zwei Stunden landeinwärts von der Station entfernt war ein kleiner Bach, aus dem ich in einem Fass auf einem Schubkarren meinen Wasservorrat zu holen pflegte. Ich badete dort auch öfters, und dieser Husten war die Folge davon. Die Hustenanfälle waren so stark, dass ich mich beim Husten zusammenkrümmen mußte, ich glaubte, dem Husten nicht widerstehen zu können, wenn ich mich nicht zusammenkrümmte und so alle Kräfte zusammennahm. Ich dachte, das Zugspersonal würde über den Husten entsetzt sein, aber sie kannten ihn, sie nannten ihn Wolfshusten. Seitdem begann ich, das Heulen aus dem Husten herauszuhören. Ich saß auf dem Bänkchen vor der Hütte und begrüßte heulend den Zug, heulend begleitete ich seine Abfahrt. In den Nächten kniete ich auf der Pritsche, statt zu liegen, und drückte das Gesicht in die Felle, um mir wenigstens das Anhören des Heulens zu ersparen. Ich wartete gespannt, bis das Springen irgendeines wichtigen Blutgefäßes allem ein Ende machen würde. Es geschah aber nichts Derartiges, und der Husten war sogar in wenigen Tagen vergangen. Es gibt einen Tee, der ihn heilt, und der eine Lokomotivführer versprach mir, ihn zu bringen, erklärte mir aber, dass man ihn erst am achten Tage nach Beginn des Hustens trinken dürfe, sonst helfe er nicht. Am achten Tag brachte er ihn wirklich und ich erinnerte mich, wie außer dem Zugspersonal auch die Passagiere, zwei junge Bauern, in meine Hütte kamen, denn das Anhören des ersten Hustens nach dem Teetrinken soll eine gute Vorbedeutung haben. Ich trank, hustete noch den ersten Schluck den Anwesenden ins Gesicht, fühlte dann aber wirklich gleich eine Erleichterung, wenn auch allerdings der Husten in den letzten zwei Tagen schon schwächer gewesen war. Aber ein Fieber blieb zurück und verlor sich nicht.
Dieses Fieber machte mich sehr müde, ich verlor alle Widerstandskraft, es konnte geschehen, dass mir ganz unerwartet auf der Stirn Schweiß ausbrach, ich zitterte dann am ganzen Leib und musste mich, wo ich auch war, niederlegen und warten, bis sich die Sinne wieder zusammenfanden. Ich merkte sehr genau, dass mir nicht besser, sondern schlechter wurde und dass es für mich sehr notwendig war, nach Kalda zu fahren und dort ein paar Tage zu bleiben, bis sich mein Zustand bessert.
Zur Interpretation dieses Textes s. auch der entsprechende Wikipedia-Eintrag. Die hier dokumentierte Textfassung stammt aus dieser Quelle. Dank an Rolf Sachsse für die Anregung.
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