Das belgische TV- Wunder
Deutschland ist von “TV-Wundern” umgeben. Dänische Serien über Politik und Kriminalität sind dem “Tatort” überlegen, schwedische schon lange. Von den Briten müssen wir gar nicht reden. Frankreich hat eine Filmkultur, um das Deutsche es immer noch beneiden müssen. Österreich ist im Lästern, und Schwarzmalen seiner selbst, überlegen. Die Schweiz hatte Dürrenmatt und von ihm nicht wenig gelernt. Und sogar das gerne übersehene Belgien.
Was mich betrifft, ziehe ich den Hut vor ZDFneo, das in den Jahren seines Bestehens (seit 2009) hier tatsächlich noch eine Tür geöffnet hat. “Code 37” war so ein Fall. Die Ansiedlung in einem Polizeidezernat für Sexualdelikte würde in Deutschland die ewig alten St.Pauli-Klischees wachrufen. Oder eine sozialarbeiterhafte Aneinanderreihung von Depressionen verursachenden Gut- und Böse-Geschichten. Ein Schauspielerin wie Veerle Baetens muss ein grosses Geschenk für Drehbuchautor*inn*en und Produzent*inn*en sein. Ihr Auftritt vor der Kamera wirkt allürenfrei, engagiert, vielseitig – es kann sich nur um harte Arbeit handeln. Und gerade das verleiht ihr Starappeal, nicht im Himmel sondern auf Erden. “Code 37” erfüllte keine meiner Befürchtungen, sondern schaffte es mich in den Sog zu ziehen, und kann selbst Hartgesottene mitfiebern lassen.
“Clan” war ein ähnlicher Fall. Die Plotkonstruktion, fünf Schwestern bringen einen ekelhaften Ehegatten bzw. Schwager um und lassen ihn verschwinden, könnte klamaukhafter nicht sein. Die Umsetzung blieb aber klamaukfrei, war dramaturgisch erstklassig, eine aktuelle belgische Gesellschaftsanalyse, von der sich viele Forscher*innen was abgucken konnten.
Und so ist es aktuell auch bei “Undercover” (heute wieder 21.45 h, und komplett in der Mediathek). Eine Bulle und eine Bullin spielen ein Paar, um sich an einen Drogenmafiaboss heranzuschleichen, der seine Unternehmenszentrale auf einem Campingplatz (!) betreibt. Ich gestehe, ich habe “Die Camper” mit Willi Thomczyk auch in den Wiederholungen auf RTL immer gerne geguckt, aber mehr wegen meiner Ruhrpottnostalgie. Auf dem belgischen Campingplatz geht es dagegen ziemlich ernsthaft zu. Da werden alle aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen verhandelt, und zwar ohne dass mann es merkt, frau dagegen sehr wohl.
Das Rätsel ist eigentlich eher, warum es kein deutschen TV-Wunder gibt, wenn alle andern es können.
Update 16.5.: eine hervorragende Besprechung von “Undercover” hier von D.J. Frederiksson/FR.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net