Warum ist das nicht Thema der Europawahl?
Die Bundesregierung und die anderen Regierungen Europas haben uns aufgrund der terroristischen Anschläge eine immer flächendeckendere Videoüberwachung des öffentlichen Raums verordnet. Obwohl jede Menge von tätlichen Angriffen, Beleidigungen und Sachbeschädigungen seit Jahrzehnten im Bereich von öffentlichen Verkehrsmitteln stattfinden und nicht verhindert werden, suchen die Innenminister das Heil in immer mehr Überwachung. Gesichtserkennung ist das Ziel.

Das funktioniert heute noch  nicht, sofern es um bewegliche Menschenmassen in öffentlichen Raum geht. Gleichzeitig wird aber die Erkennung von menschlichen Gesichtern in optisch stabilisierten Bereichen – z.B. vor dem Mitarbeiter im Amt oder auf dem Fahrersitz des Autos, am Bankschalter oder vor dem Geldautomaten immer besser. Oder bei der Analyse von Bewerbungsunterlagen – Fotos und Internetinhalten. Dass der potenzielle Arbeitgeber das Video vom Saufgelage des künftigen Azubis auf Facebook findet, war vorgestern. Denn für umfangreiche Persönlichkeitsanalysen rüstet die IT-Branche auf. Demnächst soll “künstliche Intelligenz” im Sinn selbstlernender Systeme eingesetzt werden. Denn biometrische KI-Systeme können immer differenzierter Menschen analysieren. Sie sehen, wer bestimmte chronische Krankheiten wie Alzheimer im Anfangsstadium hat, indem sie den Laufrythmus eines Menschen anhand der mittels GPS- georteten Bewegungskurve des Handys in der Tasche auswerten. Sie sehen an Gesichtsmerkmalen, ob jemand Cortison nehmen muss oder AlkoholikerIn ist.

Was das bedeutet, werden wir zu spüren bekommen. Zum Beispiel bei der Beantragung eines Kredits oder der Bewerbung um einen Arbeitsplatz. Aber auch vor Miete einer Wohnung und Kauf eines Fahrzeuges oder einer Immobilie.Bei einem Skype-Videotelefonat könnten solche Daten aufgezeichnet und ausgeleitet werden. Der Quellcode von Skype ist unbekannt. Wissen wir, ob sich der Konzern an die Datenschutzgesetze hält? Welche gelten überhaupt? Und wer schätzt uns vor dieser Entwicklung? Viele andere Bereiche, in denen wir schon innerhalb der nächsten fünf Jahre mit künstlicher Intelligenz zu tun haben werden, sind bereits grundsätzlich gesichert. Durch die Europäische Datenschutz-Grundverordnung – DSGVO. Am 25.5. 2018 in Kraft getreten und eins der wichtigsten Instrumente zum Schutz der BürgerInnenrechte.

Sie, die mit plattem Blödsinn wie “der Metzger darf die Kunden nicht mehr mit Namen ansprechen” oder “Kinder in der Kita dürfen nicht mehr fotografieren” diffamiert wurde, schützt 500 Millionen BürgerInnen der EU davor, dass mit ihren biometrischen Daten – Artikel 9 DSGVO – Schindluder getrieben wird. Ein großartiger Erfolg einer einmaligen politischen Konstellation der konservativen Kommissarin Viviane Reding, die sie einbrachte, des Grünen Jan Philipp Albrecht, der sie als Berichterstatter durchs Parlament brachte und Edward Snowden, dessen Enthüllungen genau zum richtigen Zeitpunkt kamen, als hunderte Lobbyisten, darunter allein um die 50 von Google, versuchten, das Europäische Parlament von der Harmlosigkeit der internationalen Datenenteignung aller Bürger durch US-Unternehmen zu überzeugen.

Was für ein Thema also hätten allen voran Grüne, aber auch die FDP, Sozialdemokraten vielleicht sogar bürgerrechtlich denkende CDUler, schließlich war der Bonner Axel Voss an der DSGVO beteiligt, wenn auch eher auf der sanften Verwässerungsseite – schwamm drüber – , um endlich mal aufzuzeigen, welche wichtige Rolle die EU für jeden Einzelnen und seine Rechte spielt.  Aber ich habe noch kein entsprechendes Plakat, irgendeine Zeile des Erfolges und der überaus dringenden Notwendigkeit, diesen Kampf fortzusetzen, erspäht. Es wäre überfällig,  jetzt endlich über KI und ihre Folgen, was wir wollen und was nicht – mehr oder weniger Überwachung – zu diskutieren, solange es noch geht.

Stattdessen wurden selbst von den Grünen Plattitüden und Parolen geklebt. Europa – die beste Idee Europas oder so ähnlich – wenn das große Zähneklappern am Wahlabend könnte ich mich zurücklehnen und behaupten, ich hätte es ja vorhergesagt. Ich werde es nicht tun, denn Häme ist nicht angebracht. Nur Trauer über so viel Mangel daran, die Errungenschaften und Vorteile Europas zu erklären und nach vorne zu stellen. Die Hoffnung stirbt zuletzt oder op Kölsch: Et hätt noh emmer jot jejange!

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net