Keine Zeit für Prinzipienreiterei – 4.000 Kinder aus griechischen Lagern sollen nach Deutschland kommen. Sie sind noch nicht hier. Stattdessen gibt es eine erbärmliche Diskussion.
Grundsatzdiskussionen sind etwas Wunderbares. Wer liebte nicht Prinzipienreiterei? Jede Frage zu jedem Zeitpunkt von allen Seiten zu beleuchten: Das zeugt von geistiger Tiefe. Jemand droht hinzufallen. Ist es dann verantwortbar, ihn oder sie zu stützen? Könnte das nicht dazu führen, dass Zuständige es nicht mehr für nötig hielten, eine gefährliche Stolperfalle zu beseitigen, weil ja nichts passiert wäre?

Und: Wenn eine Person vor einem Sturz bewahrt würde – würde das alle anderen, die sich in Gefahr geraten könnten, ebenfalls schützen? Nein. Sicherlich nicht. Im Interesse der Allgemeinheit wäre es deshalb wohl am besten, einen Schritt beiseite zu treten, wenn jemand hinzufallen droht. In Tatenlosigkeit zeigt sich heute der wahre Humanismus.

Eine treffliche scholastische Lösung. Zu blöd, dass sie nicht alltagstauglich ist. Die meisten Menschen neigen zu spontaner Hilfsbereitschaft, sobald sich jemand in ihrer unmittelbaren Umgebung in Not befindet. Greifen also zu, wenn jemand stolpert. Wenn die Umgebung nicht ganz so unmittelbar ist, dann ist allerdings auch die Hilfsbereitschaft nicht ganz so spontan. Robert Habeck, einer der beiden „Grünen“-Vorsitzenden hat gefordert, etwa 4.000 unbegleitete Kinder, die unter erbärmlichen Umständen in griechischen Flüchtlingslagern leben, in Deutschland aufzunehmen. Einfach so.

Wie sollte das zu bewältigen sein?

Wie konnte er nur! Die Einwände liegen doch auf der Hand. Weder könnte damit die EU-Flüchtlingspolitik zu neuen Richtlinien finden. Noch ließen sich damit weltweit die Probleme im Zusammenhang mit Migration lösen. Oder etwa gar alle anderen Konflikte dieser Welt.

Es gäbe auch ganz praktische Probleme. Kämen 4.000 Kinder jetzt nach Deutschland – für jedes einzelne stünden nur etwa 20.000 Einwohner unseres Landes zur Verfügung, um dafür zu sorgen. 20 000. Wie sollte das zu bewältigen sein?

FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg kritisierte den Vorstoß Habecks. Eine „PR-Aktion kurz vor Weihnachten“ helfe nicht, das Fluchtproblem verantwortungsvoll zu lösen. Nationale Alleingänge, so Teuteberg „vertiefen die Schwierigkeiten in Europa und sind Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.“ Ähnlich äußerte sich Innenstaatssekretär Helmut Teichmann. „Wir setzen nicht auf eine nationale Lösung, sondern wir setzen auf eine europäische Lösung.“ Und zu guter Letzt hier auch noch ein Zitat der stellvertretenden Regierungssprecherin Ulrike Demmer: „Wir suchen für die Zukunft nach einer europäischen Lösung“, sagte sie „Deutschland kann das nicht im Alleingang.“

Nein? Kann es nicht? Doch, Deutschland könnte schon. Es müsste nur wollen.

„Haben die eigentlich alle wirklich kein Problem, in den Spiegel zu schauen und ein Arschloch zu sehen?“ fragte mich eine junge Frau, die in einem Wohnzimmer neben mir saß und kurz von ihrem Handy aufschaute, als die Reaktionen auf den Vorstoß von Robert Habeck in den Fernsehnachrichten zusammengefasst wurden. Keine Ahnung.

Aber um kein Problem mit der Justiz in unserem Land zu bekommen, möchte ich betonen, dass nicht ich es war, die das Wort „Arschloch“ in diesem Zusammenhang benutzt hat. Ohnehin ist es kein Ausdruck, den ich in der politischen Auseinandersetzung schätze.

Aber ich gebe zu: Seit Tagen suche ich schon nach einer anderen Bezeichnung für Gegnerinnen und Gegner des Habeck-Vorstoßes. Bislang vergeblich.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.

Über Bettina Gaus:

Bettina Gauss ( † ) war politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Ihre Beiträge sind Übernahmen von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.