Paradox: die Kriminalität sinkt, und die Angst vor ihr steigt. Das läuft super für die Herrschenden und den polizeilich-militärisch-geheimdienstlich-industriellen Komplex. In der meistens journalistisch vorbildhaften DLF-Reihe “Hintergrund” (werktags 18.40 h) ging gestern Benjamin Dierks diesem Paradox nach. Er forschte in erster Linie im Bereich der Fachleute für Sicherheit und förderte dort auch viel Erhellendes zutage.
Es gibt einige Megatrends die dabei mitgesehen werden müssen. Die Demografie: die Alten werden mehr, die Jungen weniger. Die Alten haben, schon körperlich bedingt, mehr Angst, während die Jungen, weit “mutiger”, alle Statistiken der “Delinquenz” anführen. Statistisch begründbar ist die meiste Angst jedoch dort, wo sie am wenigstens empfunden wird: zuhause. Die Gefahr ermordet oder körperverletzt zu werden, ist hier am grössten, weil die Täter meistens enge Angehörige oder Nahestehende sind. Sogar die Unfallgefahr ist zuhause grösser als draussen. Dennoch fühlen sich alte Fussgänger*innen mehr von Fahrrädern, E-Scootern und Taschendieben gefährdet.
Ein anderer Megatrend für wachsende Unsicherheit ist das Selbstbild, der Verkauf der eigenen Persönlichkeit in Öffentlichkeit, Arbeitswelt und sozialem Umfeld, der Druck zur Selbstoptimierung. Dieser Druck hat sich verstärkt, durch den im neoliberalen Stadium des (Digital-)Kapitalismus verstärkten Zerfall kollektiver Solidaritätsstrukturen. Familie, Kirchen, Gewerkschaften hielten das System noch zusammen, als es mit dem “realen Sozialismus” konkurrieren musste. Das hat sich seit 1990 erledigt und implodiert in unserer Gegenwart. Wir können live dabei zusehen.
Diese Betrachtung wurde ebenfalls gestern in einem DLF-Feature gestützt, nämlich mit dieser Betrachtung über das Abenteuer von jungen Frauen, die solo am Nachtleben teilzunehmen versuchen. Tapfer, mutig, bewundernswert. Und für die Herrschaft unterhaltsam. Autorin: Natalie Putsche.
Nervosität und Angst bei denen da oben, egal ob in Despotien oder Demokratien, entsteht erst, wenn Menschengruppen gemeinsame Interessen identifizieren, sich solidarisch organisieren und sozial und politisch zu handeln beginnen.
Fahrräder werden an vielen Stellen in Bonn von Autofahrer*inne*n gefürchtet, die Armen, so allein in ihrer Blechkiste. Die wissen noch nicht einmal, dass sie hinter ihren verspiegelten oder getönten Scheiben niemand winken und gestikulieren sieht, sondern nur das zähnefletschende Maul ihres Kühlergrills – und den Blinker, wenn er ausnahmsweise mal benutzt würde.
Gemeinsam ausgehende Frauengruppen werden von der unsicherer werdenden alten Männlichkeit gefürchtet, von der jüngeren respektiert (zumindest, wenn die Damen eine Überzahl hinkriegen).
Und vor den freitäglichen Kindermassen fürchten sich “da oben” mittlerweile fast alle, und forschen und tüfteln an Strategien, wie sie ihrer Herr werden können. Allein sie dabei zu sehen, wie sie sich intellektuell dabei anstrengen müssen, und dass es für sie nicht ganz billig wird, oben zu bleiben, ist, von 1990 bis heute betrachtet, doch schon wieder ein grosser politischer Fortschritt.
Noch ein PS: immer sehr lachen muss ich, wenn heute Schulhofraufereien in den Lokalmedien gemeldet werden. Die gabs bei uns im Ruhrgebiet in den 60ern ohne Übertreibung täglich – bewaffnet und unbewaffnet. Dafür hätte kein*e Redaktions-Volontär*in ein Telefon in die Hand genommen. Erst 2000 wurde die elterliche Prügelstrafe in Deutschland verboten. Da denken die meisten Eltern von heute: was ich nicht darf, soll auch niemand anderes dürfen. Ein durchaus bedeutsamer Fortschritt.
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