Von Günter Bannas
Der 9. November 1989 war ein Donnerstag – Sitzungstag auch des Deutschen Bundestags in Bonn. Ziemlich lange Beratungen zu eher langweiligen Themen. Parlamentarischer Alltag eben – zu Zeiten, als es keine Mobiltelefone, keine SMS-Kurzmitteilungen, geschweige denn Smartphones gab. Der Entwurf eines Vereinsförderungsgesetzes stand an, so ab 19 Uhr, als nur noch die Spezialisten unter den Abgeordneten zugegen waren. Jürgen Rüttgers, seit zwei Jahren im Bundestag, war gerade Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion geworden und hatte seine Pflicht zu erfüllen. Aufpassen, dass die Redner anwesend sind etwa. Irgendwann nach 19 Uhr eilt ein Fraktionskollege zu ihm. Die Mauer in Berlin sei geöffnet worden. Rüttgers soll es nicht geglaubt haben. Ob der Kollege Wunsch und Wirklichkeit verwechsele. Dessen Antwort: Meine Frau hat es aus dem Fernsehen. Immerhin hatten die Geschäftsführer im Bundestag ein Festnetztelefon im Pult. Anruf in der Pressestelle der Fraktion. Bestätigung dessen, was geschah.
Zu den Besonderheiten des Abends gehörte es, dass Helmut Kohl, der Bundeskanzler, in Warschau, und der Chef des Kanzleramts, Rudolf Seiters (CDU), nicht im Saale waren. Anruf also im Bundeskanzleramt, Herrn Seiters zu sprechen. Wer denn Rüttgers sei, beschied ihn die Spätschichtbedienstete. Rüttgers sagte, wer er war. Herr Seiters befände sich in einer wichtigen Besprechung, sollte er abgewimmelt werden. Sie werde ihres Lebens nicht mehr froh, wenn sie Herrn Seiters nicht aus der Sitzung hole. Seiters wurde geholt und auf den Stand der Dinge gebracht. Er müsse ins Parlament kommen und eine Regierungserklärung abgeben. Im Bundestag war die Debatte über das Vereinsförderungsgesetz beendet. Es war 20.22 Uhr. Annemarie Renger, SPD-Bundestagsvizepräsidentin, sagte, sie unterbreche die Sitzung bis 20.40 Uhr. Um 20.46 Uhr erhielt Seiters das Wort. „Ich habe gerade mit dem Bundeskanzler telefoniert. Lassen Sie mich folgendes sagen. Die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen und von Ausreisen aus der DDR ist ein Schritt von überragender Bedeutung.“ Und: „Mauer und Grenze in Deutschland werden damit durchlässiger.“ Reden der Fraktionschefs folgten. Das Protokoll hielt fest: „Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne.“ Weitere Tagesordnungspunkte wurden abgesetzt. „Die Sitzung ist geschlossen“, sagte Renger. Laut Protokoll war es 21.10 Uhr.
Günter Bannas ist Kolumnist des HAUPTSTADTBRIEFS. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “DER HAUPTSTADTBRIEF AM SONNTAG in der Berliner Morgenpost”, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
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