von Kathrin Zeiske
Vom Alltag an der Mauer zwischen Ciudad Juárez und El Paso
Zwischen Mexiko und den USA liegt die militarisierteste Grenze der Welt. Doch in Zwillingsstädten wie Ciudad Juárez und El Paso verschwimmt die Trennlinie angesichts einer gemeinsamen Grenzkultur und Wirtschaftsleben im Borderland. Haben die Grenzen von weit weg etwas Furchteinflössendes, sind sie für die, die nahe dran leben, eher eine alltägliche Angelegenheit, mit der es sich zu arrangieren gilt. Während Anwohner*innen Schule, Familienleben, Arbeit, Einkäufe, Musikkonzerte und Geburten diesseits und jenseits der Grenze regeln, wie es eben gerade passt, scheitern Neuankömmlinge oft an den immer weiter ausgebauten Grenzanlagen. Doch die Grenzstädte haben auch eine lange erfolgreiche Tradition im Schmuggeln von Menschen und Waren.
Schule
4.45 Uhr. Estebán ist auf dem Weg zur Schule. Sie liegt fünf Kilometer entfernt in einer anderen Stadt und einem anderen Land. “Trink deinen Kakao aus”, sagt sein Vater im heimischen Ciudad Juárez mit Blick auf sein Handy. Auf der Webseite der Tageszeitung der mexikanischen Grenzstadt werden die aktuellen Wartezeiten auf den Grenzbrücken angezeigt. Und diese füllen sich langsam. Um diese Uhrzeit mit den unzähligen Schulkindern, die in der texanischen Nachbarstadt El Paso zur Schule gehen. Fließend Englisch zu sprechen ermöglicht ihnen, in den USA zu studieren oder zu arbeiten. Und jenseits der Grenze ist der Englischunterricht wirklich schlecht. So sprechen in Ciudad Juárez einzig und allein die binationalen Schulgänger*innen fließend und akzentfrei Englisch. Und in El Paso leben unzählige Menschen, die in Ciudad Juárez aufgewachsen sind und auch nach einem Umzug in der US-amerikanischen Grenzstadt den Rest ihres Lebens niemals ein Wort Englisch reden werden. 83 Prozent seiner Bevölkerung sind schließlich mexikanischen Ursprungs.
Produkte
Miguel ist US-amerikanischer Staatsbürger. Er wurde in El Paso geboren, seine Mutter war vier Tage mit ihm dort im Krankenhaus. Dann sind sie in sein Elternhaus in Ciudad Juárez zurückgekehrt, dass er seitdem nicht mehr verlassen hat. Mexikanische Papiere hat er nie beantragt. Er hat sich nur einmal einen gefälschten mexikanischen Führerschein machen lassen. Der hilft, wenn er sich mal ausweisen muss. Miguel lebt vom An- und Verkauf von Schallplatten. Diese findet er auf den unzähligen Flohmärkten in der mexikanischen Grenzstadt. Dort finden sich alle Gebrauchtwaren, die im Konsumtempel USA schon wieder von neuen Produkten überholt sind. Je nach Straßenzug werden Waschmaschinen, Kinderwagen, Kleidung, Sofalandschaften oder abgelaufene Lebensmittel feilgeboten. Neue Produkte für die USA werden direkt daneben in einem der riesigen Industrieparks von Ciudad Juárez gefertigt. In einer von dreihundert Montagefabriken internationaler Unternehmen von Lear bis Bosch. Die maquilas haben die Grenzstadt Juárez buchstäblich groß gemacht. Tausende Zugezogene aus anderen Bundesstaaten haben die Einwohnerzahl in den letzten Jahren exponentiell auf 1.3 Millionen anwachsen lassen. Nach Westen und Süden hin ziehen sich neue Wohnviertel endlos in die Wüste hinein, deren Bewohner*innen für einen Hungerlohn und ohne Arbeitsrechte in den Schichten der Weltmarktfabriken arbeiten. Wer dazu keine Lust mehr hat, aber mittlerweile ein Besuchsvisum für die USA, der kreuzt täglich die Grenze, um unter der Hand Häuser in El Paso zu putzen. Aufpassen muss man nur auf der Brücke, manchmal kontrolliert die Border Patrol Handys nach Nachrichten potentieller Arbeitgeber. Neben den Menschenschlangen stehen auf den Brücken Las Americas und Zaragoza die Trailer, um fertige maquila-Produkte termingerecht zurück in die USA zu bringen. In der Logik eines binationalen Industriestandorts werden die Uhren in Ciudad Juárez nicht zur gleichen Zeit wie im übrigen Mexiko umgestellt, sondern erst, wenn Texas auf Sommer- oder Winterzeit umstellt.
Schüsse
Der Segundo Barrio in El Paso ist das alte mexikanische Wanderarbeiterviertel. Diese wurden in den 1920er Jahren tatsächlich bei der Grenzüberquerung in einer erniedrigenden Prozedur mit Zyklon B “desinfiziert”. Deutsche Hygienezeitschriften berichteten davon und inspirierten später in der Planung und Durchführung des Holocausts. Im Segundo Barrio verarbeitete aber zunächst Mariano Azuela in “Los de Abajo” seine Einblicke als Arzt im Revolutionsheer Pancho Villas in das marginalisierte Leben der mexikanischen Mehrheitsbevölkerung. Ein paar Häuser entfernt von der alten Backsteinkirche Sagrado Corazón zeigt ihn ein Wandbild. Er steht neben der Virgen de Guadalupe, der Schutzheiligen von Mexiko, die mit einer Taschenlampe mojados, undokumentierten Migranten, den Weg durch den Río Bravo leuchtet, um sie als Mutter Gottes mit Handtüchern zu empfangen. Das Wandgemälde zeigt verschiedene Persönlichkeiten der Stadtgeschichte. Ein Gesicht soll bis zum Schluss frei gelassen worden sein. Erst zum Schluss wurde Pancho Villa eingefügt, um die Sponsoren nicht zu verärgern. Er plante von El Paso aus die entscheidenden Revolutionsschlachten in und um Juárez. Diese verfolgten die Bewohner*innen der texanischen Grenzstadt mit Ferngläsern von den Dächern der ersten Hochhäuser im Zentrum aus. Vor einem Jahrzehnt stiegen sie erneut auf die Dächer, um die Schusswechsel zwischen Juarezkartell und Bundespolizei, Armee und Sinaloakartell zu verfolgen.
Einbürgerung
Cintia und ihr Mann sind Geschäftsleute. In den zahlreichen Shopping Malls von Ciudad Juárez betreiben sie Herrenbekleidungsgeschäfte und Kinderhüpfburgen. In den Zeiten der Gewalt, als Militär und Bundespolizei die Stadt besetzten, schossen die Erpressungen und Entführungen von Familien mit mittelständischen Unternehmen in die Höhe. Die Familie zog wie Tausende andere auf die andere Seite und machte eine der ärmsten Städte der Vereinigten Staaten zu einer florierenden Grenzstadt. Einmal in den USA lebend, beantragten sie die Einbürgerung. Das einzige Hindernis für Cintia, die alle erforderlichen Papiere vorweisen konnte: ihre fehlenden Englischkenntnisse. Doch die sympathische Geschäftsfrau dachte sich, kein Problem, das Wichtigste ist doch Selbstbewusstsein. Und so sagte sie strahlend und mit dem Brustton der Überzeugung “Yes!”, als sie gefragt wurde, ob sie jemals ein Attentat auf US-amerikanische Regierungseinrichtungen geplant hätte oder zu planen gedenke. “Ma´am, are you sure? I will repeat the question”, erwiderte der Beamte konsterniert. Cinita liess sich nicht aus der Fassung bringen und wiederholte freundlich und bestimmt lächelnd: “Yes!” Ihr wurde erklärt, sie solle wiederkommen, wenn sie ihr Englisch verbessert hätte. Heute lebt sie wieder in Juárez.
Zwei Tourist*innen
Alle haben sie den Anschluss verpasst, die in einer eisigen Januarnacht nach Ciudad Juárez wollten. Ein Profiwrestler, ein Graffitikünstler und zwei Tourist*innen aus Brasilien. Touristen? Die Grenzbewohner schmunzeln. In Ciudad Juárez gibt es keine Tourist*innen mehr seit den Zeiten der Gewalt! Schließlich vertrauen sich Vater und Tochter aus einer nordbrasilianischen Provinz ihnen an. Sie wollen in die USA, ohne Papiere, haben Verwandte in Boston. Für Mexiko haben sie ein Besuchsvisum. Die Tochter spricht gebrochen Spanisch, der Vater erklärt sich mit Händen und Füßen. Er ist Maurer, sie fast 18 und kann Karate. Die Grenzbewohner nehmen sie mit in ein preiswertes Hotel, am Morgen fahren alle gemeinsam zum Flughafen und nehmen den Flug nach Juárez. Die brasilianischen Reisenden haben den Namen einer heruntergekommenen Pension im Zentrum notiert. Dort erwartet sie schon ein portugiesischsprechender Mann mit Halbglatze und Jogginghose. Der Abschied fällt schwer. Die Grenzbewohner möchten ihnen nicht alles erzählen. Wie viele Migranten hier entführt werden, in klandestinen Häusern gefangen gehalten. Wie viele junge Frauen und Mädchen in die Zwangsprostitution gekidnappt werden. Fünf Tage später erreicht sie jedoch die erleichternde Nachricht per Messenger: die brasilianische Kleinfamilie ist sicher in Boston angekommen.
Punk I
Während in Ciudad Juárez viele Mainstream-Musikgruppen Konzerte geben, die mexikanischen Rock, Ska, Pop oder Polka spielen, reisen in El Paso Bands an, die Punk, Psychobilly und Hardcore im Programm haben. Wer also musikalisch einer dieser Subkulturen angehört, der muss am Wochenende auf die andere Seite der Grenze ziehen. Rein geografisch ist es ein Leichtes vom Zentrum von Ciudad Juárez ins Zentrum von El Paso über die Brücke Santa Fe zu laufen. Wenn da nicht die Auto- und Menschenschlangen wären und die Kontrollen der Border Patrol, an denen niemand vorbei kommt. Im Inneren der Anlagen der US-amerikanischen Migrationspolizei teilen sich die Schlangen auf: wer ein Studierendenvisum hat, ein Besuchsvisum, wer mit Pass aus nicht mexikanischen Ländern einreist. Am kürzesten ist zu jeder Uhr- und Jahreszeit die Schlange der Fahrradfahrer. Deshalb bietet es sich an, den Grenzübertritt auf zwei Rädern anzugehen. Noch schneller durchgewunken wird man am Schalter für US-amerikanische Staatsbürger. Wer auf ein gutes Punkkonzert will, kein Visum hat und sich wirklich was traut, der geht zu diesem Schalter, nuschelt dem Beamten American Citizen zu, muss im Zweifelsfall noch einen Krankenhausnamen parat halten, wo man angeblich zur Welt gekommen ist, und baam!, der Abend kann losgehen im mosh pit einer erlesenen Band.
Hybrid
Wer an der Grenze lebt, kann sich aussuchen, wer er oder sie sein möchte. Eine hybride Grenzbevölkerung macht das möglich. Zwar ist es nicht immer leicht, Papiere zu bekommen, um auf der anderen Seite zu leben, aber unzählige Familien, die an der Grenze leben, haben sie. Generell ist es einfacher, je besser situiert die Familie ist, denn mit Kreditkarte, Grundbesitz, eigenem Geschäft, fester Anstellung werden Visa sehr viel leichter erteilt. Gerade Frauen aus der Mittelschicht, die ein Visum für die USA besitzen, aber auch wissen, dass dies manchmal nicht so leicht zu haben ist, ziehen es vor in El Paso zu gebären. So schenken sie ihren Kindern die Staatsbürgerschaft und diese werden niemals in ihrem Leben Probleme haben, an der Grenze frei ihren Wohn- oder Arbeitsort zu wählen. Wer nun aus mexikanischer Familie auf die andere Seite zieht, kann tief in die US-amerikanische Kultur eintauchen und nur noch Englisch mit seinen Kindern reden. Pochos werden diese Grenzgänger*innen verächtlich von den in Juárez Zurückgebliebenen genannt. Wer hingegen in den USA aufgewachsen ist, aber die mexikanischen Traditionen seiner Familie hegt und pflegt und das Bewusstsein Mexikaner*in zu sein auch mit politischen oder sozialen Kämpfen in der neuen Heimat verbindet, der oder die nennt sich selbst chican@. Dann gibt es an der Grenze noch die pachucos, eine “alte” Subkultur mexikanischer Einwanderer in den USA. Pachuco kommt von al chuco, dem familiären Begriff für “nach drüben”, da wo man am Wochenende auf Verwandtenbesuch geht oder unter der Woche Einkäufe macht. Die pachucos kämpften in den 1940er Jahren gegen Rassismus und Diskriminierung in den USA und personell vor allem gegen xenophobe US Marines. Heutige Anhänger imitieren den Stil ihrer Vorgänger: hochsitzende weite Anzughosen, Krawatte und einen Hut mit langer Feder. Im Zentrum von Ciudad Juárez tanzen sie sonntags Mambo in der Fussgängerzone. Last but not least, gibt es dann noch die cholos, die harten Jungs und Mädels, oft voll tättowiert, mit weiten Hosen und einem gefalteten Halstuch im Haar, die diesseits und jenseits der Grenze ihr barrio verteidigen.
Wappen
Das US-amerikanische Konsulat von Ciudad Juárez ist das größte, das es auf der Welt gibt. Ein Betonklotz mit Kameras, Eisentoren und Absperrungen auf der davorliegenden Straße. Wer ein Touristen- oder Arbeitsvisum braucht, der muss sich auf stundenlanges warten im Innenhof gefasst machen. Mucksmäuschenstill und ohne das Handy zu benutzen, so die Sicherheitsvorschriften. Genauso still muss erneut an der Grenze in der Schlange sitzen, wer mit diesen Visa weiter als El Paso reisen möchte. Es gibt 15 Schalter, doch höchstens zwei Beamte sitzen dort. Wenn die Schlange der wartenden kurz ist, dann nehmen sie nur sporadisch jemanden dran. Oft gehen sie weg und lassen alle Schalter unbesetzt. Dann kommt irgendwann ein neuer Beamter und macht sich gemächlich an seinem Arbeitsplatz bereit. Next!, ruft er gefühlte Stunden später. Auf Wartezeiten von ein bis zwei Stunden muss man sich einrichten. Doch an einem langen Wochenende oder vor Feiertagen sind die Wartezeiten manchmal auch vier oder fünf Stunden lang. “Mein Flug, mein Flug”, stöhnt dann leise jemand neben einem. “Malditos gringos”, verdammte Amis, tönt es vom Ende der Schlange. Alles im Flüsterton unter den wartenden, die verzweifelt versuchen Geduld aufzubringen. Am Schalter wird rigoros und scheinbar willkürlich abgewiesen, wer diese oder jene Unterlage nicht dabei hat. Wer es dann einmal geschafft hat und endlich auf der anderen Seite auf die langersehnte Toilette gehen kann, muss feststellen, dass es dort, aus Sicherheitsgründen oder wegen einem rassistischen Menschenbild, keine Türen gibt. Einmal liess ein gewichtiger Narco das Wappen des US-amerikanischen Konsulats in Ciudad Juárez klauen. Um es den malditos gringos mal richtig zu zeigen. Eine tröstende Erinnerung, für alle, die entnervt auf ihr Visum warten.
Neon
Das Restaurant “Burritos Tony” gegenüber dem Borunda-Park reklamiert für sich die burritos (Eselchen) erfunden zu haben. Ein solches ziert auch die Außenfenster des Restaurants. Seine Wände hängen voller historischer Schwarzweissfotos von Ciudad Juárez, die ja tatsächlich erst seit 1848 Grenzstadt ist. Als nämlich der alte Durchgangsort Paso del Norte auf dem Camino Real der spanischen Konquistadoren in zwei Städte in zwei Ländern geteilt wurde. Mexiko verlor seine nördlichen Bundesstaaten an den Kriegsgegner USA, die diese zu ihren Südstaaten machte. Der Fluss, der der Ansiedlung Paso del Norte Wasser geschenkt hatte, hiess nun von Norden her gesehen Río Grande und von Süden gesehen Río Bravo. Seit die USA den Staudamm El Elefante gebaut haben, bildet er zwischen Ciudad Juárez und El Paso ein spärliches Rinnsal in einem Betonkanal. Mit der Neuziehung der Grenze begann bald auch die mexikanische Arbeitsmigration in die ehemalige Heimat. Mit dem Ausbau des Militärstützpunktes Fort Bliss in El Paso wurde die mexikanische Zwillingsstadt zum Ausgehort. Das Nachtleben boomte und erst recht als die Alkoholprohibition in den Vereinigten Staaten durchkam. Ab den 1920er Jahren verwandelte sich Ciudad Juárez mit Kabaretts, Spielsalons, Tanzcafes und Bars in ein Las Vegas seiner Epoche. In der Kentucky Bar auf der Juárezallee direkt hinter der Grenzbrücke Santa Fe wurde der Margarita erfunden. Al Capone und Marylin Monroe besuchten die Ausgehmeile. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und des Naziregimes wurde auch einer der hoffiertesten US-Kriegsgefangenen in Juárez gesehen. Wernher von Braun, der mit Zwangsarbeitern die V2-Rakete konstruiert hatte, zahlte hier mit Hundertdollarnoten, mit denen die US Army die Weiterführung seiner Raketenforschung entlohnte. Ihm folgten Abertausende US Soldiers, die in Ciudad Juárez ein letztes Mal Drogen und Prostituierte suchten, bevor sie zu einem Kriegsschauplatz des Kalten Krieges ausflogen. Sehr viel später übernahm das Juárezkartell die lang etablierten Strukturen des Drogenhandels. Bis im Jahr 2008 die Regierung Felipe Calderón den sogenannten “Drogenkrieg” ausrief und mit Bundespolizei und Militär dem von ihr protegierten Sinaloakartell zum Einzug in die Stadt verhalf. Während Ciudad Juárez in Blut versank, zogen Opfer und Täter der Auseinandersetzungen sich in die sicherste Stadt der USA zurück: El Paso.
Rucksäcke
Die Bowie High School ist eine dieser Bildungseinrichtungen, die direkt hinter der Grenze liegt. Auf der mexikanischen Seite liegt ihr der Chamizal-Park gegenüber, eine Halbinsel, die durch eine Verschiebung des Verlaufes des Grenzflusses entstanden war und jahrzehntelang von Mexiko beanstandet wurde. Auch neben der Bowie liegt ein Park. Ein idealer Ort für klandestine Grenzgänger, um aus einem Abwasserkanal zu klettern. Schüler und Schülerinnen verdienten sich ein Taschengeld, indem sie Migrant*innen mit einem Rucksack erwarteten, so dass diese in der Menge der Jugendlichen untergingen und sich nach Schulschluss unerkannt von der Grenze weg bewegen konnten. Heute versperren Eisenstreben den Ausgang. Auch im juarensischen Anapra, dem Schleuserviertel schlechthin im äußersten Westen der Stadt, das direkt am Grenzzaun liegt, sind es vor allem Jugendliche, die undokumentierte Grenzübergänge professionell begleiten. Entweder um als halcón, als Falke, die Schichtwechsel der Border Patrol ausspähen, als liebre, Hase, Haken zu schlagen, um die migra abzulenken oder als coyote eine Gruppe Migranten sicher bis an den Highway des Sunland Industrieparks zu bringen. Der Vorteil ihrer Jugend: sie sind nicht straffähig und werden im Zweifelsfall von den USA am gleichen Tag nach Ciudad Juárez zurückgeschoben. Der Vorteil für sie: sie verdienen mehr als die meisten Erwachsenen im Viertel, die in den maquilas schuften, bis sie irgendwann vor durch Akkordarbeit bedingte körperliche Gebrechen in einen Ruhestand ohne Rente gehen müssen. Doch in Anapra ist man gut organisiert. So gut, dass um die Jahrtausendwende sogar Zugüberfälle auf die US-amerikanische Seite ausgeführt wurden. Bis das FBI durch den Zaun brach, eine brutale Razzia durchführte und jugendliche und erwachsene Verdächtige in die USA verschleppte. Eine Beamtin verlor dabei ihr Auge.
Punk II
Es waren einmal zwei heute bekannte mexikanischstämmige UFC-Kämpfer, damals noch junge Punks und aufstrebende Kampfkunstschulenbetreiber, die wollten ins angesagte Chicago, wo die Punkszene zu jener Zeit bebte. Gut, wenn mensch Bekannte in Ciudad Juárez hat, die die Grenze kennen und zur Not wissen, wie man da rüber kommt. Ein Bruder eines Freundes, gut informiert über alle möglichen illegalen Geschäfte, bringt sie in ein klandestines Haus, wo sie warten, bis die Border Patrol Schichtwechsel hat und sie durch das bewachsene Flussbett des Río Bravo im Westen der Stadt waten. Der Vater der Familie hat sich seinerseits bereit erklärt, sie auf der anderen Seite am Highway abzuholen. Leider kommt er zu spät. Die migra hat sie ausgespäht und sie werden nach Mexiko zurückgeschoben. Jahre später, als sie im Free Fight der USA zu großen Nummern werden und einen langfristigen Aufenthaltsstatus beantragen, wird ihnen der misslungene Grenzgang von damals vorgehalten. Bis vor kurzem haben dort, wo sie damals über die Grenze gegangen sind, noch jeden Tag Dutzende von Familien aus Mittelamerika die letzten Lücken in der Mauer genutzt, um in die USA zu gelangen und sich dort sofort der Border Patrol auszuliefern, um Asyl zu beantragen. Seit einer Woche stehen nun auch auf mexikanischer Seite Soldaten und verhindern den Eintritt ins Gelobte Land.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 437 Juli/Aug. 2019, hg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika (ila) in Bonn.
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