Die SPD erneuert sich mit altem Eisen

Noch haben die SPD-Mitglieder nicht entschieden, wer die nächste Parteispitze bilden soll. Ein Ergebnis der Suche steht jedoch schon fest: Die Mitgliederbefragung sollte die Mitglieder mobilisieren, die Partei erneuern und sie gegenüber ihren Konkurrenten nach vorne bringen. Alle drei Ziele wurden bisher verfehlt. Die SPD muss sich darauf einstellen, dass sich ihr Niedergang auch unter der neuen Führungsspitze fortsetzen wird.

Zur Klientelpartei geschrumpft

Seit Jahrzehnten ist die Partei aus dem Lot. Nicht die Mitglieder haben ihr geschadet. Heruntergewirtschaftet wurde sie von ihren Funktionären und ihrem Parteiapparat, den die Mitglieder über Beiträge mitfinanzieren. Die hauptamtlichen Sozialdemokraten haben sich schon vor Zeiten vom Rest der Mitglieder gelöst und führen ein krudes Eigenleben.

Dieser Befund ist leicht zu belegen. Beispielsweise diskutieren die SPD-Funktionäre seit Jahren den Bruch der Großen Koalition. Dabei will die Mehrheit der SPD-Mitglieder deren Bestand. Die Schuld am Niedergang der Partei schieben viele SPD-Funktionäre der CDU-Koalitionspartnerin Merkel zu. Sie wollen die Kanzlerin loswerden. Dagegen wünschen fast drei Viertel der SPD-Mitglieder, dass Merkel bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleiben soll.

Es sind nicht die einfachen Mitglieder, die das verheerende Bild der SPD prägen, sondern ihre Funktionäre. Sie sind in ein rechtes und ein linkes Lager gespalten. Beide Seiten bekämpfen sich seit Jahrzehnten. Sie haben zerstört, was eine Volkspartei ausmacht: die Bereitschaft, in den eigenen Reihen Kompromisse zu schließen und Konsens zu suchen. Längst geht es den Funktionären nur noch darum, Flügelinteressen durchzusetzen. Die vielen Machtkämpfe in der Parteielite haben die SPD zur Klientelpartei schrumpfen lassen.

Demokratieverdruss genährt

Viele SPD-Funktionäre scheinen ihre Aufgabe darin zu sehen, die Führung der Partei zu schwächen. Alle SPD-Chefs nach Ollenhauer blieben vorzeitig auf der Strecke. Die Amtszeiten der SPD-Führungsspitzen wurden immer kürzer. Allein in den beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts brauchte und verbrauchte die SPD 14 Vorsitzende. Die letzte regulär gewählte Parteichefin Nahles hielt sich gerade einmal eineinhalb Jahre im Amt.

Die starke Fluktuation an der Parteispitze zerstört das Vertrauen der Wähler. Beschädigt wird es auch, weil die SPD ihre einmal beschlossene Politik schnell wieder infrage stellt. Ein Teil der Funktionäre unterstützt Schröders Agendapolitik. Ein anderer Teil lehnt sie ab. Ein Teil will sie optimieren, ein anderer ihre Defizite beheben, ein weiterer sie abschaffen. Die SPD ist nicht nur personell, sondern auch inhaltlich labil. Dieser Zustand wirkt auf Wähler nicht gerade anziehend.

Die Funktionärsriege weiß nicht, was sie will. Ihr Umgang mit dem Wählervotum und der Regierungsverantwortung ist seit der Bundestagswahl 2017 skandalös und kindisch. Vor der Wahl kämpfte sie um das Kanzleramt. Am Wahlabend weigerte sie sich zu regieren. Wenige Wochen später änderten die Funktionäre ihre Haltung erneut und kehrten zur Großen Koalition zurück. Kaum war das Bündnis besiegelt, verteufelten sie es wieder. Dennoch halten sie an ihm fest. Dieser Wankelmut nährt nicht nur den Verdruss an der SPD, sondern auch an der Demokratie. Das Beste, was man über die SPD sagen kann: Sie ist konfus. Dass sie noch Wähler findet, gleicht einem Wunder.

Von der Schwäche der SPD profitiert

Großen Anteil an ihrem desaströsen Erscheinungsbild hat ihre Nachwuchstruppe, die Jungsozialisten (Jusos), die sich dem linken Lager zurechnen. Ihre politische Erfahrung ist naturgemäß begrenzt, ihre Bereitschaft, sie in die Tat umzusetzen, dagegen riesengroß. Das linke SPD-Lager, das über viele Jahre zurückstecken musste, nutzt den Tatendrang der Parteijugend nun als Speerspitze gegen das rechte Lager.

Die Jungsozialisten streben den Bruch der Koalition und den Marsch in die Opposition an. Ihr Sanierungskonzept für die SPD: Sie wollen die Partei gesundschrumpfen. Sie meinen, die SPD müsse ganz klein werden, ehe sie wieder wachsen könne. Sie hoffen, auf diesem Weg ließen sich ihre innerparteilichen Gegner entmutigen und entmachten, wie ihnen dies bei den Ex-Vorsitzenden Gabriel und Nahles gelang.

Die Schwäche der Partei kommt vielen SPD-Linken durchaus gelegen. In vielen Regionen, etwa in Baden-Württemberg und Bayern, haben sie mit ihren Positionen keine Chance, Wahlkreise direkt zu gewinnen. Die Wähler folgen ihnen kaum. Viele Linke erhalten ihre Mandate über die Reservelisten. Sie werden parteiintern besetzt. Je weniger Wahlkreise eine Partei gewinnt, desto mehr Mandate fallen ihr über die Reservelisten zu. Zugespitzt gesagt: Viele linke SPD-Abgeordnete sitzen dank der Reserveliste in den Parlamenten, weil die SPD schwach ist.

Personell und inhaltlich ausgetrocknet

Da es die Funktionäre nicht mehr schaffen, ihre Differenzen untereinander zu überwinden, nehmen sie Zuflucht zu den Mitgliedern, die sonst nur recht ohnmächtig dem Treiben der Funktionäre zuschauen müssen. Nun sollen die Mitglieder die nächste Parteispitze bestimmen. Die Funktionärselite suggeriert ihnen, sie wären in der Lage, den permanenten Streit in der Partei zu entscheiden und zu beenden.

Diesen Zweck kann die Mitgliederbefragung nicht erfüllen. Nach der ersten Runde blieben mit Scholz und Geywitz ein rechtes und mit Walter-Borjans und Esken ein linkes Pärchen für die Endausscheidung über den SPD-Vorsitz übrig, beide mit der annähernd gleichen Stimmenzahl. Die Befragung hebt die Gegensätze in der Funktionärsschicht also nicht auf, sondern zementiert sie.

Schlimmer noch: Der ersten Abstimmungsrunde blieb fast die Hälfte der Mitglieder fern. Ob es Urlaub, Krankheit, Altersschwäche, Gleichgültigkeit, Protest oder die unattraktiven Kandidaten waren, die so viele Mitglieder abhielten, abzustimmen, ist kaum zu klären. So oder so ist die schwache Beteiligung für die SPD niederschmetternd. Die Befragung, die der Partei Auftrieb bei den Wählern geben sollte, erreicht eher das Gegenteil. Sie führt den Wählern die Defizite der Partei vor Augen. Die SPD erscheint personell und inhaltlich ausgetrocknet.

Auf Sozialpolitik verengt

Diese Defizite fallen gerade in diesen Tagen besonders stark auf. Während die Grünen sich inhaltlich darauf vorbereiten, Regierungsverantwortung zu übernehmen und ihr erfolgreiches und vergleichsweise junges Führungspaar mit glänzenden Ergebnissen im Amt bestätigten, will sich die SPD mit altem Eisen erneuern. Nur einer der vier Kandidaten, die sich zutrauen, die SPD zu führen, hat nationales Gewicht: Finanzminister Scholz. Der 61jährige zählt zum rechten Lager. Er gilt als fähiger Administrator. Obwohl er seit Langem in der SPD mitmischt, trat er mit wegweisenden Impulsen bisher nicht hervor. Auch scheint seine dröge Art kaum geeignet, Begeisterung auszulösen. Immerhin aber kennt er die SPD. Auch hat er Wahlerfolge vorzuweisen. Er war so schlau, sich mit Clara Geywitz aus Ostdeutschland zu verbinden. Sie ist sein Angebot an die Wähler in den neuen Ländern, die sich notorisch benachteiligt fühlen.

Das zweite Gespann, das es in die Schlussrunde der Chefsuche schaffte, ist weniger bekannt. Walter-Borjans und Esken profitieren davon, dass sich die auf die Bundespolitik fixierten Medien nicht so sehr um Landespolitik kümmern. Beide werden wie Newcomer behandelt, denen die Erneuerung der SPD zuzutrauen wäre. Dabei verkörpern sie doch nur die westdeutsche SPD-Linke aus dem 20. Jahrhundert. Esken (Baden-Württemberg) und Walter-Borjans (NRW) stehen für die alte Umverteilungs-SPD, die als Anwalt der kleinen Leute wahrgenommen werden wollte.

Beide Politiker verstärken die ohnehin schon starke Neigung der SPD, sich auf die Sozialpolitik zu verengen. Mit dieser Ausrichtung ließen sich in den 80er Jahren an Stahl- und Zechenstandorten Lokal- und Landtagswahlen gewinnen. Heute sind mit der Retro-Politik á la Esken und Walter-Borjans wohl kaum große Wahlsiege zu erringen. Bei der Sozialpolitik konkurriert die SPD mit der Linken, den Grünen und der AfD. Sie alle können ohne Probleme jeden Umverteilungsvorstoß der SPD als unzureichend diskreditieren und leicht überbieten.

Nie ein Mandat besessen

Dass Esken und Walter-Borjans keiner Bäume ausreißen können, zeigen ihre politischen Lebensläufe. Esken kandidierte dreimal für den Bundestag. 2009 scheiterte sie, 2013 und 2017 rückte sie über die Reserveliste ins Parlament. Ihr politisches Angebot und ihre Ausstrahlung reichten über mehr als zwölf Jahre nicht aus, um die Mehrheit der Wähler in ihrem Wahlkreis zu überzeugen und ihn direkt zu gewinnen.

Ihr Parteiumfeld passt zu ihrer schwachen Wirkung auf die Wähler. Der SPD-Verband Baden-Württemberg erzielte 2017 das schlechteste Bundestagswahlresultat seiner Geschichte. Es lag vier Prozentpunkte unter dem miserablen Ergebnis der Bundespartei. Dass die baden-württembergische SPD als Vorbild für die Erneuerung der Bundespartei taugt, ist unwahrscheinlich. Was Esken zur Hoffnungsträgerin und Heilsbringerin macht, erschließt sich nicht.

Mit dem gleichen Problem hat auch Walter-Borjans zu kämpfen. Er ist ein kongenialer Co-Pilot für Esken. Ob Ortsverein, Unterbezirk, Bezirk, Landes- oder Bundesverband der SPD: Walter-Borjans hatte noch nie in seinem Leben eine SPD-Funktion inne. Ob Stadtrat, Landtag oder Bundestag: Er kämpfte noch nie um ein Wahlmandat. Er besaß nie eines. Seine Kandidatur belegt, wie schlecht es um die SPD bestellt ist.

Das Wort gebrochen

Bisher diente die Partei eher ihm, als er der Partei. Jeder Kundige in NRW weiß: Seine Karriere im Landesdienst basierte auf dem Parteibuch und der Protektion einflussreicher Genossen. Seine Bilanz als Finanzminister ist mager. Mehrfach verstieß er gegen die NRW-Verfassung. Landesbediensteten verweigerte er 2013 und 2014 verfassungswidrig die Tariferhöhung. Er brach seine Zusage, die Grunderwerbsteuer nicht zu erhöhen. Sein Kölner Parteifreund Börschel trat wegen dieses Wortbruchs als Finanzsprecher der SPD-Landtagsfraktion zurück. Walter-Borjans dachte nicht an Rücktritt. Er blieb im Amt.

Bis heute feiert er sich als Jäger der Steuerbetrüger. Dabei hat er die Praxis, gestohlene Schweizer Steuerdaten aufkaufen zu lassen, nicht einmal erfunden, sondern von seinem CDU-Vorgänger Linssen übernommen. Im Unterschied zu ihm nutzte er das Diebesgut, um sich medial in Szene zu setzen. Die Steuerbetrüger dingfest zu machen und die hinterzogenen Steuern einzutreiben, das erledigten die Justiz- und Finanzbehörden.

Er trat weniger als Politiker denn als Propagandist in eigenen Sache auf. Komplizierten Problemen ging er aus dem Weg. Als es darum ging, den Länderfinanzausgleich zu reformieren, trat er die Führung der SPD-geführten Länder an den damaligen Hamburger Bürgermeister Scholz ab, gegen den er heute um den Parteivorsitz konkurriert.

Orthographische Fehler korrigiert

Walter-Borjans hat sich darum bemüht, sich bekannt zu machen. Der Profit für die Partei blieb jedoch aus. Seine Amtszeit endete vorläufig mit der Landtagswahl 2017, bei der die NRW-SPD trotz seiner zahllosen PR-Auftritte 7,9 Prozentpunkte einbüßte. Die Wähler schickten die SPD in die Opposition und ihn in Pension. Von seiner Bedeutung überzeugt, hoffte er, die SPD würde ihn nach Berlin rufen. Doch der Ruf blieb aus.

Nun, mit 67 Jahren, will er SPD-Chef werden und die Partei modernisieren und sanieren. Als seine Absicht bekannt wurde, für den Vorsitz der SPD zu kandidieren, glaubten zunächst viele, die ihn aus NRW kennen, an einen Scherz. Im Düsseldorfer Finanzministerium ist er als der Minister im Gedächtnis geblieben, der die Vorlagen der Beamten des Ministeriums wie Klassenarbeiten redigierte.

Sollten Walter-Borjans und Esken an die SPD-Spitze rücken, können sich die Beschäftigten des Parteiapparats auf einiges gefasst machen. Esken klingt so, als wolle sie die SPD Hand in Hand mit Juso-Chef Kühnert umgehend mit der Partei Die Linke fusionieren. Auch wären die Mitarbeiter in der Berliner SPD-Zentrale gut beraten, ihren Schreibstil zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern, damit sie bei Walter-Borjans nicht gleich übel aufkippen.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von post-von-horn.de, mit freundlicher Genehmigung des Autors. Er war 1989-2003 NRW-Landeskorrespondent in Düsseldorf, bis 2008 politischer Reporter der WAZ.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.