von Sarah Moldenhauer
Zur aktuellen Lage in Chile

Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis es in Chile knallt. Zwar ist es heute das reichste Land Lateinamerikas mit einem vergleichsweise hohen Lebensstandard. Deswegen schien die gesellschaftliche Situation auf den ersten Blick stabil und viele Menschen wirkten nahezu fatalistisch gegenüber fest sitzenden Ungleichheiten. Aber der permanente Stress, mit den ständig steigenden Kosten klar zu kommen, das Schulgeld für die Kinder aufzubringen, teure Medizin und Krankenversicherung zu bezahlen, die Raten für Wohnung, Auto und anderes zu bedienen zehrt an den Menschen und führt zu Frustration. Wenn die Wirtschaft dann auch noch lahmt und die Verheißung auf mittelfristige Verbesserungen wegbricht, zeigt sich, wie fragil das „chilenische Modell“ letztlich ist.

Der Tropfen …

In einem Land, in dem seit Jahrzehnten ein neoliberaler Kurs die Richtung aller Bereiche der Gesellschaft (ökonomisch, politisch, sozial) vorgibt und eine der größten Ungleichheiten weltweit herrscht, braucht es nur einen winzigen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Tropfen war im aktuellen Fall die Fahrpreiserhöhung der Metro in Santiago de Chile. Warum es ausgerechnet dieser Auslöser war, lässt sich nicht abschließend klären. Ein wichtiger Aspekt wird dafür sein, dass unmittelbar und direkt sehr viele Menschen aus diversen Bevölkerungsteilen von dieser Preiserhöhung betroffen waren.

Nachdem es bereits am Donnerstag, den 18. Oktober, zum massiven, gemeinsamen Überspringen der Drehkreuze und damit zu einem geplanten, kollektiven „Schwarzfahren“ gekommen war, begannen die zunehmend konfrontativen Proteste am Tag darauf. Etwa 70 U-Bahnstationen wurden beschädigt und einige Supermärkte geplündert. Was mit dezentralen Aktionen begann, sprang erstaunlich schnell auf breite Teile der Bevölkerung über. Die sogenannten encapuchad@s verhalfen einem zwar erwartbaren, aber sich nicht ankündigenden sozialen Protest zu seinem Anfang.

Die Universitäten stellten unverzüglich ihren Betrieb ein. Zunächst tageweise, dann für die gesamte laufende Woche. Große Supermärkte schlossen aus Angst vor Plünderungen ihre Pforten. Der Gewerkschaftsdachverband CUT rief am 23. und 24. Oktober zu einem landesweiten Generalstreik auf. Es waren Hunderttausende, die in ganz Chile diesem Aufruf folgten.

Für den Präsidenten ist es “Krieg”

Die Reaktion der Regierung Piñera ist als vollkommen unverhältnismäßig einzustufen (vgl. auch amnesty international Chile). Am Samstag, den 19. Oktober, rief Piñera den Ausnahmezustand aus und übergab faktisch dem Militär die Macht – mithilfe eines Gesetzes aus der Pinochet-Diktatur. Es ist das erste Mal seit dem Ende der Diktatur 1990, dass das chilenische Militär in den Straßen patrouilliert.1 In Santiago und Valparaíso wurden abendliche und nächtliche Ausgangssperren verhängt (zunächst nachts, dann am 21. Oktober bereits um 18 Uhr). Andere Städte wie Concepción und Valdivia, aber auch ganze Regionen, wie die Región de los Lagos oder die gesamte fünfte Region, zogen kurze Zeit später nach. Auf Demonstrant*innen wurde mit scharfer Munition geschossen2 und so ganze Demonstrationen, die bis dato friedlich abgelaufen waren, gewaltsam zerschlagen. Am Abend des 20. Oktober postete der linke Bürgermeister von Valparaíso, Jorge Sharp, ein Passantenvideo, das zeigt, wie ein Marineangehöriger einen Demonstranten verprügelt. Für Sharp ist die komplette Eskalation der Gewalt direkt der Regierung Piñera zuzuschreiben. Tatsächlich sind das Verhängen einer Ausgangssperre, die damit verbundene massive Einschränkung der Versammlungsfreiheit und der zusätzliche Einsatz des Militärs im Inneren ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass die Regierung vollkommen überfordert ist und keinerlei Antworten auf drängende soziale Fragen geben kann. Der Präsident Sebastián Piñera bezeichnete die Situation in einer Ansprache am Sonntagabend, 20. Oktober, als „Krieg“. Dabei handelt es sich eben nicht um einen rhetorischen Ausrutscher, sondern dies zeigt deutlich, welche Strategie seit Beginn der Proteste von staatlicher Seite gefahren wird, die der Eskalation. Zudem ist es mehr als besorgniserregend, dass der Satz, man befände sich im Krieg, auch von Ex-Diktator Pinochet geäußert wurde. Die mediale Inszenierung, in der dieser Satz von Piñera fällt, ist äußerst delikat: Der Präsident sitzt umringt von stehenden und sitzenden Polizisten und Militärs und spricht aus einem Polizeihauptquartier zu „den Chilenen“, Bilder, die sehr stark an Pinochet erinnern und in ihrer martialischen Konnotation möglicherweise auch gewollt sind.3 Auch wenn der Präsident am 21. Oktober zu einem Runden Tisch mit den großen Oppositionsparteien einlädt, wirkt diese Maßnahme wenig deeskalierend: An diesem Tisch sitzen Vertreter*innen eben jener Parteien, der sogenannten Concertación, die vor dreißig Jahren, nach dem Plebiszit gegen Pinochet, dessen neoliberalen Kurs nicht nur weiterverfolgten, sondern diesen auch kontinuierlich forcierten.

Am 21. Oktober wurden Spekulationen über Kabinettsänderungen bekannt (v.a. bezüglich möglicher Rücktritte von Innenminister Chadwick, Transportministerin Hutt, Wirtschaftsminister Fontaine und Finanzminister Larraín). Die Regierung bat die Parteien der Concertación und der Revolución Democrática (Teil der Frente Amplio) um eine Liste mit den sieben drängendsten Punkten (vgl. biobiochile.cl). Am 22. Oktober kündigte Chadwick an, dass sich Piñera bald melden und Maßnahmen vorstellen würde, die helfen würden, die Not der einfachen Leute zu lindern. Nur Peitsche nützt offenbar nichts. Nun wird auch zu Zuckerbrot gegriffen.

Neoliberales Musterland – in Kürze Wassernotstand

Chile gilt als das neoliberale Musterland. Fast alles ist privatisiert, sogar das Regenwasser. Transnationale Unternehmen können die natürlichen Ressourcen ohne Einschränkungen ausbeuten. Der Avocado-Anbau verschlingt beispielsweise derart viel Wasser, dass es bereits in zwei Jahren zu einer schwerwiegenden Wasserknappheit im gesamten Land kommen kann, wie selbst der Präsident vor wenigen Wochen öffentlich verlauten lassen musste und gleichzeitig keine Strategien präsentieren konnte.

Laut Armutsforscher Thomas Piketty besitzt ein Prozent der Chilen*innen 35 Prozent des gesamten Reichtums. Gleichzeitig leben 14 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Der Mindestlohn in Chile beträgt umgerechnet 330 Euro. Die Hälfte der Chilen*innen verdienen 400 000 Pesos (ca. 500 Euro) oder weniger. Es ist ein konstanter Anstieg der Preise zu beobachten, etwa von Strom mit knapp 20 Prozent im letzten Jahr, bei gleichzeitiger Stagnation der Gehälter. Zudem wurden in den letzten Monaten verschiedene Korruptionsfälle bekannt, die auch ranghohe Politiker*innen betreffen. Piñera selbst wurde zum Beispiel noch in der Diktatur wegen der Veruntreuung von Geld der Banco de Talca angeklagt. Die Klage wurde dann aber fallen gelassen. Die Renten entsprechen nicht mal dem Wert des an sich schon geringen Mindestlohnes. Und das alles bei Lebenshaltungskosten, die durchaus das westeuropäische Niveau erreichen.

Obwohl die Fahrpreiserhöhungen der Metro bereits wieder zurückgenommen wurden, halten die Proteste nach wie vor an. Es geht um viel mehr als nur die überteuerten Preise im öffentlichen Nahverkehr. Was Piñera als „Krieg“ bezeichnet, in dem der Feind sich durch einen Organisationsgrad auszeichne, „der nur einer kriminellen Organisation entspringen kann“ (Sonntagabend in einer Fernsehansprache über die Proteste auf der Straße), ist nichts anderes als ein Sichtbarwerden einer tiefsitzenden ökonomischen und sozialen Spaltung und ein Frust, der nicht mehr mit punktuellen Beschwichtigungsversuchen ruhig gestellt werden kann.

Agent Provocateurs

Die großen Fernsehsender wie CNN oder Tele13 zeigen alle die gleichen Bilder: Plündernde Menschen in großen Supermärkten und steinewerfende Jugendliche. Als dann wenige Tage später Fotos von eingeschleusten Zivilpolizisten kursieren, die nicht nur aktiv an den Plünderungen teilnahmen, sondern diese zum Teil auch maßgeblich anzettelten, reagieren Tausende Chilen*innen, indem sie ihre Fernseher abstellen und so zum Ausdruck bringen, dass sie sich nicht von einer einseitigen Informationswiedergabe blenden lassen wollen.

Die Frage ist, ob es der Regierung durch ihre massive Repression gelingt, die Proteste zu zerschlagen. Dies würde vermutlich einige Bauernopfer bei Militär und Polizei nach sich ziehen und internationale Verurteilungen der Gewalteskalationen, nicht aber die soziale Unzufriedenheit und den tief sitzenden Frust hunderttausender Chilen*innen beseitigen.

Eine andere Möglichkeit, und dies wäre ohne Frage die wünschenswerte, wäre, dass die aktuellen Proteste tatsächlich politische und ökonomische Folgen hin zu mehr (Chancen-) Gleichheit und Rücknahme der unzähligen neoliberalen Maßnahmen hätten.

Am 22. Oktober hielt Piñera erneut eine Fernsehansprache, in der er versöhnlichere Töne anschlägt. Nunmehr wird eingestanden, dass schon lange soziale Probleme vorherrschten, die in den letzten Jahrzehnten Ungleichheiten verschärften. Nun sollen Mindestrente und Mindestlohn angehoben werden. Piñera erklärte weiterhin nicht ohne Pathos: „Ich erkenne an, dass wir diese Probleme nicht ernst genommen haben und entschuldige mich bei den Millionen von Landsleuten.“ Der Ausnahmezustand wurde jedoch nicht aufgehoben und das Militär noch nicht abgezogen.

Fussnoten:
1.
Nach einem der schwersten Erdbeben der letzten Jahre, 2010 in Concepción, wurde einmal das Militär im Inneren eingesetzt. Diese Maßnahme war aber vergleichsweise wenig politisch motiviert.
2. Am 22. Oktober wurde in Curicó ein Demonstrant von der Polizei erschossen.
3. Geradezu beruhigend war dann, dass sich der von Piñera ernannte Kommandeur des Ausnahmezustands, General Javier Iturriaga, unmittelbar darauf zu Wort meldete und verkündete, er befände sich mit niemandem im Krieg. Dabei handelt es sich auch um einen offenen Affront gegen den Präsidenten und seinen Kurs.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 430 Nov. 2019, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

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