Interview von Britt Weyde mit dem venezolanischen Soziologen Edgardo Lander

Edgardo Landers Urteil auf der Pressekonferenz in Berlin ist niederschmetternd: „Die tiefe soziale Krise zeigt sich in allen wirtschaftlichen Indikatoren, die heute schlechter als vor Beginn des bolivarischen Prozesses sind. Aktuell beträgt das Bruttosozialprodukt etwa die Hälfte dessen, was es noch vor vier, fünf Jahren betrug. Eine derartige Rezession findet normalerweise in Folge eines schweren Krieges statt. Diese Regierung kann nicht als ‚linke Regierung‘ bezeichnet werden.“ Der renommierte Intellektuelle, der in den Anfangsjahren der Regierung von Hugo Chávez zu dessen Beraterstab gehörte, ist schon seit langem von der „Bolivarischen Revolution“ enttäuscht. „Die Regierung Maduro hat jetzt zwölf Prozent des nationalen Territoriums, das ist die Größe von Cuba, für transnationale Bergbauprojekte freigegeben, und zwar unter Bedingungen, für die sich neoliberale Regierungen schämen würden. Das ist ein verzweifelter Versuch, die Abhängigkeit von den Erdöleinnahmen durch Einkünfte aus dem Bergbau zu ersetzen.“ Britt Weyde nutzte die Gelegenheit für ein Gespräch über die aktuelle Krise und mögliche Auswege.

Die Horrormeldungen aus Venezuela reißen nicht ab, in letzter Zeit ist es sogar aufgrund der Stromausfälle immer schwieriger für die Menschen, an Trinkwasser zu kommen. Doch bis jetzt bleibt die Bevölkerung relativ ruhig. Woran liegt das?

Wer die aktuelle Situation in Venezuela verstehen will, muss zunächst anerkennen, dass ein Teil der Bevölkerung nach wie vor die Regierung unterstützt. Umfragen zufolge sind das allerdings heute nicht mehr als 20 bis 25 Prozent. Und diese Leute haben ihre guten Gründe. Ihre materiellen Lebensumstände hatten sich über mehrere Jahre hinweg tatsächlich verändert, was zum Beispiel die Armutsrate und die Verteilungsgerechtigkeit betrifft. Aber vor allem hatte sich kulturell etwas verändert. Das politische Bewusstsein ist gestiegen, Beteiligungsmöglichkeiten hatten zugenommen, neue Organisationsansätze sind entstanden. Man kann von einer neuen dignidad popular, einer „Würde der einfachen Leute“ sprechen, was sich auch in einer Loyalität gegenüber allem zeigt, wofür der Chavismo stand und steht. Das verschwindet nicht von heute auf morgen. Natürlich spielt auch die klientelistische Politik eine Rolle. Die Regierung knüpft Sozialleistungen an bestimmte Bedingungen. Die Programme zur Versorgung mit Wohnraum oder mit subventionierten Lebensmitteln zum Beispiel werden politisch eingesetzt, um die Unterstützung der Nutznießer*innen zu garantieren. Außerdem weiß man nicht, was im Fall eines Regierungswechsels passieren wird, wenn die Rechte die Regierung übernimmt, ob diese Sozialprogramme aufrechterhalten werden oder nicht. Schließlich hängt das Überleben der Leute davon ab.

Zudem wird die Regierung von den Streitkräften unterstützt. Dies ist keine zivil-militärische Regierung mehr, sondern eine militärisch-zivile. An allen hohen öffentlichen Stellen und in der Partei sitzen Militärs. Die Mitglieder der Streitkräfte sind die wichtigsten Begünstigten der massiven Korruption, die diese Regierung von Anfang an begleitet hat. Die Militärs haben im Fall eines Regierungswechsels sehr viel zu verlieren. Sie haben große Reichtümer anhäufen können, weil sie an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt gewesen sind, zum Beispiel bei der Kontrolle des Wechselkurses oder bei der Zuteilung von Devisen zum Vorzugspreis. Das kann einen Unterschied von 100 zu 1 ausmachen zwischen dem offiziellen Wechselkurs und dem subventionierten für Importgeschäfte.

Hinzu kommen bewaffnete Gruppen, Milizen, die die Regierung unterstützen, die Colectivos. Diese Gruppen werden von niemandem kontrolliert. Das sind bewaffnete Leute, die auf Motorrädern unterwegs sind. Bei einer Kundgebung der Opposition kann es passieren, dass auf einmal 100 Leute auf Motorrädern herangebraust kommen, wie die Hells Angels, allerdings mit Waffen. Sie greifen die Leute an und verbreiten buchstäblich Terror.

Ausweg?

Welchen Ausweg gibt es aus dieser verfahrenen Situation?

Es gibt zwei starke Kräfte, auf der einen Seite Maduro, der den Staat und dessen Ressourcen kontrolliert, die Streitkräfte und das, was von Unterstützung seitens der Bevölkerung übrig ist, eine Minderheit zwar, aber eine bedeutende. Auf der anderen Seite ist Juan Guaidó, der von der Ablehnung Maduros profitiert, und natürlich die Politik des Regime Change von Donald Trump und seinen neokonservativen Verbündeten. Keine der beiden Kräfte ist zumindest in näherer Zukunft dazu imstande, die andere Seite zu besiegen. Keiner von beiden will Verhandlungen, beide zielen auf die Macht ab. Die kriegerische Lösung ist eine reale Gefahr. Guaidó hat wiederholt die USA zu einer bewaffneten Intervention in Venezuela aufgefordert. Er bezieht sich sogar auf den Artikel 187 in der Verfassung, der besagt, dass das Parlament das Recht habe, militärische Missionen einzuladen.

Die Regierung sagt zwar, dass sie verhandeln will, aber zeigt keinerlei Anzeichen, dass sie bereit wäre, in eine Richtung nachzugeben, die einen demokratischen Wechsel ermöglichen könnte. So hat sie zum Beispiel die Freilassung der politischen Gefangenen verweigert oder auch nicht zugelassen, dass ein vertrauenswürdiges neues Wahlgericht benannt wird statt des aktuellen hundertprozentig regierungstreuen Wahlgerichts. Auf der anderen Seite haben Guaidó und seine Leute erklärt, dass es sich um einen Weg mit drei Schritten handelt: Als erstes muss der „Usurpator“, also Maduro, zurücktreten. Dann soll es eine Übergangsregierung geben und schließlich allgemeine Wahlen. Der erste Schritt, der Rücktritt Maduros, kann nur bedeuten, dass er gewaltsam verjagt wird.

Ideen?

Welche konkreten Ideen haben Sie?

Die venezolanische Verfassung wurde im Jahr 1999 von einer großen Mehrheit der Bevölkerung angenommen. Im Jahr 2007 gab es ein Referendum für eine Verfassungsreform. Dabei versuchte Chávez, den Sozialismus in der Verfassung zu verankern. Damit scheiterte er, allerdings knapp. Die Opposition, der es vor allem darum ging, auf gar keinen Fall den Sozialismus in der Verfassung festzuschreiben, setzte sich dafür ein, die Verfassung von 1999 zu verteidigen. Seit diesem Moment ist diese Verfassung nicht mehr die chavistische Verfassung, sondern die Verfassung Venezuelas. Wenn man die putschistischen Reden aus dem Jahr 2002 mit den Reden derselben Leute heute vergleicht, stellt man fest, dass sie damals gegen die Verfassung von 1999 waren, die sie heute verteidigen!

Deswegen stellt die Verfassung für uns einen solchen gemeinsamen Referenzrahmen dar, auch wenn sie nicht perfekt ist: zu staatsfixiert, schenkt dem Präsidenten zu viel Gewicht und andere Probleme. Aber es ist eine demokratische Verfassung, mit weitgehenden Beteiligungsmöglichkeiten, mit verbrieften sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rechten, mit einer expliziten Anerkennung der indigenen Rechte. Viele Punkte darin stehen für wichtige Errungenschaften aus dem Verfassunggebenden Prozess des Jahres 1999.

Die Selbsternennung von Juan Guaidó zum Präsidenten und die Ausrufung einer parallelen Regierung, mit einem Obersten Gerichtshof in Venezuela und einem anderen in Bogotá, einem Staatsanwalt in Venezuela und einer Staatsanwältin in Bogotá, einem Parlament und gleichzeitig einer Verfassunggebenden Versammlung sowie mit zwei Präsidenten – all das zeigt, dass wir eine tiefgreifende Verfassungskrise haben, abgesehen von der politischen und wirtschaftlichen Krise.

In dieser Situation müssen wir einen Weg suchen, der friedlich, demokratisch, mittels Wahlen ist, souverän und ohne Einmischung von außen. In der venezolanischen Verfassung gibt es einen Artikel, der im Fall besonderer Dringlichkeit für das Land festschreibt, dass die Bevölkerung ein beratendes Referendum zur Hilfe zieht, das einen verpflichtenden Charakter haben kann. Auf dieser Grundlage versuchen wir ein nationales Abkommen zu erreichen, um solch ein konsultatives Referendum einzuberufen, damit die venezolanische Bevölkerung über die Erneuerung aller Machtinstanzen entscheidet. Maduro droht ja damit, das Parlament aufzulösen und Parlamentswahlen vorzubereiten. Und die Opposition droht damit, dass es Präsidentschaftswahlen geben wird, das Parlament aber bestehen bleibt. Wir schlagen hingegen eine Neuwahl aller Institutionen vor.

Die Regierung hat im Moment das Problem, dass ihr das Wahlgesetz, das sie selbst manipuliert hatte, um eine absolute Mehrheit zu garantieren, bei Parlamentswahlen schaden würde. Ein Teil der Verhandlungen müsste sich deshalb auf das Wahlgesetz beziehen und feststellen, dass es gegen die Verfassung verstößt und dass man zur strikten proportionalen Repräsentation zurückfinden muss. Nur so kann der Chavismus politisch überleben und die realen Kräfteverhältnisse widerspiegeln. Damit die Maduro-Regierung zum Verhandeln bereit ist, braucht sie eine gewisse Garantie dafür, dass ihr politisches Projekt fortbesteht. Das kann eine Art Amnestie sein oder Verhandlungen im Hinblick auf die Korruption bedeuten oder die Zusage, dass bestimmte Vergehen nicht verfolgt werden.

Vermittlung?

Was ist aus dem Vermittlungsvorschlag von Mexiko und Uruguay geworden?

Die sogenannte internationale Gemeinschaft spielt eine extrem negative Rolle. Die 50 Länder, die Guaidó anerkannt haben, bestärken ihn damit in seinem absoluten Konfrontationskurs. Damit blockieren sie eine mögliche Verhandlungslösung. Als von Uruguay und Mexiko die „Initiative von Montevideo“ aufkam, vereinnahmte die EU diese Initiative für sich. Sie schuf die Kontaktgruppe, die überwiegend europäisch ist. Die meisten europäischen Regierungen erkannten Guaidó an. Von daher ist es problematisch, dass sich die Europäische Union mit der Kontaktgruppe für eine Verhandlung stark macht, wenn die meisten europäischen Länder bereits Guaidó anerkannt haben. Aktuell bleiben eigentlich nur noch der Vatikan und der Generalsekretär der Vereinten Nationen als Akteure, die überhaupt die Rolle eines Mediators übernehmen könnten.

Die Opposition hatte sich erhofft, dass am 27. Februar 2019 mit der angeblichen Hilfsgüterlieferung von US-AID der Niedergang der Regierung starten würde. Zu dem Anlass gab es ein internationales Konzert mit einer Zuschauertribüne, von der beobachtet werden sollte, wie das Regime zu stürzen beginnt. Sie gingen davon aus, dass die Venezolaner*innen mit offenen Armen die Hilfsgüter empfangen und die Streitkräfte sich spalten würden. Nichts davon ist eingetreten. So werden die Beschwörungen von Guaidó, dass jetzt aber wirklich etwas passiert, immer unglaubwürdiger. Die Opposition im Parlament war übrigens total überrascht von Guaidós Selbsternennung im Januar, die Abgeordneten erfuhren davon aus dem Fernsehen. Weil Guaidó zu diesem Zeitpunkt enorm populär war, trauten sie sich nicht, ihre Kritik zu äußern. Da nun aber seit Wochen nichts von dem eintritt, was Guaidó ankündigt, beginnen nun auch einige Oppositionelle, ihre Zweifel zu äußern.

Im Hinblick auf die Regierung ist die Situation ebenfalls untragbar: Man kann keine Regierung haben, die keine Regierungshandlungen vornehmen kann, die nicht die Probleme mit der Strom- oder Wasserversorgung lösen oder das Transportwesen aufrechterhalten kann. Eine Regierung, die solche Probleme nicht lösen kann, wird von Tag zu Tag schwächer und stößt auf immer mehr Ablehnung.

Was sagen Sie dazu, dass Elliot Abrams von Mike Pompeo zum US-Sonderbeauftragten für die „Wiederherstellung der Demokratie in Venezuela“ ernannt wurde?

Elliot Abrams war direkt verantwortlich für die US-Außenpolitik in Zentralamerika unter Ronald Reagan, unter anderem für die Finanzierung der Contra in Nicaragua. Außerdem förderte er autoritäre Regierungen in Zentralamerika und stachelte Bürgerkriege mit an. Das ist ein deutliches Zeichen: Wir gehen in Richtung Regime Change und der Weg dahin wird wie damals in Zentralamerika mit Hilfe eines Bürgerkriegs sein. Es zeigt, wie weit die Trump-Regierung bereit ist zu gehen, um die Regierung von Maduro zu erledigen.

Eindruck von Guaidò?

Sie haben sich vor kurzem mit Guaidó getroffen. Wie war Ihr Eindruck?

Als „Plattform der Bürger und Bürgerinnen zur Verteidigung der Verfassung“ glauben wir, dass die wichtigste Aufgabe darin besteht, einen Krieg und eine ausländische Intervention zu verhindern. Wir sind aber auch davon überzeugt, dass die Regierung von Maduro enden muss, weil sie das Land zerstört, weil sie Hunger und Tod verursacht. Es führt kein Weg daran vorbei, einen Übergangsmechanismus zu finden, der beide Seiten anerkennt und ihre jeweiligen Rechte respektiert. Wir wollen mit beiden Seiten persönlich sprechen, sowohl mit Guaidó als auch mit Maduro. Damit wollen wir verdeutlichen, wie hoch ihre Verantwortung dafür ist, wenn ein Bürgerkrieg ausbricht. So haben wir uns mit Guaidó getroffen, ohne ihn dabei als Präsidenten anzuerkennen. Wir haben ihm unseren Vorschlag unterbreitet: Wir lehnen eine Parallelregierung ab, wir befürchten, dass das Land auf einen Bürgerkrieg zusteuert, wir brauchen ein politisches Abkommen. Und wir haben ihm den Vorschlag für ein konsultatives Referendum erklärt. Gleichzeitig schickten wir ein Schreiben an Maduro, mit denselben Punkten und Vorschlägen.

Wir trafen uns mit Guaidó, der uns höflich und lächelnd empfing, sich Stichpunkte machte, um am Ende seine altbekannten drei Punkte zu wiederholen: Rücktritt des Usurpators, Übergangsregierung, Neuwahlen. Er hat sich also keinen Zentimeter bewegt. Natürlich nutzte er die Tatsache propagandistisch aus, dass sich Teile der Linken mit ihm getroffen hatten.

Mit Maduro machten wir eine andere Erfahrung. Wir schrieben den Brief, gingen drei Tage hintereinander zum Regierungspalast „Miraflores“, um ihn zu übergeben und eine Empfangsbestätigung zu bekommen. Drei Tage lang weigerten sie sich, sie wollten noch nicht einmal das Kommunikationsangebot annehmen!

Viele Leute haben das Gespräch leider so interpretiert, dass wir Guaidó anerkannt hätten. Die großzügigen Leute sprachen von einem politischen Fehler, für die weniger Großzügigen war es schlicht und einfach Verrat! Ich bleibe aber dabei: Wir müssen alles Menschenmögliche unternehmen, um einen Krieg zu verhindern.

Brief der Plattform zur Verteidigung der Verfassung an Maduro (auf Spanisch)

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 425 Mai 2019, hg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Das Interview führte die Autorin am 5. April 2019 in Berlin. Die fettgesetzten Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt. Da solche Positionen in deutschsprachigen Medien kaum berichtet werden, bleibt der Text für Lateinamerika-Unkundige von Interesse. Lesen Sie als Ergänzung zum aktuellen Stand der Dinge Florian Rötzer/telepolis: Venezuela: Gespräche zwischen Opposition und Regierung in Norwegen.

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