von Wolfgang Meier
Trotz polternder Äußerungen ist von Bolsonaro keine grundlegend neue Amazonienpolitik zu erwarten

Bei den meisten Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen schrillten nach der Wahl Jair Bolsonaros zum neuen brasilianischen Präsidenten die Alarmglocken. Im Wahlkampf hatte der Rechtskandidat mehrfach behauptet, die in Amazonien lebenden Indigenen hätten zu viel Land, das der wirtschaftlichen Entwicklung aller Brasilianer*innen zugute kommen sollte. Viele befürchteten Angriffe auf die Indigenen und neue gigantische Großprojekte, die die Entwaldung Amazoniens beschleunigen würden. Mitunter entstand dabei der Eindruck, als ob in Brasilien bisher eine nachhaltige Politik betrieben worden wäre, die nun durch Bolsonaro akut bedroht sei. In Wahrheit war die Amazonienpolitik der Zivilregierungen der letzten Jahrzehnte alles andere als nachhaltig, so dass von der neuen Regierung eher eine Fortsetzung der bisherigen Politik zu erwarten ist, was schlimm genug wäre.

Die Amazonienpolitik Brasiliens ist seit den Zeiten der Militärregierungen (1964 - 1985) von zwei Grundideen geprägt: erstens der Geopolitik mit Brasilien als Zentrum und Ausstrahlungen nach Westen (Pazifik) und Norden (Karibik), wobei notwendigerweise der Raum dazwischen (Amazonien) ausgefüllt werden muss, und zweitens der Entwicklung Amazoniens nach dem Motto der Militärs: „ein Volk ohne Raum für einen Raum ohne Volk“, soll heißen, die Umsiedlung von Menschen aus dem Nordosten in den „leeren“ Urwald und so auch die Behauptung der nationalen Souveränität über diesen Raum. Neben der traditionellen Achse „Rio Amazonas“ wurden folgende Entwicklungsachsen mit entsprechenden Infrastrukturprojekten (vor allem Straßen) geplant: Achse Brasilia-Belém (als erste fertig) -Amapá-Guyana (kaum realisiert) -Cuiabá-Santarém (Hafen) (immer noch nicht ganz fertig), dann über Òbidos (Brücke, Hafen) hinaus nach Norden, Achse Ciuabá-Rondônia (fertig) -Manaus-Roraima-Venezuela (wenig realisiert), Achse Transamazônica südlich des Amazonas (größtenteils realisiert) -Rondônia (nichts) weiter bis Peru und Pazifik (realisiert), Achse Perimetral Norte als nördliches Gegenstück zur Transamazônica bis Manaus (nur teilweise in Amapá realisiert).
„Entwicklung“ hieß im Jargon der Militärs und ihrer Technokraten neben der Ansiedlung von Leuten vor allem die Erschließung von Land für weitere Ansiedlungen sowie für die Nutzung von Energiequellen (Wasserkraft, Erdöl, Erdgas) und der reichlich vorhandenen Bodenschätze. Zum ersten Mal wurde Amazonien gründlicher erforscht, einschließlich der systematischen Prospektion der Bodenschätze.
Die Indigenenpolitik der Militärs war sehr paternalistisch ausgerichtet. Wo Indigene störten, wurden sie umgesiedelt, ansonsten wurden Reservate in „leeren“ Gebieten (die durchaus groß sein konnten) eingerichtet, verwaltet von der Indigenenbehörde FUNAI.

Kolonisierung angeblich unbewohnter Gebiete

Diese Entwicklung war natürlich verbunden mit großen Entwaldungsraten, nicht nur für den Großgrundbesitz (oft mehr als 3000 Hektar), sondern auch durch die Ansiedlung von Kleinbauern auf Parzellen von 100 Hektar durch die Behörde INCRA (Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária), die aber weniger eine Agrarreform im Sinne von Landumverteilung, sondern vor allem Kolonisierung angeblich nicht bewohnter Gebiete durchführte.
Nach dem Ende der Militärdiktatur haben die zivilen Regierungen im Grunde genommen deren Amazonaspolitik, auch was die Entwaldung angeht, fortgesetzt. Die Entwaldungsraten waren oft vor allem von der Witterung abhängig. Bezüglich der politischen Rahmenbedingungen waren sie vor Wahlen immer höher, vor allem, wenn man hoffte, eine nächste Regierung würde dem Holzeinschlag und der Entwaldung weniger Restriktionen auferlegen (wie jetzt gerade wieder vor der Wahl Bolsonaros).

Reduzierung der Entwaldungsraten unter Lula – unter Rousseff ausgebremst

Lediglich auf Druck von außen (im Rahmen des Amazonien-Programms PPG7) gab es zeitweilig Bemühungen, die Entwaldungsraten zu senken, was zumindest in den Jahren der Regierungszeit von Lula (2003-2010) einigermaßen gelang. Diese systematischen Anstrengungen wurden aber bereits in der Regierungszeit von Dilma Rousseff wieder geringer, die entsprechenden Behörden wie IBAMA, ICMBio usw. erhielten immer weniger Mittel. Dies dürfte unter Bolsonaro und seinem neuen Umweltminister so bleiben, wobei sie vor allem das Argument anführen, die Mittel würden bisher meist ineffizient eingesetzt und weniger wäre oft mehr.
Im Grunde genommen wird bei Amazonien immer nur über Entwaldung geredet, kaum aber über alternative Boden- und Landnutzung. Auch die „Agrarreform“ ist in ihrer bisher praktizierten Form ein großer Verursacher von Entwaldung, weil die Bauern zu traditioneller Landwirtschaft angehalten werden (und auch nur das im Sinn haben). Aber nur wer ein (langfristiges) Interesse am Bestand des Urwaldes hat, wird ihn auch schützen und bewirtschaften. Für große Produzenten und Firmen gibt es schon ansatzweise Waldnutzungskonzessionen (Zehntausende von Hektar auf Bundes- und Landesebene), was auch von einem Projekt der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) unterstützt wird. Für Kleinbauern und Kooperativen allerdings gibt es solche Optionen bisher nicht. Die neue Landwirtschaftsministerin hat überraschenderweise etwas in dieser Richtung angekündigt – ob das dann aus dem Stadium der Ideen hinausgeht, wird sich zeigen. Ihr Chef allerdings denkt eher in den traditionellen Schienen der Militärs (siehe oben).
In der Indigenenbehörde FUNAI gab es schon in den letzten Administrationen einen starken evangelikalen Einfluss (inkl. der Chefs; jetzt steht aber ein General an der Spitze der Behörde) in Richtung Missionierung, Einbeziehung der Reservate in die nationale Produktion usw. Die FUNAI untersteht in der Regierung Bolsonaro nicht mehr dem Justizministerium, sondern dem Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte.
Ein Hauptproblem der brasilianischen Indigenenpolitik war bisher, dass sie nicht nur paternalistisch ist, sondern auch zu wenig differenziert. Eine Indigenengemeinschaft, die neben einer Sojaplantage wohnt und eventuell, wie in einem Fall, selbst auch maschinell Mais und Soja anbaut, braucht eine andere Politik als eine tief im Urwald weit verstreut lebende Gruppe.

Bolsonaro handzahm und populistisch

Unter den PT-Regierungen gab es auch Beispiele von Anthropologen, die traditionelle Caboclo-Bevölkerungen (nichtindigene Menschen, die in und von den Wäldern leben) zu „Indios“ umwidmeten. Manche Dörfer haben das bereitwillig mitgemacht in der Hoffnung auf mehr Land, monatliche Nahrungsmittelzuteilungen, bessere medizinische Versorgung und andere Privilegien. Dies wird unter der neuen Regierung sicher unterbunden und eventuell auch rückgängig gemacht werden. Schließlich redet Bolsonaro immer davon, dass die „Indios” viel zu viel Land hätten. Inwieweit das direkte Auswirkungen auf die Demarkationen haben wird, ist zumindest fraglich, denn die größten Reservate liegen in Gebieten, die weit abgelegen und für Unternehmen nicht attraktiv sind – außer es finden sich Bodenschätze oder andere interessante Aspekte. Unterschwellig wird die alte Militärdoktrin der „Entwicklung“ Amazoniens sicher weiter in den Köpfen vorhanden sein. Bei Treffen mit Vertreter*innen von Indigenen gibt sich Bolsonaro mittlerweile handzahm, verständnisvoll und populistisch („Ihr bestimmt über euer Land; die FUNAI muss euch folgen” usw.) – ganz anders als noch vor ein paar Monaten im Wahlkampf. Daneben schimpft er aber immer auch auf die „internationalen NRO“, die einen schädlichen Einfluss hätten und die Indigenen betrügen würden.

Energie-Grossprojekte

Auch im Bereich Energie war es so, dass die alte Entwicklungspolitik der Militärs von den späteren Zivilregierungen fortgeführt wurde. Alle neu errichteten Wasserkraftwerke in Amazonien standen schon auf der To-do-Liste der Militärregierungen. Viele davon wurden aus den verschiedensten Gründen bisher nicht verwirklicht, vor allem auch wegen fehlenden Geldes oder dem Widerstand von Umweltschützer*innen. Das Großkraftwerk Belo Monte ist zum Beispiel nur das letzte einer Kaskade von geplanten sechs Staudämmen, die den Rio Xingú aus einem wilden, unstetigen Fluss in einen gezähmten mit regulierter Wassermenge verwandelt hätten – nur dann wäre Belo Monte technisch und wirtschaftlich sinnvoll gewesen (andere Aspekte wie die ökologischen und sozialen Auswirkungen oder die Interessen von Baukonzernen und den von ihnen finanzierten Politiker*innen werden hier außen vor gelassen).
Am Rio Trombetas sollte ein großes Kraftwerk Strom für die Verarbeitung von Bauxit zu Aluminia (ein weißes Pulver, das ein notwendiges Zwischenprodukt bei der Herstellung von Aluminium ist) erzeugen sowie den überschüssigen Strom nach Manaus liefern, da das dortige Kraftwerk Balboa für die Versorgung der wachsenden Stadt bei weitem nicht ausreicht. Da das Trombetas-Kraftwerk nie gebaut wurde, wird das Bauxit immer noch mit dem Schiff über Hunderte von Kilometern nach Barcarena bei Belém gebracht. Dort wird der Strom eines anderen Riesen genutzt: das Kraftwerk von Tucurui. Dieses muss nun auch Strom für den „Linhão Norte“ liefern – eine Stromtrasse, die die Gegend nördlich des Rio Amazonas („Calha Norte“) sowie Manaus mit ständigem Strom versorgt, gewissermaßen als Nachfolger der „Integrationsachse“ Perimetral Norte.
Gleich nach dem Amtsantritt von Bolsonaro wurden die alten Pläne wieder hervorgeholt, vor allem im Hinblick auf eine Angliederung der Calha Norte. Dazu gehören eine Brücke und ein Hafen an der engsten Stelle des Rio Amazonas bei Óbidos, das oben erwähnte Kraftwerksprojekt von Trombetas und einige Straßen. Es gab auch entsprechende Artikel, die den Coup propagandistisch vorbereiten sollten (siehe Impacto, 15.2.2019). Eine Ministerreise war schon geplant, aber kurz vor der Durchführung wurden die Akteure von Bolsonaro selbst zurückgepfiffen. Solche hochtrabenden Pläne passen offenbar nicht in die aktuelle Selbstdarstellung oder es gab einfach die Befürchtung, dass die angestrebte Haushaltskonsolidierung durch Mammutausgaben ohne mittelfristigen wirtschaftlichen Nutzen kaum zu realisieren wäre.

Bolsonaro-Administration ist unvorbereitet

Wie die Regierung Trump in den USA, ist auch die Bolsonaro-Administration in weiten Teilen nicht auf ihre Aufgaben vorbereitet und hat keine konkreteren Pläne (mit Ausnahme einiger Vorhaben in den Bereichen Wirtschaft/Finanzen und Sicherheit wie die geplante Rentenreform sowie größere Befugnisse von Polizei und Militär). Es ist deshalb schwierig, schon jetzt einzuschätzen, wie die Regierung Bolsonaro in den wichtigen Amazonien-Fragen agieren wird. Es wird sicher immer ein Spannungsfeld geben zwischen den neoliberalen Vorstellungen von Wirtschaftsminister Paulo Guedes und der Grundeinstellung der Militärs inklusive Bolsonaro, die ein Entwicklungsmodell verfolgen, in dem der Staat eine wichtige Rolle spielt. Dies spiegelt sich unter anderem wider in einer der jüngsten Äußerungen von Guedes, die darauf zielt, die Steuern allgemein und vor allem eine bestimmte Umsatzsteuer zu senken bzw. abzuschaffen. Das wäre aber der Tod der Zona Franca (Freihandels- und vor allem Industriezone) von Manaus, deren Existenz darauf basiert, dass dort die Steuern viel niedriger sind als im übrigen Brasilien. Bolsonaros Parteigänger*innen aus Manaus laufen natürlich Sturm gegen so ein Vorhaben, das der Stadt relativen Wohlstand garantiert, die Bevölkerung im städtischen Ballungsraum konzentriert und damit andere Aktivitäten im flächenmäßig größten brasilianischen Bundesland Amazonas (viermal so groß wie Deutschland bei nur vier Millionen Einwohner*innen, davon die Hälfte in der Hauptstadt Manaus) einschließlich der Entwaldung in Grenzen hält.

Bolsonaro-Regierung ist empfänglich für internationalen wirtschaftlichen Druck

Wegen fehlender Strategien in der Amazonienpolitik der neuen Regierung könnte es eher auf eine Laissez-faire-Politik oder gar eine wilde Expansion einiger Aktivitäten hinauslaufen, die aber begrenzt werden durch sich mittlerweile durchsetzende Normen in den Bereichen Umwelt und Soziales, auf die die Abnehmer*innen der Produkte zumindest aus Europa drängen. Dass die Bolsonaro-Regierung durchaus empfänglich ist für (wirtschaftlichen) Druck von außen, zeigt das Beispiel der geplanten Verlegung der brasilianischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Nach diversen Winken mit dem Zaunpfahl und der Drohung der arabischen Importeure, die Produkte Brasiliens (Rindfleisch, Hähnchen) nicht mehr zu kaufen, machte Bolsonaro einen Rückzieher und richtet in Jerusalem nur mehr ein Generalkonsulat ein. Die EU könnte also bei einem konsequenten Vorgehen bei den laufenden Verhandlungen über ein Handelsabkommen EU-Mercosur durchaus etwas erreichen, wenn sie es denn wollte.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 425 Mai 2019, hg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
Lesen Sie zu den Gründen der Wahlniederlage der Linken in Brasilien auch “Wie geschmiert” Von Decio Machado und Raúl Zibechi/Junge Welt. Dieser Link könnte in Kürze hinter einer Paywall verschwinden.

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